Rezension über:

Hope M. Harrison: Driving the Soviets up the Wall. Soviet-East German Relations, 1953-1961 (= Princeton Studies in International History and Politics), Princeton / Oxford: Princeton University Press 2003, 345 S., 3 Karten, ISBN 978-0-691-09678-0, GBP 28,95
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Rezension von:
Hermann Wentker
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Wentker: Rezension von: Hope M. Harrison: Driving the Soviets up the Wall. Soviet-East German Relations, 1953-1961, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/02/4124.html


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Hope M. Harrison: Driving the Soviets up the Wall

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Trotz der unbestrittenen Dominanz der Sowjetunion im sowjetisch-ostdeutschen Verhältnis konnte unter bestimmten Umständen auch die DDR hier einen maßgebenden Einfluss gewinnen. Während der zweiten Berlin-Krise gelang es der DDR-Führung, die eigene Schwäche in Verhandlungsmacht umzuwandeln und Moskau von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Berliner Mauer zu errichten. Diese These hat Hope Harrison bereits in ihrer 1993 verfassten, in Deutschland schwer zugänglichen Dissertation vertreten. Die grundlegend überarbeitete, durch sowjetische und ostdeutsche Archivalien ergänzte, die neueste Literatur einbeziehende Arbeit liegt nun gedruckt vor.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Möglichkeit Ulbrichts, Chruschtschow in der Berlin-Krise unter Druck zu setzen, war die 1953 getroffene, endgültige Entscheidung für den Erhalt der DDR. Die prekäre Situation des ostdeutschen Satelliten nötigte Moskau zu einer weitgehenden wirtschaftlichen Unterstützung Ost-Berlins. Mit der ambitionierten Zielsetzung Chruschtschows, die DDR zum Modell und Schaufenster des Sozialismus zu entwickeln, wurden nicht nur die sowjetischen Hilfslieferungen gesteigert; für die DDR bedeutete dies zusätzlich einen deutlichen Positionsgewinn in ihrem Verhältnis zur Sowjetunion.

An der Formulierung des Berlin-Ultimatums hatte Ulbricht - Harrison zufolge - keinen Anteil - die Umwandlung West-Berlins in eine freie Stadt war vielmehr eine originäre Idee Chruschtschows. Im Verlauf der Berlin-Krise, die entgegen der Erwartung des KPdSU-Generalsekretärs nicht zu einem Einlenken des Westens führte, zeigte sich, wie sehr die Ziele des sowjetischen und des ostdeutschen Parteichefs divergierten. Chruschtschows Ziel, die DDR zu stabilisieren, indem West-Berlin in eine entmilitarisierte, freie Stadt umgewandelt wurde, deren Zugangswege unter ostdeutscher Kontrolle standen, rückte in den Hintergrund, als der Westen sich zu Verhandlungen über Berlin und die deutsche Frage in Genf bereit fand. Wichtiger wurde ihm nun, den Dialog mit den USA auf möglichst hoher Ebene zu pflegen, um zu einem allgemeinen Arrangement mit der anderen Weltmacht zu gelangen. Daher ließ er die Sechs-Monatsfrist seines Ultimatums verstreichen, in der Hoffnung, dass die Zeit für ihn arbeiten würde.

Ulbrichts Absicht hingegen bestand unverändert in der Stabilisierung des ostdeutschen Staates, am besten durch einen Separatfrieden mit der Sowjetunion (mit dem Chruschtschow gedroht hatte) oder zunächst durch eine Schließung des Schlupflochs Berlin. Dabei stand Ulbricht durch den nach Auslösung der Berlin-Krise angeschwollenen Flüchtlingsstrom zwar selber unter erheblichem Druck. Er konnte jedoch in der Krise seine Position der Schwäche dazu nutzen, um mehr Wirtschaftshilfe von der Sowjetunion herauszuschlagen und durch die Errichtung der Mauer in Berlin eine seiner wesentlichen Forderungen zu erfüllen. Mit ihrer detaillierten Darstellung veranschaulicht Harrison, wie sehr Chruschtschow in seinem Bestreben, den Dialog mit der anderen Supermacht nicht zu gefährden, durch Zusagen, einen Separatfrieden mit der DDR abzuschließen, falls sich die USA nicht bewege, seinen eigenen Handlungsspielraum einengte.

