Rezension über:

Luca Bianchi: Censure et liberté intellectuelle à l'Université de Paris (XIIIe - XIVe siècles), Paris: Les Belles Lettres 1999, 390 S., ISBN 978-2-251-42009-7, EUR 25,15
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Rezension von:
Gudrun Gersmann
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Gudrun Gersmann: Rezension von: Luca Bianchi: Censure et liberté intellectuelle à l'Université de Paris (XIIIe - XIVe siècles), Paris: Les Belles Lettres 1999, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 2 [15.02.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/02/3790.html


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Luca Bianchi: Censure et liberté intellectuelle à l'Université de Paris (XIIIe - XIVe siècles)

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Die Auseinandersetzung mit dem Thema "Zensur und Pressefreiheit" kann gerade in Frankreich auf eine lange Tradition zurückblicken. Ihren ersten Höhepunkt erreichte die Diskussion bekanntlich schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts im Kontext des politischen Streits um das Erscheinen der Grande Encyplopédie, der sich schnell zu einer 'Affäre' von gesamteuropäischer Bedeutung ausweitete. Eine zweite Welle von Veröffentlichungen - mit quasi einhelligem Tenor - folgte 1789 im Umfeld der revolutionären Menschenrechtserklärung, als Schriftsteller wie Marie-Joseph Chénier oder Pierre Manuel aus eigener bitterer Erfahrung öffentlich jene "inquisiteurs de la pensée" denunzierten, die den Schriftstellern, Gelehrten und Buchhändlern vor dem Sturz der Bastille das Leben schwer gemacht hätten. Später waren es dann quellengesättigte Studien wie Jean-Paul Bélins im Jahre 1913 veröffentlichte Doktorarbeit über den "Commerce des livres prohibés à Paris de 1750 à 1789", die das 'Funktionieren' der Zensurmechanismen offenlegten. Ob sich die einschlägigen Publikationen auf prominente Zensurpolitiker wie den langjährigen 'Directeur de la Librairie' Chrétien de Lamoignon de Malesherbes oder auf verfolgte Schriftsteller wie Raynal oder Voltaire konzentrierten, stets stand dabei die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts im Vordergrund, mithin die unmittelbare Inkubationsphase der Französischen Revolution, während andere Epochen in weit geringerem Maße ins Blickfeld gerieten. Gerechtfertigt schien diese spezifische Ausrichtung der Forschung allerdings nicht zuletzt auch deshalb, weil, so zumindest die Annahme vieler Zensurhistoriker, die Schärfe der Zensur und der ausgeübten Repressionen im Ancien Régime zugenommen zu haben, beziehungsweise durch den systematischen Ausbau des Zensurapparates damals überhaupt erst möglich geworden zu sein schien.

Doch war das Mittelalter tatsächlich das 'goldene Zeitalter' einer grenzenlosen intellektuellen Freiheit des Schreibens und Lehrens? Luca Bianchi, Autor einer neueren, im Jahre 1999 im Pariser Verlag "Belles Lettres" unter dem Titel "Censure et liberté intellectuelle à l'Univérsité de Paris. XIIIè - XIVè Siècles" publizierten Untersuchung, teilt diese weit verbreitete Auffassung nicht. Am Beispiel der mittelalterlichen Universität Paris will der Professor für mittelalterliche Philosophie aus Padua vielmehr genau das Gegenteil beweisen. Seine in drei Hauptteile gegliederte Untersuchung ist bestrebt, das Phänomen Zensur auf einer neuen und umfangreichen empirischen Basis zu analysieren (11), ohne die noch immer kursierenden, aus dem 19. Jahrhundert ererbten Klischees und holzschnittartigen Sichtweisen zu perpetuieren. Dabei geht Bianchi von der für ihn zentralen Prämisse aus, dass die in seinem Untersuchungszeitraum ausgeübten Zensursanktionen ein weitaus differenzierteres Spektrum umfasst haben müssen, als in der Literatur bisher angenommen: Der Besitz bestimmter missliebiger Bücher habe schlicht untersagt, ein als häretisch eingestuftes Werk aber auch verbrannt werden können, bei Zensurübertretungen seien einerseits simple Geldstrafen, andererseits Hausdurchsuchungen und Lehrverbote et cetera auf der Tagesordnung gewesen. Die spektakulärsten sichtbaren Akte der Zensur - wie die brennenden Bücherscheiterhaufen - seien jedoch lediglich "la pointe de l'iceberg", die Spitze eines Eisbergs, gewesen, nämlich "la manifestation la plus éclatante et la plus traumatisante de la pression idéologique exercée [...] par les gardiens de l'orthodoxie tant dans les Facultés universitaires que dans les Ordres religieux" (17).

