Rezension über:

Peter Galison: Einsteins Uhren, Poincarés Karten. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2003, 382 S., ISBN 978-3-10-024430-7, EUR 24,90
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Rezension von:
Falk Müller
Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Martina Heßler
Empfohlene Zitierweise:
Falk Müller: Rezension von: Peter Galison: Einsteins Uhren, Poincarés Karten. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/02/2701.html


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Peter Galison: Einsteins Uhren, Poincarés Karten

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Dass die Portraits von Einstein und Poincaré wie in Luftblasen eingeschlossen scheinbar unabhängig voneinander über den Schutzumschlag des Buches schweben, könnte als Seitenhieb gegen einige der bisher geschriebenen Geschichten über Einstein, Poincaré und die Entwicklung der speziellen Relativitätstheorie gelesen werden. Galisons Buch handelt nämlich nicht von zwei weltabgewandten Gelehrten oder frei schwebenden Geistern, die aus ihrem kontemplativen Kämmerlein heraus die Entstehung der modernen Physik am Anfang des 20. Jahrhunderts vorantrieben, sondern von zwei technisch versierten Praktikern, die es virtuos verstanden, abstrakte mathematische, philosophische und technische Fragen in Beziehung zu setzen und in ein geschlossenes System einzubinden. Auf dem Buchumschlag lässt sich bei genauerem Hinsehen daher ein dritter Protagonist identifizieren: Beide Portraits sind Elemente einer Maschine, sie sind eingebettet in die Konstruktionszeichnung einer Uhr, die Einstein während seiner Zeit beim Patentamt in Bern vermutlich zur Begutachtung vorlag. Symbolisch steht diese Einbettung für Galisons Versuch, den theoretischen Entwicklungen der mathematischen Physik am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts über die materielle auch eine lebensweltliche Basis zu geben und die historische Entwicklung der Relativitätstheorie aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

Man kann das Buch des Harvard Professors für Physik und Wissenschaftsgeschichte aber auch als eine Fortführung und - aus Sicht der professionellen Wissenschaftsgeschichte - vielleicht einzig richtige Antwort auf Dava Sobels Welterfolg "Longitude" ansehen, in dem es um eine folgenreiche, technologisch forcierte Verkettung von präziser Zeit- und Ortsmessung im 18. Jahrhundert geht. Wo mit Sobels Held, dem englischen Uhrmacher John Harrison, noch das Handwerk über die elitäre Wissenschaft der königlichen Astronomen obsiegte (vermutlich einer der Gründe für den Erfolg des Buches), stellt sich die bei Galison beschriebene Geschichte der weltweiten Synchronisierung lokaler Zeitsysteme Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als eine Gemeinschaftsarbeit dar, in der technische, physikalische und philosophische Fragestellungen und Fertigkeiten zur Synthese kamen und die in Poincaré und Einstein zwei vielseitig befähigte Vordenker und Vermittler fand. Die verschiedenen Versuche, Zeit entlang von Eisenbahn- und Telegrafenlinien, über die Ozeane oder einfach nur zwischen zwei Uhren innerhalb eines Stadtgebietes zu transportieren, werden von Galison anhand verschiedener Beispiele anschaulich dokumentiert. Galison zeigt, dass sich Zeit weder allein in Uhrwerken verkörpern, noch im Zeitparameter physikalischer Gleichungen eindeutig bestimmen lässt: Dies belegen die vielfältigen und beunruhigenden Probleme, die bei der globalen Vernetzung und beim Versuch der Synchronisierung verschiedener lokaler Zeitsysteme auftraten. Auch wenn der Einsatz von weltweiten Telegrafenverbindungen die Grundlage für eine sich immer weiter verfeinernde Technologie der Synchronie oder, wie Galison es ausdrückt, ein "Polygon der Simultanität" (142) schuf, ließ sich das Ziel einer global gültigen Zeitnorm vorerst nicht verwirklichen.

