Rezension über:

Katrin Keller: Landesgeschichte Sachsen, Stuttgart: Eugen Ulmer 2002, 424 S., 10 Karten, ISBN 978-3-8252-2291-8, EUR 24,80
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Rezension von:
Ulrich Rosseaux
Institut für Geschichte, Technische Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Rosseaux: Rezension von: Katrin Keller: Landesgeschichte Sachsen, Stuttgart: Eugen Ulmer 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/02/1991.html


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Katrin Keller: Landesgeschichte Sachsen

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Katrin Kellers Überblicksdarstellung zur sächsischen Geschichte reiht sich ein in den seit der Restitution der Länder auf dem Gebiet der DDR im Jahr 1990 zu verzeichnenden Aufschwung der landesgeschichtlichen Forschung, der in Sachsen - nicht zuletzt aufgrund der langen historischen Tradition - mit besonderer Intensität erfolgt ist. Neben der Etablierung entsprechender Lehrstühle an den Universitäten in Dresden und Leipzig - zwischenzeitlich auch in Chemnitz - und den daraus erwachsenen Forschungsaktivitäten ist in diesem Zusammenhang insbesondere auf das in Dresden ansässige Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde zu verweisen, dessen Tagungen und Publikationen weithin Aufmerksamkeit gefunden haben. [1] Auch außerhalb der Landesgrenzen hat die Geschichte Sachsens wieder verstärkt das Interesse auf sich ziehen können, wie Projekte zum Obersächsischen Reichskreis, zur Historie der Böhmischen Exulanten im Dreißigjährigen Krieg oder zur Geschichte der Oberlausitz zeigen - um nur einige Beispiele zu nennen. [2] Angesichts dieser Entwicklung konnte es nur als misslich empfunden werden, dass lange keine Gesamtdarstellung zur sächsischen Geschichte vorlag, die modernen Ansprüchen genügte, und man sich stattdessen mit Neuauflagen des aus dem Jahr 1935 stammenden und gewiss verdienstvollen, mittlerweile aber doch sehr in die Jahre gekommenen Handbuchs von Rudolf Kötzschke und Hellmut Kretzschmar oder der von Karl Czok 1989 herausgegebenen Geschichte Sachsens behelfen musste [3] - wobei Letztere als Produkt der späten DDR unter ideologischen Verzerrungen leidet und insbesondere in den Abschnitten zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts die Grenze zur nackten Geschichtsklitterung mehr als nur streift. Wissenschaftlich fundierte Abhilfe bot hier erstmals die 2001 publizierte Geschichte Sachsens aus der Feder von Rainer Groß [4], zu der sich nunmehr Katrin Kellers Darstellung gesellt. Die Autorin ist durch ihre bisherigen Publikationen als Kennerin der sächsischen Geschichte einschlägig ausgewiesen, neben diversen Aufsätzen ist in diesem Zusammenhang vor allem ihre 2001 erschienene Monografie über Kleinstädte in Kursachsen hervorzuheben. [5]

Keller hat ihre Darstellung der sächsischen Geschichte in sechs Kapitel unterteilt, die im Wesentlichen chronologisch definiert sind. Eine Ausnahme hiervon bildet der erste Abschnitt (13-34), in dem eine knappe Schilderung der naturräumlichen Gegebenheiten und der territorialen Entwicklung Sachsens geboten wird. Ansonsten beginnt die Abhandlung im zweiten Kapitel mit der Vor- und Frühgeschichte (35-50), fortgesetzt mit drei Kapiteln zum Mittelalter (10. Jahrhundert-1485, 51-124), zur Frühen Neuzeit (1485-1830, 125-252) sowie zum 19. und 20. Jahrhundert (1830-circa 1950, 253-391), endend im sechsten Kapitel mit einem kleinen Abriss über das Ende der Länder in der DDR 1952 und der Entwicklung des Freistaats Sachsen seit 1990 (392-404). Jedem dieser sechs Teile folgt unmittelbar ein dazugehöriges Literaturverzeichnis. Wie anhand der Seitenzahlen deutlich wird, sind die einzelnen Abschnitte von ungleichem Gewicht. Das Zentrum der Ausführungen bilden die drei Kapitel zum Mittelalter, zur Frühen Neuzeit und zur neueren Geschichte, wohingegen die Zeit nach 1945 sowie die Ur- und Frühgeschichte weniger intensiv behandelt werden. Bei Letzterer muss man sich allerdings ohnehin fragen, ob diese Thematik sinnvollerweise im Rahmen eines landesgeschichtlichen Überblicks behandelt werden sollte. Die sächsische Geschichte mit der Erwähnung der ersten Besiedlungsspuren in der Steinzeit beginnen zu lassen ergibt keinen rechten Sinn, und die Slawensiedlung im Frühmittelalter, die ebenfalls in diesem Abschnitt behandelt wird, hätte genau so gut oder vielleicht noch besser ins Mittelalterkapitel gepasst.

