Rezension über:

Brigitte Funke: Cronecken der sassen. Entwurf und Erfolg einer sächsischen Geschichtskonzeption am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit (= Braunschweiger Werkstücke. Reihe A: Veröffentlichungen aus dem Stadftarchiv und der Stadtbibliothek; Bd. 48), Braunschweig: Stadtbibliothek Braunschweig 2001, 336 S., ISBN 978-3-9806341-3-7
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Rezension von:
André Thieme
Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V., Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
André Thieme: Rezension von: Brigitte Funke: Cronecken der sassen. Entwurf und Erfolg einer sächsischen Geschichtskonzeption am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Braunschweig: Stadtbibliothek Braunschweig 2001, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 5 [15.05.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/05/1963.html


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Brigitte Funke: Cronecken der sassen

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Seit geraumer Zeit schon erfährt die Untersuchung spätmittelalterlicher Chronistik / Geschichtsschreibung vor dem Hintergrund gewandelter historischer Fragestellungen eine erneute Konjunktur. Dabei steht eine philologisch-kritische Bewertung der Chroniken als positivistische Quelle kaum noch im Vordergrund. Viel mehr interessieren heute die Vorstellungen und Absichten der jeweiligen Verfasser sowie die Wirkungen der Werke auf das Bewusstsein von Zeitgenossen und Nachwelt. Gezielt werden Chroniken einerseits darauf geprüft, wie - beziehungsweise inwieweit - sich zeit-, schichten- und ortsabhängige Vorstellungen zu ausgewählten Problemfeldern widerspiegeln. Andererseits gewinnen zunehmend Arbeiten Raum, die sich der chronikalischen Rolle bei der Entstehung und Verbreitung eines Geschichtsbewusstseins beziehungsweise einer historischen Identität vor allem an der Schwelle des Mittelalters zur Neuzeit widmen. Die Braunschweiger Dissertation von Brigitte Funke gehört zu dieser letzteren Kategorie und bereichert das Feld um eine weitere wichtige Einzelstudie.

Zum Gegenstand ihrer Arbeit wählte Funke die zum Jahre 1492 bei Peter Schöffer in Mainz erstmals verlegte "Cronecken der sassen" - einen Text, der in den folgenden Jahrzehnten im Zuge mehrerer Neuauflagen weite Verbreitung fand, der stark auf andere, nachfolgende Geschichtswerke einwirkte und sich deshalb für eine auf die "historiographische Spiegelung historischer Identitäten" (9) abzielende Untersuchung anbietet. Der methodische Ansatz Funkes, sich mit der origo gentis, der Christianisierung der Sachsen und der sächsischen Herzogsfolge im Wesentlichen auf die Analyse dreier zentraler Momente sächsischer Geschichte in der "Cronecken" und ihren Vergleichsbeispielen zu beschränken, trägt durchaus und dient der Stringenz der Untersuchung, wenngleich dadurch mancher, ebenfalls eine nähere Betrachtung lohnender Aspekt in den Hintergrund verwiesen wird.

Eingehend befasst sich Funke aber zunächst mit der Stellung der "Cronecken" innerhalb der regionalgeschichtlich ausgerichteten Wiegendrucke und behandelt anschließend Ausstattung und Titel der Inkunabel sowie Inhalt und Aufbau der Chronik. Darüber hinaus hat sie sich in methodischer Anlehnung an eine Arbeit von Klaus Graf [1] der Mühe unterzogen, die Provenienzen der in den Bibliotheken (Anfrage an 80 Einrichtungen) ermittelten Exemplare der "Cronecken der sassen" zu erfassen. Sie verzeichnet hierbei auch Mitüberlieferungen und handschriftliche Anhänge, aus denen über eine bloße Überlieferungsgeschichte hinaus "Einblicke in das Feld der Besitzer sowie in den Gebrauchszusammenhang" (28) gewonnen werden können. Die Vielfältigkeit der vormaligen Besitzer beeindruckt und belegt eine Präsenz des Werkes bei kirchlichen Institutionen beider Konfessionen, bei Gelehrten, Geistlichen, Angehörigen des städtischen Patriziats und Adligen sowie eine zeitige Verbreitung der "Cronecken" über ihren altsächsischen Entstehungsraum hinaus.

