Rezension über:

Andreas Frewer / Volker Roelcke (Hgg.): Die Institutionalisierung der Medizinhistoriographie. Entwicklungslinien vom 19. ins 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2001, 267 S., ISBN 978-3-515-07849-8, EUR 40,00
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Rezension von:
Ulrike Lindner
Universität der Bundeswehr München
Redaktionelle Betreuung:
Gudrun Gersmann
Empfohlene Zitierweise:
Ulrike Lindner: Rezension von: Andreas Frewer / Volker Roelcke (Hgg.): Die Institutionalisierung der Medizinhistoriographie. Entwicklungslinien vom 19. ins 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 12 [15.12.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/12/3562.html


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Andreas Frewer / Volker Roelcke (Hgg.): Die Institutionalisierung der Medizinhistoriographie

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Der vorliegende Sammelband ist zum 100-jährigen Jubiläum der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften (DGGMN) im Jahr 2001 erschienen. Der Band widmet sich der Institutionalisierung der Medizingeschichte um 1900 sowie der generellen Entwicklung der Medizinhistoriographie im 19. Jahrhundert, wobei einige Aufsätze auch ins 20. Jahrhundert ausgreifen.

In ihrem einleitenden Aufsatz weisen die Herausgeber zunächst auf verschiedene Kontexte hin, innerhalb derer sich die Institutionalisierung der Medizinhistoriographie vollzog. Sie heben für die Zeit um 1900 vor allem das Unbehagen und die Kritik an der Technik- und Wissenschaftsbegeisterung hervor, die wenige Jahrzehnte zuvor noch selbstverständlich gewesen war. Wissenschaft und Technik wurden nun nicht mehr als alleiniger Motor der Kultur verstanden. In diesem generellen Kontext der Verunsicherung und Infragestellung um die Jahrhundertwende erfolgte ein Institutionalisierungsschub der Medizingeschichte, was die Herausgeber unter anderem auf die starke Nachfrage nach einer historischen Reflexion über die Medizin in dieser Zeit zurückführen. In der Medizingeschichte werden zudem zwei Hauptrichtungen identifiziert: Zum einen eine Medizinhistoriographie, die sich als reine historische Tatsachenforschung und als Hilfswissenschaft der Medizin versteht; zum anderen eine Position, die den Prozesscharakter medizinischen Wissens stärker hervorhebt und eine kritische Bewertung medizinischer Theorien einbezieht.

Hans-Uwe Lammel widmet sich zunächst einem frühen Vertreter des Faches, Kurt Sprengel (1766-1833). Der noch als "Universalhistoriker" bezeichnete Sprengel setzte sich mit dem Problem der historischen Darstellung auseinander und gilt als Begründer einer pragmatischen Medizingeschichte im Sinne der reinen Tatsachenforschung, die der Geschichtsschreibung der Aufklärung verpflichtet war. Der instruktive Aufsatz von Christoph Gradmann über Geschichte und Naturforschung im technisch-induktiven Zeitalter, der allerdings weit über das medizinhistorische Thema hinausgeht, beschäftigt sich mit einem späteren Zeitraum, der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er geht auf den Identitätskonflikt zwischen naturwissenschaftlichen Methoden und geisteswissenschaftlichen Traditionen ein und analysiert dazu Schriften der zwei Naturwissenschaftler Hallier und DuBois zum Thema Kulturgeschichte. Beide definierten Kultur als Geschichte der Technik und der Naturwissenschaften und folgten einem stark szientistischem Weltverständnis. Gradmann zeigt zuletzt, wie im Kaiserreich dieser szientistische Kulturbegriff vom Aufkommen eines elitären, konservativen Kulturpessimismus eingeholt wurde.

Werner Friedrich Kümmel nimmt in seiner Überblicksdarstellung die wechselnden Legitimierungsstrategien der Medizingeschichte im 19. Jahrhundert in den Blick. Er unterscheidet dabei die Epoche der idealistischen Philosophie bis Mitte des 19. Jahrhunderts, in der der Nutzen einer Geschichte der Medizin für den Arztberuf selbstverständlich erschien, von der Periode der 1870er-Jahre, als mit einem naturwissenschaftlichen Medizinverständnis neue Legitimierungsbestrebungen notwendig wurden, und der Phase Ende des 19. Jahrhunderts, als die Vertreter der Medizingeschichte völlig in die Defensive gedrängt wurden. Hiervon hoben sich die Begründer einer neuen institutionalisierten Medizinhistoriographie um 1900 mit ihrem wissenschaftlichen Anspruch deutlich ab.

