sehepunkte 3 (2003), Nr. 2

R. A. Houston: Madness and Society in Eighteenth-Century Scotland

Michel Foucault erregt nach wie vor die Gemüter. Das vorliegende Buch des schottischen Historikers Robert Houston bedient sich vierzig Jahre nach deren Erscheinen der "Geschichte des Wahnsinns" als Folie zu einer Diskussion von Geisteskrankheit in Schottland im 18. Jahrhundert. Die Arbeit setzt unterhalb des von Foucault skizzierten Expertendiskurses an und versteht sich als Sozialgeschichte der Wahrnehmung geistiger Verwirrung aus der Sicht von Laien: Nachbarn, Verwandten und Freunden der Betroffenen. Dementsprechend sind die Quellen, die Houston in detaillierter und eleganter Weise auswertet, nicht wissenschaftliche Abhandlungen, sondern hauptsächlich Zeugenaussagen in Prozessakten zur Entmündigung der als krank Diagnostizierten.

Das Korpus, auf dem der Hauptteil dieser luziden und umfangreichen Analyse beruht, sind so genannte "brieves". Hierbei handelte es sich um Eingaben zu Entmündigungsverfahren, die nach schottischem Recht von Familienangehörigen geisteskranker oder verwirrter Menschen eingeleitet wurden und die besonders in familiären Krisensituationen wie Erbfällen vorgebracht wurden. Ein zweiter, sehr viel geringerer Quellenbestand umfasst Kriminalgerichtsfälle, bei denen die Angeklagten auf Unzurechnungsfähigkeit wegen geistiger Verwirrung plädierten. Auf dieser Basis verortet Houston seine Studie zwischen den bislang vorliegenden historischen Analysen vor allem für den südlichen Nachbarn England (Roy Porter und Michael MacDonald haben hier umfangreiche Forschungsarbeiten vorgelegt) sowie den Untersuchungen der neueren psychiatrischen und psychologischen Forschung. Es geht ihm nicht um eine Diagnose der als wahnsinnig, schwachsinnig oder lernbehindert Bezeichneten, sondern um die Kriterien, die Zeitgenossen im 18. Jahrhundert zur Beweisführung einer Geisteskrankheit heranzogen. Dementsprechend und in gute postmoderner Façon spielen die Sprachen, in denen Wahnsinn analysiert und diskutiert wurde, eine wichtige Rolle in seiner Untersuchung. Der Charakter der Quellen führt zu gewissen Einschränkungen: "Cognitions", Entmündigungen, wurden fast immer nur dann beantragt, wenn Geld, Landbesitz und Ämter auf dem Spiel standen. Die Mehrzahl der Schotten mit psychischen Problemen und Lernbehinderungen lebte mehr oder weniger unbeachtet in der schottischen Gesellschaft ohne schriftliche Quellen zu hinterlassen. Auch die wenigsten derjenigen, deren Mündigkeit vor Gericht in Frage gestellt wurde, haben Selbstzeugnisse hinterlassen. Wo Aufzeichnungen von Betroffenenbefragungen in die Gerichtsakten mit aufgenommen wurden, dienten sie lediglich der Bestätigung einer bereits festgelegten Diagnose. Die Möglichkeit, aus den Äußerungen der Kranken eine eigene Logik herauszulesen, die vielleicht den Horizont der Gesunden bereichern konnte, lag nicht im Vorstellungsfeld der Beobachter. Wahnsinnige waren unglückliche Menschen mit sozialen und mentalen Defiziten. Zeugenbefragungen beschränkten sich zum größten Teil auf die Beobachtungen anderer. Frauen, die im häuslichen Milieu sicherlich näher mit den Erkrankten und Behinderten zu tun hatten, kamen vor Gericht sehr viel seltener zu Wort als Männer.

