Rezension über:

Soraya de Chadarevian: Designs for Life. Molecular Biology after World War II, Cambridge: Cambridge University Press 2002, XIX + 423 S., ISBN 978-0-521-57078-7, GBP 35,00
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Rezension von:
Thomas Wieland
Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte
Redaktionelle Betreuung:
Martina Heßler
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Wieland: Rezension von: Soraya de Chadarevian: Designs for Life. Molecular Biology after World War II, Cambridge: Cambridge University Press 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/02/3623.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "50. "Geburtstag" des Doppelhelix-Modells" in Ausgabe 4 (2004), Nr. 2

Soraya de Chadarevian: Designs for Life

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Der Molekularbiologie wird für die Zukunft eine ähnliche Schlüsselstellung vorausgesagt, wie sie die Physik im 20. Jahrhundert innehatte. Dabei geht es nicht nur um das Verständnis von Lebensvorgängen auf molekularer Ebene. Im Vordergrund steht vielmehr das innovative Potenzial eines Forschungsfeldes, das heute bereits in viele Bereiche der Gesellschaft hineinspielt - von der Medizin über die Landwirtschaft bis zur Verbrechensbekämpfung. Als Ausgangspunkt dieser Entwicklung gilt weithin die Aufklärung der DNS-Struktur durch James Watson und Francis Crick im Jahr 1953. Ihr Modell der Doppelhelix ist zu einem eingängigen und weit verbreiteten Symbol von Naturdurchdringung und Naturbeherrschung geworden.

Der Frage, wie die Molekularbiologie diese prominente Stellung erlangen konnte, geht Soraya de Chadarevian in ihrem Buch "Designs for Life" nach. Zur Beantwortung hat sie eine Lokalstudie verfasst. In deren Zentrum steht das britische Medical Research Council (MRC) Laboratory for Molecular Biology, an dem Watson und Crick ihr Modell entwickelten. Das Labor wurde 1947 durch den MRC und auf Initiative des Physikers und Kristallografen Lawrence Bragg als MRC Unit for the Study of Molecular Structure of Biological Systems am renommierten Cavendish Laboratory der Universität Cambridge errichtet. Unter der Leitung von Max Perutz stieg es schnell zu einem führenden Zentrum der Proteinkristallografie auf, das zahlreiche Forscher aus dem Ausland, vor allem den USA, anzog. Im Verlauf institutioneller Neuordnungen wurde die stark expandierende MRC Unit Anfang der 60er-Jahre aus dem Physikdepartment herausgelöst und unter ihrem heutigen Namen als eigenständige Forschungseinheit der Universität etabliert.

Mit dem MRC Laboratory for Molecular Biology hat de Chadarevian einen herausragenden Ort molekularbiologischer Forschung gewählt. In der langen Liste der Nobelpreisträger, die aus dem Labor hervorgegangen sind, finden sich neben Watson und Crick die Namen von Perutz, John Kendrew, Frederick Sanger, César Milstein und Georges Köhler. Eine Institutionengeschichte ist "Designs for Life" aber nicht. Die Autorin sieht vielmehr die Chance, durch eine Lokalstudie die Genese eines neuen Wissenschaftsfeldes im Schnittpunkt von Forschungspraxen, institutionellen und politischen Aushandlungsprozessen sowie öffentlicher Inszenierung von Wissenschaft verständlich zu machen.

Das Buch, das systematische und chronologische Gliederung gelungen miteinander verbindet, entfaltet in drei Teilen ein fassettenreiches Bild der Molekularbiologie in der Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 70er-Jahre. Unter dem Titel "Postwar Reconstruction and Biophysics" analysiert der erste Teil die Rolle des Krieges für die Entfaltung biophysikalischer Forschung in den späten 40er- und 50er-Jahren. Zur Biophysik gehörten viele jener Forschungsansätze, die später der Molekularbiologie zugerechnet wurden, etwa die Strukturaufklärung der Proteine. Deutlich wird in der Analyse, dass in Großbritannien biophysikalische Arbeiten in der Nachkriegszeit stark von den gewandelten Rahmenbedingungen ziviler Forschung profitierten. Darunter fielen die wachsenden Forschungsausgaben des Staates und eine Aufwertung der Grundlagenforschung, die als Schrittmacher des technischen Fortschritts verstanden wurde. Die Biophysik konnte speziell auch aus der öffentlichen Wahrnehmung der Physik Gewinn ziehen, schien sie doch der "Physik des Todes", die mit den Atombombenabwürfen verbunden wurde, eine "Physik des Lebens" entgegenzusetzen. "Physik des Lebens" war ein Bild, das nicht zuletzt von den biophysikalisch arbeitenden Forschern in der Öffentlichkeit lanciert wurde, besonders eindrucksvoll - wie de Chadarevian vorführt - auf der Brüsseler Weltausstellung von 1958.

Die Inszenierung von Wissenschaft im öffentlichen Raum, auf Ausstellungen und im Fernsehen, die von Biophysikern und Molekularbiologen mit großem Elan betrieben wurde, entsprach einem neuen wissenschaftlichen Selbstverständnis. Folgt man de Chadarevian, so lagen dessen Wurzeln im Zweiten Weltkrieg. Durch den Einsatz in der Kriegsforschung konnten Wissenschaftler nicht nur wertvolle Verbindungen in die staatliche Administration und die Industrie knüpfen. Sie erwarben auch eine ganze Reihe von Fähigkeiten, die ihnen später bei ihren Forschungen - der Arbeit in interdisziplinären Teams oder der strategischen Positionierung ihrer Interessensgebiete - zugute kamen. Die Autorin verdeutlicht das exemplarisch an einigen Karrieren der ersten Wissenschaftlergeneration an der MRC Unit.