So hebt Bianchi mit dem Versuch einer akribischen Rekonstruktion der vielfältigen, an der Pariser Universität einst praktizierten Maßnahmen zur Beschneidung der "liberté intellectuelle" an (21-52), ehe er im zweiten Kapitel intensiver die Frage nach der "efficacité" der Zensur aufwirft, an deren Wirksamkeit er - im Unterschied etwa zu Alain Boureau - keinerlei Zweifel hegt. Die aufgeführten Zensurfälle - von Jean de Pouilly bis Roger Bacon - sind allerdings zu spärlich dokumentiert, um als Beleg für diese These dienen zu können (57-59). Dass es der Verfasser in dem skizzierten Kontext gelegentlich für notwendig hält, eigens zu betonen, wie sehr er mit den "Opfern" und nicht mit den "Zensoren" sympathisiere, mutet zudem wie eine unangemessene Hommage an die Erfordernisse der politischen Korrektheit an. Nach einer allgemeiner gehaltenen Annäherung an das Thema 'Facetten der Zensur im 13. Jahrhundert' zeichnet Bianchi im zweiten Hauptteil seiner Untersuchung unter dem Titel "Aristote à Paris, 1210 - 1366" dann das berühmt gewordene Kapitel der neuen Aristoteles-Rezeption an der Pariser Universität nach, das mit wiederholten Verboten einzelner aristotelischer Schriften begann und schließlich mit der zunehmenden Akzeptanz der aristotelischen Lehren endete (89-129, "De la proscription à la prescription"). Dass bei der Auseinandersetzung um Zensur und intellektuelle Freiheit neben der Sache selbst oft ganz andere - machtpolitische - Motive mitspielten, zeigt Bianchi schließlich gerade mit Blick auf die Pariser theologische Fakultät, die in Zensursachen dezidiert Stellung bezog, um damit erstens 'suspekt gewordene' Mitglieder der eigenen Fakultät zu disziplinieren, und um zweitens die "Faculté des Arts" besser kontrollieren zu können. Denn nicht zuletzt auch aufgrund ihrer zahlenmäßigen Stärke entwickelte sich diese Fakultät seit der Jahrhundertmitte zu einem selbstbewussten Zentrum philosophischer Forschung par excellence, dessen "maîtres", indem sie für sich vollkommene Autonomie des Handelns beanspruchten, die alten Hierarchien klar infrage stellten.

Bianchis Arbeit besticht durch ihre klare Gliederung ebenso wie durch die mit großer Überzeugungskraft formulierten Thesen. Bisweilen drängt sich dem Leser allerdings ein wenig die Vermutung auf, dass die Eindeutigkeit des Argumentationszusammenhangs nur um den Preis einer 'Glattbügelung' oder Verschweigung problematischer Stellen erreicht werden konnte. Dies gilt auch für den harschen Umgang mit weiteren Arbeiten zum Thema, die - wie etwa die Beiträge Johannes Thijssens - häufig viel zu schnell und viel zu pauschal als unzulänglich abgeurteilt werden.

Gudrun Gersmann