Vor dem Hintergrund dieser Einschränkungen gelingt Houston eine sensible, vielschichtige Studie, die vor allem von den sorgfältig recherchierten Fallbeispielen lebt. Gezeichnet wird hier das Bild einer schottischen Gesellschaft, in der Männer und Frauen aller Schichten sehr genaue und differenzierte Vorstellungen von Geisteskrankheit hatten. Diese orientierten sich nicht am Medizinaldiskurs, sondern vor allem an der sozialen Kompetenz der Diagnostizierten. Kriterien wie standesgemäße Kleidung und Umgangsformen sowie Kompetenz im wirtschaftlichen Alltag (Patienten wurden aufgefordert, Geldmünzen und deren Wert voneinander zu unterscheiden) galten hier als Gradmesser der Unterscheidung von Normalität und Wahnsinn. Dennoch verwehrt sich Houston gegen die vor allem in der Anti-Psychiatrie-Bewegung der 1970er Jahre vorgebrachte These, Geisteskrankheit als Diagnose sei eine gesellschaftliche Reaktion auf Devianz und gegen die in der historischen Forschung gelegentlich gezogenen Linie von den Hexenprozessen des 17. Jahrhunderts zur Einweisung in Asyle und Hospitäler in späteren Zeiten. Das Sozialprofil der Diagnostizierten, das sich aus den Gerichtsurteilen ergibt, bietet bei aller Vorsicht, die angesichts der spezifischen Quellengattung angebracht ist, ein interessantes Korrektiv zu immer noch verbreiteten Vorstellungen von Geisteskrankheit und Gesellschaft. Die Anzahl der Gerichtsverfahren nahm in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erheblich zu. Das mag, so argumentiert Houston, nicht (nur) an der Zunahme möglicher Stressfaktoren im Leben der Betroffenen liegen, sondern auch an der gesteigerten Sensibilität der schottischen Gesellschaft für das Phänomen "Wahnsinn". Von diesem war nicht zuletzt auch das damalige britische Staatsoberhaupt, König Georg III. in dramatischer und für die Öffentlichkeit nicht zu übersehender Weise betroffen.

Die Geschlechterbalance ist mehr oder weniger ausgeglichen. Frauen, deren frühneuzeitliche Diskreditierung als moralisch schwache und korrumpierbare Geschöpfe in der historischen Forschung intensiv untersucht worden ist, erscheinen nicht überproportional in den Gerichtsakten. Ihr Krankheitsbild wird in der Diagnose auch nicht mit den allgemein verbreiteten Stereotypen in Verbindung gebracht. Alleinstehende Männer und Frauen standen sehr viel häufiger im Zentrum eines Entmündigungsverfahrens als Verheiratete, die in der Regel von ihren Ehepartnern kontrolliert und versorgt wurden. Das Durchschnittsalter der Kranken lag für beide Geschlechter bei etwa 30 Jahren. In den meisten Fällen wurde eine mehrere Jahre zurückreichende Erkrankung diagnostiziert. Kinder traten in keinem Fall auf, da das Alter der Rechtsmündigkeit in Schottland bei 21 Jahren lag. Am anderen Ende des Altersspektrums wussten die Untersuchenden sehr wohl zwischen Wahnsinn und Altersdemenz zu unterscheiden. Einweisungen in Asyle wurden dann notwendig, wenn keine Familienangehörigen oder Freunde zur Versorgung der Verwirrten zur Verfügung standen.

Insgesamt zeichnet Houston das Bild einer Gesellschaft, die sehr differenzierte Vorstellungen von Wahnsinn hatte, die sehr wohl zwischen Alkoholdelirien, religiösem Wahn, Lernbehinderung und Epilepsie zu unterscheiden wusste (um nur einige Facetten zu nennen, die hier besprochen werden) und jenseits des sich erst allmählich formierenden Spezialistendiskurses Kriterien zur Diagnose und Prognose der Erkrankungen entwickelte. Ihre Parameter waren weit entfernt von den Modellen moderner medizinischer und psychiatrischer Untersuchungen und entstammten dem Repertoire sozialer Kompetenz, das in einer an Stand und Status orientierten Gesellschaft wichtiger war als individuelle Befindlichkeit. Was fehlt, ist eine weiterführende Krankengeschichte der dem Leser so lebendig nahe gebrachten Betroffenen nach Entmündigung und Einweisung in Anstalten und Asyle, die aber den Rahmen dieser ohnehin sehr umfangreichen Studie sprengen würde. Die Arbeit ist anregend, reflektiert ein weites Feld historischer Forschung in Europa und nimmt kritisch Stellung zu Trends in der aktuellen psychiatrischen und medizinischen Diskussion über Geisteskrankheit und Abweichungen von gesellschaftlichen Normen. Houston kann damit eine Leserschaft erreichen, die weit über Historiker der Sozialgeschichte Schottlands im 18. Jahrhundert hinausgeht.


Rezension über:

R. A. Houston: Madness and Society in Eighteenth-Century Scotland (= Oxford Studies in Social History), Oxford: Oxford University Press 2000, 464 S., ISBN 978-0-19-820787-0, GBP 55,00

Rezension von:
Raingard Eßer
University of the West of England, Bristol
Empfohlene Zitierweise:
Raingard Eßer: Rezension von: R. A. Houston: Madness and Society in Eighteenth-Century Scotland, Oxford: Oxford University Press 2000, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 2 [15.02.2003], URL: https://www.sehepunkte.de/2003/02/1399.html


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