Andreas Frewer gelingt es in seinem Aufsatz über Karl Sudhoff und die wichtigste Phase im Institutionalisierungsprozess der Medizingeschichte um die Jahrhundertwende, die entscheidende Rolle Sudhoffs herauszuarbeiten und dies mit einer Analyse der damaligen wissenschaftlichen Gesellschaften und Netzwerke zu verbinden. Er geht insbesondere auf die Konstitutierung der DGGMN ein und setzt sich dabei kritisch mit der Person Sudhoffs auseinander. Yvonne Steif widmet sich in ihrem aufschlussreichen Beitrag ebenfalls der Gründung der DGGMN und ordnet die Entstehung der Fachgesellschaft in die Disziplinbildung der Medizingeschichte ein. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche fachwissenschaftliche Gesellschaften gegründet, deren Ziel nicht nur der wissenschaftliche Austausch war, sondern die auch dazu dienten, das Ansehen des jeweiligen Faches zu heben. Da es keinen institutionalisierten Weg zum Fach Medizingeschichte gab, waren die wichtigsten Protagonisten der Medizingeschichte ganz besonders an der Gründung einer Fachgesellschaft interessiert. Sudhoff setzte sich hier mit seinem Konzept einer Gesellschaft innerhalb der Vereinigung der deutschen Ärzte und Naturforscher durch. Die DGGMN diente so als außeruniversitäres Institutionalisierungsintrument der Medizingeschichte und bot Wissenschaftshistorikern innerhalb der prestigeträchtigen Gemeinschaft der Naturwissenschaftler und Ärzte ein wichtiges Forum für Selbstdarstellung und Legitimierung ihrer Disziplin.

In seinem sehr interessanten Aufsatz stellt Karl-Heinz Leven sodann medizinhistorische Zeitschriften vor, die ebenfalls konstitutiv für die Entwicklung der Disziplin Medizingeschichte waren. Er geht zunächst auf den bruchreichen Werdegang der Zeitschrift "Janus" im 19. Jahrhundert ein, um dann genauer die Entwicklung des "Archivs für Geschichte der Medizin", später "Sudhoffs Archiv", das gleichzeitig mit der DGGMN von Sudhoff gegründet wurde, zu beleuchten. Leven verweist auf das erfolgreiche Konzept des Archivs, das streng fachwissenschaftlich orientiert war. Ende der 1920er-Jahre versuchte der Nachfolger Sudhoffs als Herausgeber, Henry A. Sigerist, noch eine Umorientierung und Öffnung der Zeitschrift, emigrierte aber bereits 1932. Leven beschreibt den darauf folgenden Niedergang der Fachzeitschrift mit einer starken Orientierung am NS-Gedankengut. Die Nähe der Zeitschrift zum Nationalsozialismus wurde nach der Wiederaufnahme der Publikation 1952 nicht reflektiert; dies trug zum Bedeutungsverlust von Sudhoffs Archiv bei. Leven spannt hier den Bogen bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, was den Institutionalisierungsprozess in eine neue, aufschlussreiche Perspektive rückt.

Bernhard vom Brocke gibt in seinen Ausführungen zur Institutionalisierung der Medizinhistoriographie einen ausgezeichneten Überblick über die Entwicklung der Medizingeschichte und geht dabei insbesondere auf die Einrichtung des medizinhistorischen Lehrstuhls in Leipzig ein. Brocke widmet sich auch den sehr interessanten internationalen Verflechtungen der Medizinhistoriographie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die mit dem Ersten Weltkrieg ihr jähes Ende fanden. Bei Marcel H. Bickels Beitrag über Medizinhistoriker im 19. und 20. Jahrhundert hätte man sich eine ähnlich übergreifende Studie gewünscht. Bickel verzichtet jedoch auf die Darlegung der Auswahlkriterien für die 25 untersuchten Personen, was seine Ergebnisse wenig aussagekräftig macht. Auch seine Ausführungen zur Zeit des Nationalsozialismus, die er als wichtigen Einschnitt für die europäische Entwicklung sieht, bleiben sehr knapp; die Konsequenzen für die Medizingeschichte insbesondere in Deutschland werden kaum angesprochen.

Der abschließende Beitrag von Alfons Labisch analysiert die Auseinandersetzungen um die Medizin zwischen Naturwissenschaft und Humanwissenschaft. Labisch kommt nochmals auf die verschiedenen Phasen der Medizingeschichte im 19. Jahrhundert zurück und verknüpft dies mit der grundsätzlichen Diskussion um die Medizin als Wissenschaft beziehungsweise als handelnde und helfende Tätigkeit. Er stellt die These auf, dass Geschichtswissenschaft vor allem dann in den Vordergrund tritt, wenn sich medizinische Handlungsroutinen in einer Krise nicht mehr bewähren. Er unterscheidet auch für heutige Herangehensweisen eine Geschichte in der Medizin, die ihre Themen aus der aktuellen fachlichen Entwicklung der Medizin bezieht, von einer Sozial-, Gesellschafts-, Kulturgeschichte der Medizin, die die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Medizin zum Gegenstand hat. Für die medizinhistorische Forschung postuliert er zuletzt die Aufgabe, die Historizität des medizinischen Wissens wie auch des ärztlichen Handelns angemessen darzustellen.

Der Band widmet sich mit dem Thema Institutionalisierung des Faches Medizingeschichte einem interessanten und komplexen wissenschaftsgeschichtlichen Prozess und überzeugt vor allem durch die besprochenen übergreifenden Aufsätze, die den Verlauf der Institutionalisierung der Medizingeschichte in den geistes-, wissenschafts- oder institutionengeschichtlichen Kontext einordnen. Andere Beiträge, die rein biografisch vorgehen oder begrenzte Einzelthemen besprechen und auf eine stärkere wissenschaftsgeschichtliche Eingliederung verzichten, tragen dagegen weniger zum Erkenntnisgewinn bei. Man hätte sich zudem eine zwingendere Gruppierung der einzelnen Aufsätze gewünscht.


Ulrike Lindner