Rezension über:

Christian Lübke: Fremde im östlichen Europa. Von Gesellschaften ohne Staat zu verstaatlichten Gesellschaften (9.-11. Jahrhundert) (= Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart; Bd. 23), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2001, X + 416 S., 1 Faltkarte, ISBN 978-3-412-16298-6, EUR 50,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Jerzy Strzelczyk
Poznan
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Irgang
Empfohlene Zitierweise:
Jerzy Strzelczyk: Rezension von: Christian Lübke: Fremde im östlichen Europa. Von Gesellschaften ohne Staat zu verstaatlichten Gesellschaften (9.-11. Jahrhundert), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 1 [15.01.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/01/3213.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Christian Lübke: Fremde im östlichen Europa

Textgröße: A A A

Fremdheit als eine sozial-kulturelle Kategorie und die Rolle der Fremden in der Geschichte Polens und anderer Länder des "jüngeren Europa" (Jerzy Kłoczowski), dazu in einer so quellenarmen und bahnbrechenden Zeit, wie sie der Übergang von der Stammesgesellschaft zum Anfang der Staatsordnung war, sind bis jetzt kaum Objekt einer umfassenden Darstellung geworden. Neben 'objektiven' heuristischen Gründen haben dazu auch wissenschaftsfremde Faktoren beigetragen, vor allem die traditionelle Xenophobie nationaler Historiographien sowie die langdauernde Neigung zur einseitigen Hervorhebung einheimischer autogener (realer oder hypothetischer) Elemente des historischen Prozesses. Wenn überhaupt, war die Aufmerksamkeit der Forscher auf die spätere Zeit (etwa seit dem 13. Jahrhundert) gelenkt, als die Immigration in das östliche Europa ihren Charakter und vor allem ihren Umfang geändert hatte. Die der großen Kolonisation vorangehende Periode wurde eher stiefmütterlich behandelt, wenn es auch wohl keinen Zweifel daran gibt, dass es auch damals - in begrenztem Maße - nicht an bisweilen recht einflussreichen Vertretern aus fremden Gesellschaften gefehlt hat. Die Monografie von Christian Lübke, eine nur geringfügig ergänzte Fassung seiner Berliner Habilitationsschrift aus dem Jahr 1995, ist die erste einigermaßen vollständige Bearbeitung dieser Problematik.

Nach der rund 30-seitigen theoretischen Einleitung kommt ein etwa 70-seitiger zweiter Teil, der den "allgemeinen Grundlagen" der Arbeit gewidmet ist, und schließlich der über 220 Seiten umfassende Hauptteil, der noch durch ein Schlusskapitel und eine umfangreiche Bibliografie der Quellen und der Sekundärliteratur (339-401) abgerundet wird. In der Einleitung wird der räumliche Rahmen der Arbeit präzisiert: das "östliche Europa", also "jene Teile des Kontinents, die von der Kultur des Römerreiches nicht erreicht worden waren, oder, soweit es Pannonien und den Balkan betrifft, die in der Folge der spätantiken und frühmittelalterlichen Wanderungsbewegungen einen tiefgreifenden politischen, ethnischen und kulturellen Wandel erfuhren" (5), sowie der Schlüsselbegriff 'fremd' erläutert, und zwar in verschiedenen Disziplinen: Geschichtswissenschaft, Ethnologie, Soziologie und Biologie.

Teil II ist eine eingehende Darstellung der Quellengrundlagen der Arbeit, der ein historisches Panorama des östlichen Europa am Ausgangspunkt des Untersuchungszeitraums vorangestellt ist. Nach den Schriftquellen (der "Bayerische Geograph", grundlegende 'native' narrative ['Nestor', Gallus Anonymus, Cosmas von Prag] und 'fremde' [deutsche, byzantinische, orientalische und nordische] Quellen, Zeugnisse aus Rechts- und Verwaltungsquellen, Runeninschriften und Sagas), werden sprachliche Zeugnisse (besonders aus der Toponymie), archäologische und geografische Quellen erörtert und nach ihrem Erkenntniswert befragt. Gestützt auf solch solide theoretische und heuristische Grundlagen hat Lübke im Hauptteil der Arbeit das sehr umfangreiche, wenngleich fragmentarische und disparate Material in fünf Kapitel unterteilt, je nach Art und Qualität der Fremdheit, wobei Kapitel 1 den rechtlichen Aspekten der Fremdheit gewidmet ist. Es werden zwei Haupttypen problematisiert: der Sklave und der Gast. Im folgenden werden Kaufleute (das umfang- und materialreichste Kapitel), Handwerker, Krieger und Geistliche ("Repräsentanten des Christentums") behandelt. Das letztgenannte Kapitel bietet noch am stärksten den Eindruck einer gewissen Unvollkommenheit. Vernachlässigt wurde auch die Problematik des Herrschers beziehungsweise der Herrscherin fremden Ursprungs - samt deren fremdstämmigen Umgebungen - im östlichen Europa. Doch im großen ganzen tritt gerade in diesem Hauptteil der interdisziplinäre Charakter der Forschungen Lübkes am besten hervor. In der Schlussbetrachtung hat der Verfasser sehr treffend und weiterführend auf drei Ebenen des fortschrittsfördernden Einflusses von Fremdkontakten hingewiesen, wobei die letzte als eine durchaus ansprechende Hypothese zu werten ist: "Vieles spricht dafür, dass es vor allem der Fürstendienst des ethnisch heterogenen Personals war, der den Aufstieg zu einer bevorrechtigten sozialen Schicht begründete. Vielleicht schon als 'Maravi', sicher aber als 'Poloni' und 'Bohemi' und ebenso als 'Hungari' und 'Rusi' verstanden sich, im Sinn der Zusammengehörigkeit zu einer politischen Nation, daher im 10. und 11. Jahrhundert eben auch jene Angehörigen der Oberschicht, die ihrer Herkunft nach zu urteilen Fremde waren" (336 f.).

Der Verfasser hat in seiner hervorragend dokumentierten Monografie - das Schrifttum aus 'Osteuropa' wurde reichlich und mit viel Sachverstand ausgewertet - ein wichtiges und sozusagen auf eine gebührende moderne Bearbeitung schon lange wartendes Thema erforscht. Dass bei einem so breit angelegten Unternehmen manches übergangen bzw. unzureichend berücksichtigt wurde, versteht sich von selbst. Dessen ungeachtet hat Lübke eine fühlbare Forschungslücke geschlossen. Und es steht außer Zweifel, dass diese Monografie dank ihrer methodischen Reife und heuristischen Solidität einen respektablen Platz in der Forschungsliteratur einnehmen und einen unverzichtbaren Ausgangspunkt für die weitere Beschäftigung mit diesem Thema bilden wird.

Jerzy Strzelczyk