In ihrer zentralen Untersuchung arbeitet Funke den spezifischen Ansatz der "Cronecken" klar heraus: Er besteht, auch in Abgrenzung zu älteren universalhistorisch oder dynastisch orientierten Werken, in dem Anspruch, die Geschichte einer herrschaftlich heterogenen Region zu zeigen. Dabei bestimmt sich die formale und inhaltliche Gestaltung der "Cronecken der sassen" aus einer deutlich eingrenzbaren räumlichen und ständischen Position des Chronisten. Über die Urheberschaft der "Cronecken" sind noch in jüngerer Zeit widersprüchliche Meinungen vorgetragen worden. Funke streift diese Kontroverse, die entweder den Braunschweiger Goldschmied Konrad Bote oder den Verfasser der "Sächsischen Weltchronik", Hermen Bote, zum Schöpfer der "Cronecken" machen möchte, nur am Rande. Sie beschränkt sich darauf, in dem Verfasser einen "anonymen Braunschweiger Chronisten" (11) zu sehen und verzichtet auf eine Eingrenzung der Verfasserschaft, weil ihr diese als rein hypothetisch erscheint. Doch bestimmen unsere Vorstellungen von Geschichte nicht häufig indiziengestützte, gleichwohl mehr oder weniger hypothetische Rekonstruktionen. Man mag diesen Verzicht auf eine eigene Positionierung also durchaus bedauern. Wie stark jedenfalls die ständische Perspektive und das städtische Braunschweiger Milieu des Chronisten die Darstellung in der "Cronecken" dominieren, kann Funke klar verdeutlichen, etwa wenn der Chronist die Ritterschaft des Stadtadels historisch zu fundieren sucht oder wenn er didaktisch (freilich nicht vordergründig) gegen Fehde und Raub argumentiert. Der Wille des Verfassers, Geschichte auch für aktuelle Fragen belehrend aufscheinen zu lassen, durchzieht gerade die jüngeren Teile des Werkes: Innerstädtische Unruhen seien das Unglück der Städte, städtische Solidarität dagegen ein entscheidender Faktor "für die Verteidigung städtischer Autonomie gegen fürstliche Übergriffe" (160).

Die räumliche, braunschweigisch-niederdeutsche Perspektive hat die so gestaltete Konzeption des Werkes überhaupt zur Folge gehabt: Die "Cronecken" versucht, regional-sächsische und lokal-städtische Geschichtsinteressen zu verbinden. Diese Konstruktion erscheint als Neuerung gegenüber der älteren Chronistik, und Funke erkennt hierin wohl zu Recht auch einen Reflex auf die mit der Publikation verbundenen Erfolgsaussichten. Doch diente diese Konzeption vor allem der Absicht des Chronisten, die "Vorstellung einer historisch begründeten Zusammengehörigkeit" Niederdeutschlands in einer Geschichte der Sachsen zusammenzuführen, um "zur Begründung und Kontinuierung einer über kleinräumige Bindungen hinausgehenden, am Namen Sachsen orientierten historischen Identitätsbildung" beizutragen (163). Angesichts der von den Zeitgenossen zu beobachtenden Namensverschiebung von "Sachsen" in die meißnisch-thüringische Region, die mit der Übertragung der Kurwürde an die Wettiner 1423 ihren Ausgang genommen hatte, besaß dieses Ziel für den Chronisten hohe Priorität. Dass die "Cronecken der sassen" in der Zusammenstellung der sächsischen Herzöge eine klare Parteinahme für den askanischen Zweig Sachsen-Lauenburg erkennen lässt, kann hiernach nicht mehr verwundern.

