Rezension über:

Christian Rümelin: Johann Gotthard Müller (1747-1830) und das Stuttgarter Kupferstecherei-Institut. Mit einem Werkverzeichnis der Druckgrafik von Johann Gotthard Müller (1747-1830) und Johann Friedrich Müller (1782-1816) (= Aus den Kunstsammlungen der Eberhard-Karls-Universität Tübingen; Bd. 3), Ostfildern: Thorbecke 2000, 252 S., 61 Abb., ISBN 978-3-7995-7862-2, DM 56,00
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Rezension von:
Hein-Th. Schulze Altcappenberg
Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Hein-Th. Schulze Altcappenberg: Rezension von: Christian Rümelin: Johann Gotthard Müller (1747-1830) und das Stuttgarter Kupferstecherei-Institut. Mit einem Werkverzeichnis der Druckgrafik von Johann Gotthard Müller (1747-1830) und Johann Friedrich Müller (1782-1816), Ostfildern: Thorbecke 2000, in: sehepunkte 1 (2001), Nr. 2 [15.02.2001], URL: https://www.sehepunkte.de
/2001/02/3467.html


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Christian Rümelin: Johann Gotthard Müller (1747-1830) und das Stuttgarter Kupferstecherei-Institut

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Große Kupferstichkabinette bergen mindestens drei Säulen der Bildenden Kunst und des wissenschaftlichen Umgangs mit ihr: a) Zeichnungen - die originärsten Zeugnisse einer Geschichte der Wahrnehmung und Gestaltung; b) Autorengraphik und c) die so genannte Reproduktionsgrafik - multiplizierte Nachbildungen anderer Werke, die deren Rezeption unabhängig von Ort und Zeit ermöglichten. Die meist schwarz-weiße Welt unterhaltender und belehrender Anschauung formte das Bildgedächtnis der vormodernen europäischen Kultur wesentlich. Fürsten und Bürger, Priester und Ingenieure, Künstler und Pädagogen, Kenner, Laien und natürlich auch die ersten Kunsthistoriker sammelten, goutierten und nutzten die grafischen Künste in all ihrer Breite und Fülle.

Während jedoch Zeichnung und Originalgrafik nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt haben, geriet die Reproduktionsgrafik aus dem Blick. Sie bediente sich traditionellerweise des Tiefdrucks, insbesondere der linearen Techniken des Kupferstichs und/oder der Radierung. Das in der Kunstliteratur des 18. Jahrhunderts sehr fein ausdifferenzierte Ziel war nicht das bloße Abkupfern eines Vorbilds, sondern dessen Interpretation im Sinne einer virtuos eigene Mittel einsetzenden, bisweilen verbessernden Übersetzung von Farb- und Lichtwerten in die Skala schwarz-weißer Tonstufen und von Flächen in ein ausgeklügeltes abstraktes Strichsystem, dessen Ausdruckseigenschaften die zu bezeichnenden Gegenstände formal und stofflich zu assoziieren suchten.

Man kann sich streiten, wann die Abwertung jener einst so geschätzten Gattung einsetzte: ob schon im 18. Jahrhundert mit den Experimenten zur hochgradig mimetischen Reproduktion (Farben- und Punktierstich, Crayon-Manier, Aquatinta, Vernis mou, Buntkupferdrucke) oder im frühen 19. Jahrhundert mit dem Vorzug der Autoren- vor der Stechergraphik (explizit in Adam Bartschs "Peintre Graveur"; 1803ff.); besiegelt war sie nach der letzten Blüte des klassischen Linienstichs, den zu selbstreferentiellen Projekten ausartenden Präzisionsstücken etwa nach Leonardo oder Raffael, das heißt mit dem Sieg des Fotos und seiner mechanischen Reproduktionsverfahren.

Neues über Georg Friedrich Schmidt in Berlin, Johann Georg Wille aus Gießen oder eben Johann Gotthard Müller in Stuttgart erfuhr man nur noch aus der Regionalforschung. Erst als man sich mit der Rezeptions-, Markt-, Technik- und Mediengeschichte verstärkt den Fragen des 'Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit' zuwandte, stieg das Interesse an der Interpretationsgraphik wieder - allerdings meist aus der Perspektive von den Höhen in die Niederungen, also nach welcher Berühmtheit was für wen gearbeitet wurde und weniger, wer die Stiche wie unter welchen Bedingungen schuf. Den Blick für diese Fragen neu zu schärfen, ist das Verdienst von Rümelins Studie. Insbesondere die Einempfindung in den technischen Mikrokosmos überzeugt. Das Beispiel allerdings hat seine Tücken: Der in Paris bei J.G. Wille ausgebildete, 1776 nach Stuttgart zum Leiter des neu gegründeten Kupferstecherei-Instituts an der Hohen Carlsschule berufene und bis um 1825 tätige J.G. Müller steht als renommierter Grafiker der Goethezeit zwar im Geflecht der skizzierten Entwicklungen, aber doch eher an unauffälligem Ort und mit einem vergleichsweise schmalen, qualitativ wie thematisch recht heterogenen, von Zufallsaufträgen abhängigen Œuvre.

