sehepunkte 3 (2003), Nr. 11

Deutsche Einblattholzschnitte

Als der Münchner Verleger Hugo Schmidt 1930 Max Geisbergs Sammlung deutscher Einblattholzschnitte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts als Standardwerk für die Geschichte des Holzschnitts und für die Kulturgeschichte der Dürer-Zeit würdigte, war der Stolz des Unternehmers spürbar, ein gewaltiges Projekt nach neun Jahren mit Erfolg abgeschlossen zu haben. [1] In der Tat hatten der Münsteraner Kunsthistoriker Geisberg und sein Verleger Bemerkenswertes geleistet. Geisberg hatte über 20 Jahre in kunsthistorischen Sammlungen und Bibliotheken Material zu den Einblattdrucken - vom Heiligenbild über die Darstellungen politischer Ereignisse bis zu Berichten von Himmelserscheinungen - recherchiert und eine Auswahl von 1600 Blättern zusammengestellt, die der versierte Verleger im Faksimiledruck reproduzierte und in 40 Mappen für Forschungseinrichtungen und didaktische Zwecke anbot. Erstmals stand damit diese für die Frühe Neuzeit wichtige Gattung populärer Grafik in so großem Umfang auch in Abbildungen zur Verfügung.

In den 1970er-Jahren, als wissenschaftsgeschichtlich wieder ein verstärktes Interesse an kulturhistorischen Zeugnissen bestand, unternahm Walter L. Strauss eine Neuausgabe der Geisberg'schen Sammlung in überarbeiteter Form. [2] Er brachte nicht nur die Literaturangaben und die Informationen zu Künstlern, Formschneidern und Verlegern auf den neuesten Stand der Forschung, sondern fügte auch eine überaus informative Einführung über die Entstehungsbedingungen und Funktionen der Einblattholzschnitte hinzu. Schließlich erweiterte er die von Geisberg herausgegebenen Blätter um den Zeitraum von 1550 bis 1600. [3] Nochmals erweitert wurde das Kompendium 1977 durch Dorothy Alexander, die in Zusammenarbeit mit Strauss die Einblattholzschnitt von 1600 bis 1700 in zwei Bänden hinzufügte. [4]

Auf der Grundlage dieser insgesamt neunbändigen Edition ist in der Digitalen Bibliothek der Directmedia Publishing nun eine digitale Publikation der Einblattholzschnitte erschienen. Bei der digitalen Umsetzung hat man sich von der Idee eines klassischen Reprints gelöst und redaktionelle Veränderungen vorgenommen. Um es gleich vorwegzunehmen: Für die wissenschaftliche Arbeit wird man auch zukünftig nicht ohne die herkömmliche gedruckte Fassung auskommen.

Die digitale Version bietet auf zwei CD-ROMs mehr als 3400 Holzschnitte aus dem Zeitraum von 1500 bis 1700 und damit nur eine Auswahl aus den gedruckten Bänden. Das Bildmaterial liegt in drei Größen vor, von der Dia-Größe für den schnellen Überblick über ein Vorschaubild bis zum hochauflösenden Scan, der stufenlos gezoomt werden kann. Die Bildqualität variiert stark, da die wenig brillanten Abbildungen der 1970er-Jahre-Edition als Vorlage verwendet wurden, anstatt zumindest für den Zeitraum von 1500 bis 1550 die hervorragenden Faksimile-Drucke der ersten Geisberg-Ausgabe zu nutzen. Die Bilder können exportiert, ausgedruckt und mit einem integrierten Programm auch bearbeitet werden. Register ermöglichen eine rasche Suche nach Künstlern, Werken, Druckorten und Themen; auch eine Volltextsuche wird angeboten.

Die Installation des Programms ist einfach, die technische Handhabung dagegen nicht immer befriedigend. Eine veraltete Datenbanktechnik führt den Nutzer unnötig schnell an die Grenzen des Möglichen. Zudem sorgt eine mangelhafte redaktionelle Bearbeitung für ärgerliche Komplikationen. Da keine Verschlagwortung (z.B. nach IconClass) vorgenommen wurde, kann der Nutzer nur nach wortwörtlichen Entsprechungen suchen. So findet man unter dem Stichwort "Schlacht" nicht die "Böhmische Schlacht" von Hans Burgkmair, weil Geisberg das Blatt "Sieg des Kaisers Maximilian über die Böhmen bei Schönberg" betitelte. Eine Bildersuche nach Schlagworten ist möglich, die Bildauswahl wird aber nur in einer Vorschau mit kleinformatigen Abbildungen im linken Feld und nicht als Einzelbilder im rechten Feld - wie dies bei der Registersuche möglich ist - gezeigt. Zwar können die Vorschaubilder per Doppelklick vergrößert werden, sie erscheinen dann jedoch in einem neuen Fenster, das man wieder schließen muss, wenn man zur Vorschau zurück möchte. Das Ärgerlichste im Bereich der technischen Handhabung ist aber wohl der Umstand, dass man für jedes Bild, welches man im hochauflösenden Format zu sehen wünscht, von der Start-CD zur Datenbank-CD wechseln muss.