An diese "Maschine von 40000 Tonnen" (144) - gemeint ist das globale Telegrafennetz um 1880 - waren natürlich eine Reihe weiterer Bedingungen und Konsequenzen geknüpft; es bildete ein zusammenwachsendes globales Gebilde, das neben den Telegrafenleitungen aus Präzisionsuhren in astronomischen Instituten, aus Eisenbahnlinien und einer Reihe von standardisierten kulturellen und sozialen Praktiken bestand, die aufeinander abgestimmt werden mussten. Solche Bestrebungen waren weder einfach zu organisieren noch leicht durchzusetzen, weil beispielsweise die Telegrafenleitungen durch das Britische Empire und dessen utilitaristische Pragmatik kontrolliert wurden. Die Synchronisierung der Zeit stand auch im Schatten wirtschaftlicher und militärischer Bedürfnisse. Die Koordination der verschiedenen Bedürfnisse und Anforderungen wurde durch eine Reihe von nationalen und internationalen Kommissionen betrieben, die sich über die Physiognomie der Zeit (die Franzosen wollten ein "rationales", vollständig dezimales Zeitsystem haben) ebenso Gedanken machten wie über die Orte, an denen die Zeit gehütet werden oder ihren geografischen Anfang nehmen sollte. Einstein und Poincaré haben beide auf ihre Weise an dieser Koordinationsarbeit mitgewirkt.

Galison hat schon in seiner Auseinandersetzung mit den komplexen Interaktionen zwischen Militär, Politik, Experimentatoren, Technikern und Theoretikern in der Hochenergiephysik des 20. Jahrhunderts - in seinem Buch 'Image and Logic' - die so genannten "trading zones" eingeführt, (Ver-)Handlungsräume, in denen verschiedene gesellschaftliche Gruppen trotz unterschiedlicher Vorstellungen und Sprachen eine gemeinsame Kommunikation aufbauen können. Dies geschieht beispielsweise, indem sie eine Art Pidgin-Dialekt entwickeln oder den Forschungsgegenständen und Instrumenten als "wordless creoles" eine Bedeutungsstruktur geben, auf die verschiedene Gruppen zugreifen und über die sie kommunizieren können. Poincaré war eine derjenigen Personen, die solche polysemantischen Angebote unterbreiten konnten. Nach Galison arbeitete er einen "neuen Zeitbegriff heraus und zeigte, dass er den Regeln dreier verschiedener Spiele genügte: der Geodäsie, der Philosophie und der Physik" (215). Die von Galison bevorzugte Historiografie verbindet über eine zwischen verschiedenen Personen und Personengruppen gemeinsam verwaltete materielle Kultur nicht nur zwei Charaktere und deren Ideen, sondern sie spannt auch ein Netzwerk aus Forschern und Technikern, Forschungen und Techniken, Maschinen und Ideen auf, die sich auf diese Weise orientieren, einordnen und objektivieren lassen.

Die von Einstein und Poincaré formulierte Absage an die absolute Zeit ist verbunden mit der Verkörperung und "Materialisierung" einer neuen Zeitkonstruktion, die sich im Rahmen der Formulierung der speziellen Relativitätstheorie als dasjenige verbindende Glied herausstellte, mit dem philosophische, physikalische und technische Fragestellungen in einen gemeinsamen Raum gestellt und von unterschiedlichen Gruppen diskutiert und produktiv bearbeitet werden konnten. Dieses Zeitkonstrukt resultierte aus der einfachen Frage, was Simultanität bedeutet, den physikalischen Problemen bei der Schaffung einer "Mechanik", die vom Bezugssystem unabhängig ist, und letztendlich aus den Problemen bei der technischen Umsetzung von "Gleichzeitigkeit" beziehungsweise bei der Schaffung eines globalen Zeitsystems. In gewisser Weise hat diese Arbeit an der Zeit in der Relativitätstheorie Einsteins ein Monument gefunden, das die vergänglichen Strukturen der Telegrafensysteme überdauert hat, dessen Entwicklung sich ohne diese Denkhilfe vielleicht aber nicht verstehen lässt. Die lebensweltliche Einbindung in die neue Zeitordnung, der unmittelbare Kontakt mit der Zeitmaschinerie, die Beschwerden einiger Zeitgenossen des ausgehenden 19. Jahrhunderts über winzige Abweichungen der öffentlichen Uhren von der Standardzeit mögen ihren Beitrag zum "Zeitalter der Nervosität" geleistet haben. Der populäre Erfolg von Einsteins Relativitätstheorie mag ihren Grund daher auch in der beruhigenden Einsicht gehabt haben, dass die universelle Zeit in übermenschlichen Maschinerien oder Formalismen aufgehoben wurde, während den Individuen eine individuelle Interpretation der "Eigenzeit" zugestanden werden konnte.

Falk Müller