Das Buch fußt auf der unveröffentlichten Berner Dissertation des Autors. Der erste von vier Komplexen widmet sich der Technik und dem Arbeitsprozess (15-33). Minuziös wird die Genese eines Stichs von den Vorzeichnungen über Korrektur- und Probeabzüge bis hin zu den Zustands- und Auflagendrucken verfolgt. Wie andere Graveure mit Niveau, versuchte Müller, eigene Studien nach dem Original anfertigen zu können. Die Übertragung basierte schließlich auf einer sorgfältig elaborierten Vorlage. Wenn es in dieser Zeichnung gelang, "selbst die Form der Farbe fühlbar zu machen" ("à faire sentir même la forme des couleurs"), dann ließe sich nach ihr sogar besser stechen als unmittelbar nach dem Vorbild (zitiert nach 21). Solche Entwürfe sind das Ergebnis der künstlerischen Analyse von Bildraum, Fond und Rahmen, Haupt- und Nebensachen, Farb- und Lichtwerten, von stofflichen Beschaffenheiten und anderen Wirkungsstimulantien sowie, bei Rümelin unterbelichtet, auch von Inhalten - ähnlich einer präzisen Regieanweisung, die über Güte und Gelingen der Interpretation entscheidet.

In den nächsten Kapiteln werden die Werke vorgestellt, geordnet nach den Themen Porträt und Historie sowie Gelegenheitsarbeiten (35-78). Einführende, knappe Texte gehen auf modale Voraussetzungen ein. So erfahren wir etwa, dass Porträts als typisch nahsichtige Bilder detailliert zu gravieren waren (während Historien ein großzügigeres Strichmuster aufweisen konnten), und dass der Anspruch auf "Vérité" und "Ressemblance" ein dreifacher war, da er sich sowohl auf das Äußere und den Charakter der dargestellten Person als auch auf das nachzubildende Kunstwerk erstreckte. Solche Ansätze versprechen mehr, als die sich oft in Einzel- oder Allgemeinheiten verlierenden Ausführungen halten. So bleibt es unergiebig, auf die Kindertage der Gender Studies zurückzugreifen, mit Schlagwörtern vom "bürgerlichen Mutterkult" und "Erhabene(n)", wenn diese nicht aus der Sache entwickelt, sondern nur zitiert und sogar in den Anmerkungen wieder relativiert werden (Seite 46 anlässlich der Deutung von "La Tendre Mère"; Anmerkung 123). Erhellend hingegen die Darstellung der sich über zehn Jahre hinziehenden, aufwändigen Arbeit am Krönungsporträt von "Louis Seize" (47-53): Bei guter Quellenlage verbinden sich hier Detailschärfe und der große Bogen. Es zählt zur Ironie der Geschichte, dass der letzte Prachtstich französischer Schultradition nach zähem Streit über die Frage, ob der Kopf nach dem gemalten Vorbild geschnitten oder dem aktuellem Alter des Königs angepasst werden sollte, erst dann ediert wurde, als der Gegenstand der Debatte hinfällig geworden war.

Die Vorzüge des Buches erweisen sich immer dort, wo es um die exakte Beobachtung technischer Details oder - wie im dritten Komplex - um die auf dichten Quellen beruhende Deskription historischer Fakten geht, hier den wirtschaftlichen und institutionellen Kontext sowie die zeitgenössische Rezeption der Arbeit J.G. Müllers (79-104). Dabei stehen Betriebsorganisation und Entwicklung des unter merkantilistischen Vorzeichen gegründeten "Kupferstecherei-Instituts" an der Hohen Carlsschule im Zentrum (88-98). Schließlich findet man einen Katalog der 41 nachweisbaren druckgraphischen Werke des Vaters und der 19 des Sohnes Müller, ergänzt um ein gemeinsam gefertigtes und wenige nicht auffindbare oder fragliche Stücke (199-230). Die überbordende Literaturdokumentation kann über Mängel nicht hinwegtäuschen: Zu solch einem Œuvreverzeichnis gehören Hinweise auf die Vorbilder, knappe Kommentare und vor allem die Abbildung aller Werke. (Kleinigkeiten: Abbildung 26 zeigt nicht den 5., sondern den 3. Zustand; etliche der nach älteren Verzeichnissen zitierten Varianten lassen sich im Berliner Kupferstichkabinett nachweisen, zum Beispiel Katalog 7.II, 22.II und V, 23.VI mit der Inschrift "JG Müller sc. 1793"; Katalog 28 in weiterem Zustand zwischen III und IV, Katalog 31.V und VIb, 58.II; unbeschriebene Varianten von Katalog 5.I und 22.I).

Noch ein paar Randbemerkungen: Die Lithografie gehörte noch nicht zu den im 18. Jahrhundert intensiv diskutierten Innovationen (11); da in Historien die Rechtshändigkeit von Protagonisten zu gewährleisten war, legte Müller seinen Stich "Alexandre vainqueur de soi-même" wohl kaum nach Gutdünken seitenrichtig an, sondern weil er die schöne Campaspe von Apelles nicht mit links gemalt wissen wollte (26).

Und zum Schluss: ein wichtiger Forschungsbeitrag, der allerdings die kritische Rückbindung der vielen Einzelbeobachtungen an die Geschichte der Gattung vermissen lässt - hier eines speziellen Zweigs, der in der Epoche Ludwig XIV. mit den wirkungsästhetisch brillanten Stichen Edelincks und Drevets entsprang, auf dem Höhepunkt der Aufklärung im Ansehen künstlerischer Autonomie und moralischer Kompetenz blühte, bevor er dann samt Privilegien und förderlicher Rahmenbedingungen, die das Ancien Régime selbst in Nebenzentren bot, mit diesem austrocknete.

Hein-Th. Schulze Altcappenberg