Die drei zentralen Teile des Buches folgen einem einheitlichen Muster: Zuerst werden Politik, Verfassung und Verwaltung abgehandelt, anschließend dann die Kirchengeschichte sowie die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der jeweiligen Epoche - Letztere nochmals untergliedert in die Punkte Landwirtschaft, Stadt und Stadtbewohner, Bergbau und Gewerbelandschaften sowie Adel. Bei der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts kommt noch ein separater Abschnitt zur Geschichte der politischen Bewegungen hinzu, auch erhält die Behandlung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte neue Unterkapitel zur Industrialisierung und Urbanisierung, zur Arbeiterschaft und zum Bürgertum. Den Schluss eines jeden Hauptkapitels bilden dann stets die Ausführungen zu den Aspekten der kulturellen Entwicklung. Dieser systematische Ansatz kommt der Benutzbarkeit als Überblicksdarstellung entgegen, die in aller Regel segmentiert verwendet werden dürfte, bringt aber unvermeidliche Sprünge mit sich, welche der Lektüre am Stück nicht immer gut bekommen. Dennoch bietet Katrin Keller über weite Strecken eine gut lesbare und instruktive Darstellung der sächsischen Geschichte, bei der nach Möglichkeit die bereits vorliegenden Ergebnisse der jüngsten Forschungen eingearbeitet wurden. Zudem ist es ihr gelungen, die in der älteren Forschung dominierende - und nicht selten bis in die Gegenwart hinein tradierte - Fixierung auf die Herrschergestalten zu überwinden und stattdessen die Prozesse und strukturellen Entwicklungen in den Vordergrund zu rücken. Dies gilt namentlich für die Ausführungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, denen unverkennbar die besondere Vorliebe der Autorin gilt und die zweifelsohne auch die stärksten Teile ihres Buches darstellen. Demgegenüber fallen die Unterkapitel zu den Aspekten der kulturellen Entwicklung ab. Hier konzentriert sich die Verfasserin im Wesentlichen auf den klassischen Kanon der Hochkultur, während Fragen der Volks- und Alltagskultur wenig Berücksichtigung erfahren. Zwar hat Keller Recht, wenn sie einleitend konstatiert (10), dass die Forschungslage zu diesem Bereich in Sachsen noch viel Raum für zukünftige Arbeiten bietet, dennoch wäre vor allem durch die Einbeziehung volkskundlicher Forschungen mehr möglich gewesen als geboten wird - zumal die Diagnose einer rudimentären, veralteten und lückenhaften Literaturlage für weite Gebiete der sächsischen Landesgeschichte gilt und durchaus auch auf solche Themen zutrifft, denen sich Keller mit mehr Inbrunst angenommen hat. Ähnliches gilt für die Geschichte Sachsens in der DDR, die in sehr knapper Form lediglich bis 1952 behandelt wird. Auch hier kann die Begründung der fehlenden Forschung nicht hinreichend überzeugen, zumal dieser Befund in mindestens gleichem Maße auch für die Zeit nach 1990 gilt, zu der sich Keller dann aber wieder äußert. Darüber hinaus sind ihre Ausführungen zur Geschichte nach 1945 inhaltlich die mit Abstand schwächsten Teile des gesamten Buches. So deutet Keller das Ergebnis der Landtagswahlen vom Oktober 1946, bei der die SED knapp 49 Prozent der Stimmen erhielt, einseitig als Votum der Bevölkerung für eine "linksdemokratische Alternative, wie sie etwa zwei Jahrzehnte vorher schon einmal angedacht gewesen war" (277). Da diese Wahlen - wie alle Urnengänge in den Ländern der sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1949 unter teilweise massivem Druck von Seiten der Besatzungsmacht durchgeführt wurden, drängt sich wohl doch eher die genau umgekehrte Interpretation auf: Trotz der Bevorzugung der KPD und später der SED durch die Besatzungsmacht und obwohl Sachsen eine traditionelle Hochburg der Arbeiterbewegung war, gelang es der SED nicht einmal in Wahlen, bei denen keine Chancengleichheit herrschte und die beim besten Willen nicht als wirklich frei zu bezeichnen sind, eine Mehrheit auf sich zu vereinigen. Bei Keller wird diese Möglichkeit aber nicht einmal diskutiert. Da passt es denn auch, dass im gleichen Atemzug das sattsam bekannte Loblied von der entschlossenen Entnazifizierung gesungen wird, bei der sich Kommunisten wie Fritz Selbmann und Kurt Fischer rühmlich hervorgetan hätten (277 f.). Dass die KPD / SED die Entnazifizierung nicht zuletzt als Mittel zur Herrschaftsgewinnung und Herrschaftsabsicherung betrieb und die entsprechenden Maßnahmen zur Beseitigung und Ausschaltung politisch Andersdenkender jedweder Provenienz einsetzte, scheint der Autorin hingegen unbekannt zu sein. Diese Passagen wirken ebenso befremdlich wie die im selben Abschnitt wieder aufgewärmte pauschale These über die "Rolle deutscher Großindustrieller für die Machtergreifung 1933" (277), die auch durch ihre x-te Wiederholung nicht richtiger wird. Merkwürdig mutet auch Kellers Deutung für die 1952 erfolgte Aufhebung der Länder in der DDR an. Ihr zufolge habe diese Maßnahme einem langfristigen politischen Trend in Deutschland entsprochen: "In der DDR kulminierte dagegen der säkulare Prozess der Aushöhlung föderativer Strukturen unter den konkreten politischen Bedingungen in der Auflösung der Länder" (392). Dass es sich bei der Abschaffung der Länder in der DDR wohl weniger um die Exekution des Willens eines vermeintlich auf Zentralisierung gepolten Weltgeists gehandelt hat, sondern dies vielmehr eine weitere Etappe auf dem Weg zur endgültigen Etablierung totalitärer Machtstrukturen der SED darstellte, wird von Keller zwar erwähnt (393), bleibt für die genannte Bewertung aber folgenlos. Dieses Kapitel fällt hinter den Forschungsstand zurück, und es wäre besser gewesen, es entweder sehr viel sorgfältiger zu bearbeiten oder ganz wegzulassen.

