Rezension über:

Ute Engel: Die Kathedrale von Worcester (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 88), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2000, 367 S., 220 Abb., ISBN 978-3-422-06305-1
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Rezension von:
Steffen Krämer
Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Ulrich Fürst
Empfohlene Zitierweise:
Steffen Krämer: Rezension von: Ute Engel: Die Kathedrale von Worcester, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2000, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 12 [15.12.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/12/1273.html


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Ute Engel: Die Kathedrale von Worcester

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Eine kunsthistorische Publikation über eine englische Kathedrale ist in der deutschen Forschung äußerst selten. Obwohl mit Hans Josef Bökers "Englischer Sakralarchitektur des Mittelalters" von 1984 oder mit Günter Kowas "Architektur der Englischen Gotik" von 1990 zwei Überblickswerke erschienen sind, bilden monografische Abhandlungen über einzelne englische Sakralbauten im deutschsprachigen Raum eine Ausnahme. Dies mag daran liegen, dass in England die 'British Archaeological Association' seit den Siebzigerjahren eine Serie von Konferenzen abgehalten hat, in deren Zentrum bedeutende Prägebauten des englischen Mittelalters standen. In Buchform erschienen, reflektieren diese Konferenzakten nicht nur den jeweiligen Forschungsstand, sie dokumentieren auch die Vorrangstellung der englischen Wissenschaft in der Erforschung der eigenen mittelalterlichen Baudenkmäler.

Schon aus dem Grunde ist Ute Engels Buch über die Kathedrale von Worcester beachtenswert. Aus ihrer Dissertation von 1993 entstanden, stellt es eine baugeschichtliche Untersuchung der Kathedrale dar, die vom Baubeginn des romanischen Vorgängerbaus 1084 bis zur Vollendung des spätgotischen Langhauses um 1380 reicht. In vier Etappen wird der Bauverlauf chronologisch aufgeteilt und nach einer strengen Systematik analysiert. An Stelle einer autonomen Formgeschichte wählte die Autorin unterschiedliche methodische Vorgehensweisen, die den Bau von verschiedenen Seiten beleuchten sollen und bereits in der Einleitung genannt werden. Die Grundlage ist eine genaue Bauuntersuchung, die mit einer Auswertung der schriftlichen Quellen verknüpft wird. Dadurch können Fragen über den Bauherren oder den Stifter ebenso beantwortet werden wie Fragen nach der Liturgie oder den verschiedenen Formen der Nutzung des Baus, sei es als Wallfahrtsstätte oder als königliche Grablege. Die eigentliche Zielsetzung dieser Arbeit ist demnach der Versuch, das komplexe historische Bezugsfeld, in das die Kathedrale eingefügt war, zu rekonstruieren. Willibald Sauerländers Begriff des "Historisierens" veranschaulicht diese Einbindung eines mittelalterlichen Bauwerks in die Geschichte.

Hierzu gehört auch, und dies hat die Autorin in einem eigenen Kapitel umfassend dargelegt, die Restaurierungsgeschichte der Kathedrale. Von zentraler Bedeutung war die Campagne von 1854-74, die in einer für das 19. Jahrhundert typischen Weise gravierend in den mittelalterlichen Baubestand eingegriffen hat. Durch ihre präzisen Bauuntersuchungen konnte Engel allerdings nachweisen, dass die Restauratoren dabei keinesfalls willkürlich vorgegangen sind; vielmehr versuchten sie entweder das alte Mauerwerk zu erhalten oder sie kopierten die originalen Formen. Das Resultat ist der für viktorianische Restaurierungen eher erstaunliche Sachverhalt, dass sehr viel an mittelalterlicher Bausubstanz erhalten geblieben ist, mehr, als bisher angenommen wurde.

Der Hauptteil der Arbeit ist die in vier Abschnitte gegliederte Baugeschichte der Kathedrale. Die Autorin rekonstruiert zunächst den romanischen Vorgängerbau, der mit seinen Rundstützen im Chor wahrscheinlich den Anfang in jener westenglischen Sondergruppe markiert, die seit dem Ende des 11. Jahrhunderts den Rundpfeiler als ein den Raumeindruck beherrschendes Gliederungselement verwendet. In die normannische Formensprache des monumentalen Neubaus wurden alte angelsächsische Bauelemente integriert. Diese auffällige Gestaltungsweise erklärt der Bezug auf den Bauherrn: als einer der letzten Angelsachsen in einflussreicher Position wollte Bischof Wulfstan offensichtlich auf seine eigene Tradition verweisen. Gerade in diesem Ergebnis zeigt sich das methodisch breit angelegte Spektrum der Arbeit. Indem die Autorin die Rahmenbedingungen untersucht, kann sie das historische Spannungsfeld zwischen angelsächsischer Überlieferung und normannischer Erneuerung aufdecken, in welchem der Bauherr damals agierte.

