Rezension über:

Dittmar Schorkowitz: Staat und Nationalitäten in Rußland. Der Integrationsprozeß der Burjaten und Kalmücken, 1822-1925 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa; Bd. 61), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2001, 616 S., ISBN 978-3-515-077132, EUR 96,00
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Rezension von:
Wim van Meurs
Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Hermann Beyer-Thoma
Empfohlene Zitierweise:
Wim van Meurs: Rezension von: Dittmar Schorkowitz: Staat und Nationalitäten in Rußland. Der Integrationsprozeß der Burjaten und Kalmücken, 1822-1925, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 11 [15.11.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/11/1479.html


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Dittmar Schorkowitz: Staat und Nationalitäten in Rußland

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Wer ein Buch schreibt, sollte vor dem ersten Anschlag die Hände kurz über der Tastatur schweben lassen und sich überlegen, mit welchem Aufbau und welcher Argumentation er seinen Lesern die Forschungsergebnisse näher bringen kann. Dies gilt umso mehr bei dem Vorhaben, eine 600-seitige Habilitationsschrift zu schreiben, da mit der Seitenzahl auch die Gefahr der Unleserlichkeit exponentiell steigt. Diese wahrlich nicht geringe Herausforderung wird um so gewichtiger, wenn das Buch eine Fallstudie zu einem Großthema wie "Staat und Nationalitäten in Rußland" ist. Gewiss liegen die Möglichkeiten, neue Einsichten zu diesem mittlerweile viel erforschten Thema zu gewinnen, in auf extensiver Archivforschung beruhenden Fallstudien zu einzelnen Völkern oder Epochen. Der Reiz besteht dann darin, das Besondere und Exotische - hier den Integrationsprozess der Burjaten und Kalmücken in den Jahren 1822 bis 1925 - mit dem Allgemeinen und Theoretischen zu verbinden.

Dittmar Schorkowitz' vorliegende Studie kann in beiden Punkten nicht überzeugen. Während der präzise und hervorragend ausgearbeitete Apparat (Personenverzeichnis, Glossar, Literaturverzeichnis, Tabellen) mehr als ein Viertel der 600 Seiten beansprucht, wird der gesamtrussische und der theoretische Rahmen der Fallstudie in Einleitung und Schlussbetrachtung kompetent, aber mit 40 Seiten zu knapp abgearbeitet. Gravierender ist, dass die 11 Hauptkapitel (mit jeweils zirka 40 Seiten) weder eine Untergliederung haben noch eine andere argumentative Gliederung erkennen lassen. Die vier Buchteile beziehungsweise Hauptthemen - (1) Wandel der Herrschaftsstrategien, (2) Elitenwechsel, (3) Xenophobie und (4) Integration und Subordination - folgen ähnlich wie die einzelnen Kapitel nahezu unvermittelt aufeinander. Referenzen zu allgemeinen Tendenzen der russischen Herrschaftspolitik und deren Auswirkungen auf die Gesellschaftsdynamik bei den subordinierten Völkern sind eher skizzenhaft gehalten und finden sich vorzugsweise in den Fußnoten (leider nur mit Kurztiteln - bei über 600 veröffentlichten Quellen). Dominiert wird der Text von detaillierten Darstellungen spezifischer Entwicklungen bei den Kalmücken und Burjaten, deren Repräsentativität und Relevanz dem Leser ohne Rückkopplung an eine übergeordnete Argumentationslinie kaum zugänglich ist.

Der Autor ist eindeutig der Versuchung erlegen, seinen Lesern alle seine in mühseligster Archivarbeit gewonnenen Fakten und Detailinformationen mitteilen zu wollen. Wer die Arbeitsumstände und Erschließungspraxis Anfang der 90er-Jahre in Moskauer Archiven (RGIA, RCChIDNI, GARF) kennt, hat sicherlich nur eine schwache Vorstellung von Regionalarchiven wie dem Zentralen Staatsarchiv Kalmückiens in Elista oder dem Nationalarchiv Burjatiens in Ulan-Ude. Nichtsdestotrotz sind die meisten der 2000 Fußnoten und der 2000 im Personenverzeichnis aufgelisteten Namen nur für die kleine community der Kalmückien-Kenner interessant. Für die Leser, die "nur" Staats- und Nationsbildung in Russland als Referenzkader haben, lenken Fußnoten über die Zahl der Parteimitglieder im Sal'sker Bezirk (106, Fußnote 99), über die Zahl der Eichhörnchenpelze in einem Steuersatz von 52 Tausend Rubel (101, Fußnote 3), Lenins kalmückische Vorfahren (465, Fußnote 119) oder die Auflistung der Kavalleristen des Irkutsker Regiments pro Ort (145, Fußnote 100) nur von der Argumentation des Autors ab.