Alles in allem muss das Fazit daher ambivalent ausfallen. Katrin Keller hat eine in vielerlei Hinsicht überzeugende Überblicksdarstellung zur Landesgeschichte Sachsens vorgelegt, in der die durch die Forschungslage gegebenen Möglichkeiten - mit Ausnahme der geschilderten Probleme in den kulturgeschichtlichen Teilen - zu einer sinnvollen und kenntnisreichen Abhandlung genutzt werden. Die einseitigen und in der vorliegenden Form teilweise unhaltbaren Ausführungen im Kapitel über die Geschichte Sachsens nach 1945 trüben dieses Bild freilich nicht unerheblich.

Anmerkungen:

[1] Vgl. http://www.isgv.de; http://rcswww.urz.tu-dresden.de/~lsge/index.htm; http://www.uni-leipzig.de/~historik/lehr/slg/index.htm.

[2] Joachim Bahlcke (Hrsg): Geschichte der Oberlausitz, Leipzig 2001; Thomas Nicklas: Macht oder Recht. Frühneuzeitliche Politik im Obersächsischen Reichskreis, Stuttgart 2002; http://www.sfb-frueheneuzeit.uni-muenchen.de/teilprojekte/c9.html.

[3] Rudolf Kötzschke / Hellmut Kretzschmar: Sächsische Geschichte, 2 Bde., Dresden 1935 (ND Augsburg 1995, Würzburg 2002); Karl Czok (Hrsg.): Geschichte Sachsens, Weimar 1989.

[4] Rainer Groß: Geschichte Sachsens, Berlin 2001. Vgl. hierzu die Rezension in sehepunkte 2 (2002), Nr. 2; http://www.sehepunkte.de/2002/02/2173.html.

[5] Katrin Keller: Kleinstädte in Kursachsen. Wandlungen einer Städtelandschaft zwischen Dreißigjährigem Krieg und Industrialisierung, Köln / Weimar / Wien 2001. Vgl. hierzu die Rezension in sehepunkte 2 (2002), Nr. 1; http://www.sehepunkte.de/2002/01/2176.html.

Ulrich Rosseaux