Ähnlich liegt der Fall bei den nach 1175 errichteten Westjochen des Langhauses, die eine Verbindung von normannischem und gotischem Formengut aufweisen. Mit einer Vielzahl stilistischer Vergleichsbeispiele werden die traditionellen Elemente insbesondere in den lokalen Kontext der englischen Spätromanik eingebunden, während die innovativen Formen hauptsächlich aus der englischen Frühgotik abgeleitet werden. Damit kann die Autorin den in der Forschung immer wieder vorgetragenen Herleitungsversuch aus der französischen Frühgotik kritisch hinterfragen.

Auch für den Chor des 13. Jahrhunderts werden die verschiedenen Traditionsstränge aufgezeigt, die man in der mehrteiligen Gesamtanlage stilistisch verarbeitet hat. Anregungen aus dem Norden, Süden und Westen Englands beeinflussten sowohl den Bautyp als auch die einzelnen Bauformen. Dadurch erlangte der Chor, wie die Autorin selbst formuliert, "eine Mittelstellung innerhalb der Regionalismen der englischen Gotik in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts" (154). Was das zentrale Kapitel über die Baugeschichte vor allem auszeichnet, ist das detailliert ausgearbeitete stilistische Bezugssystem, in das die Architektur der Kathedrale, von ihren baukünstlerischen Gestaltungsweisen bis zu den architektonischen Einzelelementen, eingeordnet wird. Überdies bieten die historischen Zusammenhänge, die in den jeweiligen Abschnitten ausführlich dargelegt werden, einen stets nachvollziehbaren Erklärungsansatz für die stilistischen Einflüsse.

Das letzte Kapitel befasst sich mit den verschiedenen mittelalterlichen Funktionen der Kathedrale. Im Vordergrund stehen hierbei die Rekonstruktion der ursprünglichen liturgischen Einrichtung, die Reliquienkulte für die heiligen Bischöfe Oswald und Wulfstan und die Grablege für König Johann Ohneland. In ihrer sorgfältigen Analyse der historischen Voraussetzungen, Hintergründe und Zielsetzungen kann die Autorin nachweisen, dass die beiden letztgenannten Funktionen - Wallfahrtsstätte und königliche Grablege - in einem direkten Verhältnis zueinander standen. Neben persönlichen waren es insbesondere politische Motive, die König Johann dazu bewogen, sich in unmittelbarer Nähe des heiligen Wulfstan bestatten zu lassen. Die Chronologie der geschichtlichen Vorgänge zu Anfang des 13. Jahrhunderts verdeutlicht, dass die Entscheidung des Domklerus für den Bau einer neuen Choranlage von diesen Aufgaben maßgeblich bestimmt war. Die grundsätzliche Frage aber, ob und inwieweit die genannten Funktionen die architektonische Gestaltung des Chores beeinflusst haben, wird von der Autorin lediglich mit wenigen Randbemerkungen beantwortet. Seit den Ansätzen Richard Krautheimers zu einer 'iconography of mediaeval architecture' werden die religiösen Bedeutungen, die sich in der architektonischen Struktur eines mittelalterlichen Gebäudes manifestieren, mit den praktischen oder liturgischen Funktionen verbunden. Es wäre deshalb sinnvoll gewesen, die Architektur des Chores auch im Hinblick darauf zu untersuchen, wie die für das Bauvorhaben wichtigen Funktionen baukünstlerisch umgesetzt wurden. Der Verweis auf die skulpturale Ausstattung reicht hier alleine nicht aus.

Ute Engels Monografie über die Kathedrale von Worcester ist ein bemerkenswertes Buch mit einem hohen wissenschaftlichen Anspruch. Mit ihrer sehr großen Bandbreite im methodischen Vorgehen und mit ihrer Präzision in Beschreibung und Interpretation der verschiedenen architektonischen Phänomene könnte diese Untersuchung Orientierung und Maßstab für die zukünftige Beschäftigung mit der englischen Architektur des Mittelalters darstellen.


Steffen Krämer