Die eigentliche Argumentation des Buches ist aber hochinteressant und vielschichtig und hätte gerade deswegen eine überzeugendere Darstellung verdient. Aufgezeigt wird, wie sich das russische Herrschaftsmodell in dem Jahrhundert 1825-1925 - das heißt vom Anfang der Integration in die Staatsgemeinschaft bis zur stalinschen Nationsbildung von oben - von Kooptation über Staatsdienst zu Parteiarbeit entwickelte. Dies belegt die Differenzierung und regionalspezifische Dimension der Kolonialpolitik ebenso wie die sekundäre Bedeutung einer effektiven Russifizierung bis ins späte neunzehnte Jahrhundert. Neuland betritt der Autor gewissermaßen bei der Fragestellung, welche Auswirkungen diese russische Politik auf die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse bei den beiden einzigen mongolischen Völkern Russlands hatte. Wie er überzeugend und fassettenreich darstellt, wurde die Aristokratie schrittweise von einem neuen Bildungsbürgertum als Schlüsselfiguren der Herrschaftspolitik verdrängt. Als Ethnologe lässt Schorkowitz sich jedoch zu Recht nicht auf eher mechanische Modelle von Aktion und Reaktion ein: Gerade da die Herrschaftspolitik zu einem nicht geringen Maße vor Ort gestaltet wurde, lassen sich auch komplexere Wechselwirkungen erörtern, in denen die Inorodcy die Herrschaftspolitik mit- oder gar umgestalten: "die Dialektik der Gegensätze von Herrschaft und Integration, von Staat und Gesellschaft, von Zentrum und Peripherie, Macht und Ohnmacht, von Kontinuität und Wandel, Theorie und Praxis, von Programm und Alltag" (27). Zu wenig wird in dieser longue durée der Herrschaftspolitik insgesamt die Zäsur der Revolution problematisiert, auch wenn die Hypothese der Dominanz der Kontinuitätslinien nahe liegt. Die Hypothese aus der Einleitung, dass "auf dem Hintergrund russischer Herrschaftsstrategien und struktureller Abhängigkeitsverhältnisse die frühe sowjetische Nationalitätenpolitik (1917-1925) sogar eine recht stabile Kontinuität zur russischen Vorkriegsreaktion aufweist" (27), wird erst im vierten und letzten Teil des Buches systematischer erörtert. Die Analyse der Überlegungen und Abwägungen der Zentralmacht bezüglich Mittel und Ziele der power projection bleibt sowohl in der vorrevolutionären Zeit als auch in der frühsowjetischen Epoche implizit und teilweise spekulativ. Vielleicht weil die Quellen es nicht hergeben, wird dies zu einem schwachen Glied in der Argumentationskette: Die Komplexität der ideologischen und pragmatischen Gegensätze zwischen demokratischem Aufbau und Partei-Kontrolle sowie zwischen nationaler Selbstbestimmung und Russifizierung (450-451) wird kaum gewürdigt, wo zum Beispiel gerade für die Gründungsphase der autonomen Entitäten der Vergleich zu anderen Nationalitäten Russlands lehrreich gewesen wäre. Im Ergebnis mag es trotzdem richtig sein, dass "die Leninsche Nationalitätenpolitik eben in vielem nicht aus dem Schatten russischer Herrschaftsstrategien heraustrat, trotz zahlreicher Revolutionsversprechen" (467).

Diese sehr gediegene Forschungsarbeit zeigt somit sowohl die Potenziale als auch den Zwiespalt von Tiefenstudien zu einem so umfassenden Großthema wie Staat und Nation in Russland auf. Die Erarbeitung der erforderlichen Regionalkenntnisse und der Archivquellen war (und ist) dermaßen prägend, dass in der Niederschrift der Ergebnisse fast zwangsweise die Balance zwischen dem theoretischen und gesamtrussischen Rahmen und der Fallstudie verloren geht. Eigentlich könnte nur eine Kurzgeschichte Kalmückiens komplementär zu einer Fallstudie in Herrschaftspolitik dieses Dilemma auflösen.


Wim van Meurs