Der Gefahr eines allzu sehr eingeengten Blickes entgeht Funke dadurch, dass sie ihre Untersuchung in eine längsschnittartige Betrachtung sächsischer Chronistik einbettet: Ausführlich stellt Funke mit der universalen "Sächsischen Weltchronik", der dynastischen "Braunschweigischen Reimchronik" und der städtischen "Magdeburger Schöppenchronik" eine Umschau zu den verschiedenen Typen sächsischer Vorläuferchroniken voran, die der "Cronecken" als Quelle dienten. Funke kennzeichnet deren Beziehungen zum späteren Text der "Cronecken" der sassen" und erhellt konzeptionelle, beziehungweise intentionale Unterschiede und Gemeinsamkeiten, aus denen die eigenständige Rolle der "Cronecken der sassen" deutlich hervor tritt. Die Vorstellung, bei der "Cronecken" handele es sich um eine druckgerecht überarbeitete Fassung der "Sächsischen Weltchronik", weist Funke zurück. Eigene neue Ansichten zu den in der Literatur reichlich bedachten Vorgängerchroniken scheut Funke keineswegs, doch kann sie nicht alle aufgeworfenen Probleme umfassend erörtern, sodass hier weiterer Diskussionsbedarf besteht.

Schließlich zeigt Funke mit der "Saxonia" des Albert Krantz und der "Sächssischen Chronica" des Cyriacus Spangenberg zeitliche Nachfolger der "Cronecken" auf. Gegen tradierte Forschungsmeinungen versteht sie dabei Krantz' Saxonia nicht als Entwurf, um etwa eine Geschichte der "Germania magna" oder einer "Germania libera" zu schreiben. Vielmehr sei hier der Versuch einer historiographischen Integration der "Saxonia" in die "Germania" unternommen worden. Obwohl Krantz in seinen Bemerkungen zur sächsischen Frühgeschichte viele der auch in der "Cronecken" überlieferten älteren Vorstellungen, insbesondere die eines tiefergehenden römischen Einflusses auf die rechtsrheinischen Gebiete, verwirft, offenbaren sich in der zeitnahen Darstellung zahlreiche Parallelen zur "Cronecken der sassen". Beide Chronisten lehnen etwa die Übertragung der Kurwürde an die Wettiner ab und beide verfolgen letztlich einen regionalgeschichtlichen Ansatz. Demgegenüber lässt sich Spangenbergs Chronik einem solchen historiographischen Konzept keineswegs stringent zuordnen, sie enthält widersprechende Ansätze und zeigt sich auch in einer wichtigen politischen Bewertung von Krantz und der "Cronecken" verschieden: Für Spangenberg stellt der Übergang der Kurwürde an die Wettiner keinen Bruch in der Tradition der sächsischen Herzöge dar.

Abschließend rundet Funke das Bild mit einem Ausblick auf spätere Ausgaben beziehungsweise Fortsetzungen der "Cronecken der sassen" ab, in denen das reichlich bearbeitete Werk nun als "Träger einer engagierten protestantischen Geschichtsdeutung" (229) erscheint, während es seinen ursprünglichen Charakter "als Monographie zur Geschichte des altsächsischen Raumes" (233) zu Gunsten einer Magdeburger Lokaltradition beziehungsweise einer kursächsischen Ausrichtung einbüßte.

Alles in allem ist Funke eine informative, in ihren Kernthesen überzeugende und konzentrierte Arbeit gelungen. Am Beispiel der "Cronecken der sassen", ihrer Quellen, ihrer Bearbeitungen und ihrer Nachfolger kann sie den historiographischen Versuch erhellen, an der Schwelle des Mittelalters zur Neuzeit eine (nieder)sächsische Geschichtsidentität zu beleben oder zu konstruieren.

Anmerkung:

[1] Klaus Graf: Exemplarische Geschichten. Thomas Lirers 'Schwäbische Chronik' und die 'Gmünder Kaiserchronik' (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, Bd. 7), München 1987.

André Thieme