Auch die redaktionelle Bearbeitung des Inhalts ist in mehrfacher Hinsicht zu kritisieren. Es beginnt damit, dass statt der Einleitungen von Strauss und Alexander nun eine anonyme zweiseitige Vorbemerkung in das Werk einführt, die voller (auch Tipp-)Fehler und Klischees ist. Die Bemerkung etwa, dass die Holzschnitte anfangs auf die Kontur beschränkt und deshalb "ausgemalt und koloriert" wurden, während bei der Weiterentwicklung der Technik dann "die Schnitte filigraner und die Kolorierung somit überflüssig" wurde, ist nicht nur ungeschickt formuliert, sondern auch schlichtweg falsch. Die Bibliografie der gedruckten Ausgabe wurde nicht übernommen, geschweige denn aktualisiert, obwohl in den vergangenen Jahren eine Fülle neuer Publikationen zum Thema erschienen ist. Es fehlen die wissenschaftlichen Kommentare von Strauss und Alexander unter den Bildern, in denen auf Forschungsdiskussionen, zweifelhafte Zuschreibungen etc. hingewiesen wurde.

Ohne dies in der Einführung zu erwähnen, wurde offensichtlich eine inhaltliche Bearbeitung vorgenommen, die bei Stichproben Fehler aufwies. So schrieb Strauss eine Serie von vier Reiterporträts zeitgenössischer Regenten dem Nürnberger Briefmaler und Formschneider Hans Adam (tätig 1535-1568) zu. In der digitalen Fassung werden ihm nur noch zwei Blätter zugeschrieben, die er nach Vorlagen des ebenfalls in Nürnberg tätigen Hans Wandereisen angefertigt haben soll, dem auch die beiden anderen Blätter aus der Serie zugewiesen werden. Irritiert stellt man dann aber fest, dass das Reiterporträt Wilhelms von Jülich-Cleve-Berg aus dieser Serie zweimal erscheint (einmal mit falschem Titel auf Grund eines Übersetzungsfehlers) und in einem Fall Hans Adam, im anderen Fall Hans Wandereisen zugeschrieben wird. Da inhaltliche Änderungen im Vergleich zu Geisberg/Strauss/Alexander nicht angezeigt werden und neue Zuschreibungen und Datierungen nicht wissenschaftlich belegt sind, kann bei der Nutzung dieser digitalen Ausgabe nur zur Vorsicht gemahnt werden.

Zusammenfassend muss man feststellen, dass der Verlag mit der digitalen Edition der deutschen Einblattholzschnitte zwar auf das gestiegene Interesse der interdisziplinären Forschung an diesem Medium reagiert und eine erschwingliche Ausgabe anbietet, aber die wissenschaftlichen Standards nicht wahrt. Die Arbeit mit den digitalen Bildern wird zudem durch zu viele technische Hindernisse erschwert. Wenn wie in diesem Fall mit veralteter Technik und mangelhafter wissenschaftlicher Ausstattung - weit entfernt vom verlegerischen Engagement der ersten Ausgabe - operiert wird, bieten die neuen Medien keinen wirklichen Ersatz für die herkömmliche gedruckte Erscheinungsform.

Anmerkungen:

[1] Max Geisberg, Der deutsche Einblattholzschnitt in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, 40 Bde., München 1923-29

[2] Max Geisberg, The German Single-Leaf Woodcut 1500-1550, revised and edited by Walter L. Strauss, 4 Bde., New York 1974.

[3] Walter L. Strauss, The German Single-Leaf Woodcut 1550-1600, 3 Bde., New York 1975.

[4] Dorothy Alexander, The German Single-Leaf Woodcut 1600-1700, in collaboration with Walter L. Strauss, 2 Bde., New York 1977.

Rezension über:

Deutsche Einblattholzschnitte. Von 1500 bis 1700 (= Digitale Bibliothek), Berlin: Directmedia Publishing 2003, 2 CD-ROM Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 16 MB RAM; Grafikkarte ab 640x480, 256 Farben; MS Windows (95, 98, ME, NT, 2000, XP), ISBN 978-3-932544-69-9, EUR 79,90

Rezension von:
Elke Anna Werner
Warburg-Haus, Hamburg
Empfohlene Zitierweise:
Elke Anna Werner: Rezension von: Deutsche Einblattholzschnitte. Von 1500 bis 1700, Berlin: Directmedia Publishing 2003, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 11 [15.11.2003], URL: https://www.sehepunkte.de/2003/11/3761.html


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