Im zweiten Teil ihres Buches, der mit "Building Molecular Biology" überschrieben ist, analysiert de Chadarevian die Herausbildung der Molekularbiologie zu einem abgegrenzten Forschungsfeld. Als Ausgangspunkt nimmt sie die von Wissenschaftshistorikerinnen und Wirtschaftshistorikern verstärkt formulierte Kritik an der Vorstellung, die Strukturaufklärung der DNS-Doppelhelix habe gleichsam automatisch zu einer großflächigen Neuausrichtung biophysikalischer und -chemischer Forschungsarbeiten geführt und sei daher der Ursprung der Molekularbiologie. Die Autorin konfrontiert die scheinbar inhärente Logik dieser Entwicklung mit der Kontingenz historischer Prozesse und öffnet sie dadurch für neue Interpretationen. So betont de Chadarevian zum Beispiel die institutionellen Unsicherheiten, die 1953 der Weggang von Bragg aus Cambridge auslöste. Ohne den einflussreichen Förderer wurde die Verortung der Biophysik im Physikdepartment zunehmend infrage gestellt. Die Institutionalisierung molekularbiologischer Forschung in einem eigenständigen Forschungsinstitut, eben dem 1962 eröffneten MRC Laboratory of Molecular Biology, kann dann als Antwort auf diese Herausforderung verstanden werden. Sie wurde ermöglicht durch die strategische Koalition der Wissenschaftler an der MRC Unit mit dem Team von Sanger, der bei den Biochemikern beheimatet war. De Chadarevian will nicht die wissenschaftliche Leistung von Watson und Crick schmälern. Indem sie die Kontingenzen in der Entwicklung der Molekularbiologie aufzeigt, kann sie jedoch die Gleichsetzung der DNS-Strukturaufklärung mit dem Beginn der Molekularbiologie als eine retrospektive Zuschreibung kenntlich machen, die der Komplexität des Feldes nicht gerecht wird.

Durchaus aufschlussreich ist hier das nur noch teilweise rekonstruierbare Schicksal des (physisch greifbaren) Modells, an dem Watson und Crick erstmals die Doppelhelix-Struktur der DNS aufzeigten. Es steht in einem viel sagenden Kontrast zum Doppelhelix-Mythos. Nach dem Umzug in das neu eröffnete MRC Laboratory geriet das Modell zunächst weitgehend in Vergessenheit und wurde überdies stark beschädigt. Teile davon gelangten dann mit dem Umzug eines Labormitglieds nach Bristol, wo sie 1976 durch Zufall von einer Mitarbeiterin des Science Museum unter dessen Arbeitsmodellen entdeckt wurden. Mittlerweile hatte die DNS-Doppelhelix im öffentlichen Bewusstsein stark an Bedeutung gewonnen, nicht zuletzt Dank des von Watson 1968 publizierten Buchs über ihre Entdeckung. Das Science Museum erwarb die gefunden Modellteile, die in einer (etwas zu groß geratenen) Nachbildung des Originals verarbeitet wurden. Nachdem das "restaurierte" Modell vom Science Museum erstmals in der Ausstellung 'Living Molecules' der Öffentlichkeit präsentiert worden war, gelangte es schließlich in die ständige Ausstellung des Museums - nunmehr als eingängiges Symbol für die Erfolge der Molekularbiologie.

Im dritten Teil, der "Benchwork and Politics" betitelt ist, geht de Chadarevian schließlich der Forschungskultur am MRC Laboratory sowie den wissenschaftlichen und politischen Strategien nach, mit denen die dortigen Wissenschaftler ihr Forschungsfeld auf nationaler und internationaler Ebene zu verankern suchten. Einer der vielen Aspekte, die sie dabei aufgreift, ist die Frage nach der interdisziplinären Zusammenarbeit. Interdisziplinarität wurde und wird als Voraussetzung erfolgreicher molekularbiologischer Forschung angesehen. Ein hoher Stellenwert wurde ihr auch am MRC Laboratory eingeräumt, baulich beispielsweise durch eine Kantine, die als abteilungsübergreifender Treff- und Kommunikationsort für das wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Personal gedacht war. De Chadarevian interpretiert diese Kantine als "trading zone" (Peter Gallison).

Wie de Chadarevian an mehreren Beispielen zeigt, konnten die Molekularbiologen aus Cambridge erfolgreich ihre Forschung auf die politische Agenda der britischen Regierung setzen. Dieser Erfolg war allerdings zweischneidig. Denn den Ressourcen, die sie über die Politik mobilisierten, standen neuartige Erwartungen gegenüber, die sich insbesondere auf das wirtschaftliche Potenzial der Molekularbiologie richteten. Das betraf letztlich auch die Forschungskultur am MRC Laboratory, die in den späten 70er- und 80er-Jahren einem wachsenden Kommerzialisierungsdruck ausgesetzt war.

Mit "Designs for Life" hat Soraya de Chadarevian ein ebenso spannendes wie anregendes Buch vorgelegt, das den Leserinnen und Lesern die Stärken eines lokalen Forschungsansatzes vor Augen führt. Hervorgehoben sei abschließend noch die reiche Bebilderung, die einem die Geschichte der Molekularbiologie auch visuell näher bringt.

Thomas Wieland