Ulbrichts Strategie bestand zum einen darin, Chruschtschow immer wieder die katastrophale wirtschaftliche Situation in der DDR deutlich vor Augen zu führen. Zum anderen griff er seit September 1960 zu einseitigen, nicht mit der Sowjetunion abgesprochenen Maßnahmen an der Sektorengrenze. Zunächst wurde Westdeutschen und West-Berlinern der Besuch Ost-Berlins ohne einen Besucherschein des DDR-Innenministeriums untersagt. Ab dem 21. September maßte sich die DDR auch Kontrollrechte gegenüber westlichen Diplomaten an, die Ost-Berlin oder die DDR betreten wollten. Wie Harrison darlegt, war Moskau über diese Schritte äußerst verärgert; Ulbricht gab jedoch nicht klein bei, sondern verteidigte sein Vorgehen gegenüber Chruschtschow. Parallel dazu begann er, wohl ab Oktober 1960, mit Planungen zur Abriegelung der Sektorengrenze in Berlin, ohne freilich sein Primärziel, den Abschluss eines sowjetisch-ostdeutschen Separatfriedensvertrags, aufzugeben.

Chruschtschow setzte weiter auf den Dialog mit den USA und einigte sich mit Präsident Kennedy auf ein Gipfeltreffen am 3./4. Juni 1961 in Wien. Dies ermöglichte es Ulbricht, den Druck weiter zu verstärken, und zwar mit Erfolg. Wenngleich auch Harrison mangels zugänglicher sowjetischer Dokumente kein Licht auf die Entscheidungsfindung in Moskau werfen kann, so steht inzwischen doch fest, dass die Anordnung zur Errichtung der Mauer Anfang Juli 1961 vom sowjetischen Botschafter Perwuchin an Ulbricht übermittelt wurde. Die Entscheidung war also deutlich vor der Tagung der Ersten Sekretäre der Warschauer-Pakt-Staaten (3.-5. August 1961) gefallen. Unmittelbar vor deren Beginn einigten sich Ulbricht und Chruschtschow auf das Datum des Mauerbaus. Auf der Tagung selbst sollte der Beschluss zum Mauerbau durch die anderen Ostblockführer abgesegnet und so der Eindruck erweckt werden, dass dies eine gemeinsame Entscheidung gewesen sei; außerdem sollten diese dazu gewonnen werden, der DDR, die mit massiven Lieferausfällen im innerdeutschen Handel rechnete, mit weiteren Hilfszusagen unter die Arme greifen.

Ulbricht hatte mit dem Mauerbau jedoch nur sein Minimalziel erreicht. Auch nach dem 13. August 1961 drängte er gegenüber Moskau auf den zügigen Abschluss eines Separatfriedens. Einmal noch, am 22. Oktober 1961, versuchte die DDR durch Kontrollmaßnahmen gegenüber einem Mitglied der Berliner US-Mission, die Sowjetunion unter Druck zu setzen. Sie provozierte damit zwar die Konfrontation amerikanischer und sowjetischer Panzer am Checkpoint Charlie, kam ihrem Ziel jedoch nicht näher. Moskau verweigerte Ost-Berlin den heiß ersehnten Separatfrieden. Harrison beschränkt sich gegen Ende ihrer lesenswerten Untersuchung auf die Feststellung, dass Ulbrichts Einfluss nach dem Mauerbau wieder abnahm, da nach der "Lösung" der Flüchtlingskrise die sowjetischen und ostdeutschen Interessen nicht länger kongruent waren und Chruschtschow außerdem endgültig genug von den Forderungen Ulbrichts hatte. Dabei übersieht sie, dass Moskau mit der Abriegelung der Grenze wieder die strategische Führung übernahm. Nach der sowjetischen Zustimmung zum Mauerbau fehlte Ulbricht das entscheidende Druckmittel gegenüber Chruschtschow, sodass dieser nun keine Notwendigkeit mehr sah, dem SED-Generalsekretär entgegenzukommen. Die Gewichte im sowjetisch-ostdeutschen Verhältnis hatten sich damit wieder zugunsten Moskaus verschoben; die Zeiten, in denen der Schwanz mit dem Hund gewedelt hatte, waren unwiderruflich vorbei.

Hermann Wentker