Rezension über:

Uwe Heckmann: Die Sammlung Boisserée. Konzeption und Rezeptionsgeschichte einer romantischen Kunstsammlung (= Neuzeit & Gegenwart. Philosophie in Wissenschaft und Gesellschaft), München: Wilhelm Fink 2003, 405 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-3766-2, EUR 35,90
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Rezension von:
Iris Benner
Kölnisches Stadtmuseum / Museum am Ostwall, Dortmund
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Iris Benner: Rezension von: Uwe Heckmann: Die Sammlung Boisserée. Konzeption und Rezeptionsgeschichte einer romantischen Kunstsammlung, München: Wilhelm Fink 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 3 [15.03.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/03/2723.html


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Uwe Heckmann: Die Sammlung Boisserée

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In seiner Dissertation von 1996, die in überarbeiteter Druckfassung mit dieser Publikation vorliegt, hat sich Uwe Heckmann mit der Konzeption und der Rezeptionsgeschichte einer Privatsammlung in der Epoche der Romantik befasst: jener Kollektion "altdeutscher" Malerei, welche die Brüder Melchior (1786-1851) und Sulpiz Boisserée (1783-1854) gemeinsam mit ihrem Freund Johann Baptist Bertram (1776-1841) zwischen 1804 und 1827 zusammengetragen haben. Das breit angelegte Studium zeitgenössischer Quellen entrollt erstmalig ein aufschlussreiches Panorama des ideengeschichtlichen Hintergrunds, der das Zustandekommen einer solchen Sammlung ermöglicht hat. Dies ist für die Forschung besonders relevant, da es sich bei den von den beiden Kölner Kaufleuten zusammengetragenen Objekten um die erste deutsche Spezialsammlung mittelalterlicher Bildwerke handelte und somit in den stilistischen und inhaltlichen Formen ihrer Konzeption und Rezeption neue Maßstäbe gesetzt wurden.

Der erste große Abschnitt des Buches ist der Sammlungskonzeption gewidmet. Heckmann sieht die Bildungsgeschichte der Brüder Boisserée (23-59) als entscheidende Grundlage ihrer Sammeltätigkeit und des Aufbaus ihrer Sammlung an und beginnt folgerichtig mit ihrer Darstellung. Die Kunstliteratur um 1800, mit Wilhelm Wackenroder und Ludwig Tieck, die - im Kontrast zur säkularisierten Gegenwart - in der mittelalterlichen Kunst das Ideal christlicher Frömmigkeit verkörpert sah, hat dabei ebenso Einfluss auf die Sammler gehabt wie die Veröffentlichungen von Friedrich Schlegel, der unter anderem die Kunstentwicklung als Folge von herausragenden Künstlerpersönlichkeiten interpretierte. Aber auch der von diesen emphatischen Autoren völlig verschiedene Ansatz Johann Wolfgang von Goethes, der klar zwischen Kunstwahrheit und Naturwirklichkeit unterschied und das Kunstwerk als Einheit, die nicht über sich selbst hinausweisen muss, betrachtete, wird von Heckmann in Hinblick auf seine Bedeutung für die Sammlung Boisserée untersucht. Zur "Bildungsgeschichte" gehören auch so unterschiedliche Eindrücke wie die Paris-Reise der Sammler in den Jahren 1803-04, während der sie die Revolutionsmuseen besuchten, und die Schlegelschen Vorlesungen in Köln und Paris (1803-08), mit ihrem christlich-religiösen Philosophie-, Geschichts- und Kunstbegriff, der als Ideal die Wiederherstellung eines mittelalterlich-katholischen Kaiserreichs vor Augen hatte.

Im Anschluss zeichnet Heckmann ein vielschichtiges Bild der Kunstanschauung des Sulpiz Boisserée (59-72), wobei ihm dessen Tagebücher und die 1862 von der Witwe herausgegebenen Briefe als unerschöpfliche Quellen dienen. Hier wird klar, dass der Sammler eine "überhistorische Begründung der Kunst in und durch die Religion" (60) suchte und daher den "Künstler als 'Gefäß Gottes', der nicht willkürlich, sondern im göttlichen Auftrag schafft" (63), betrachtete.

Folgerichtig schließt sich dann die Sammlungsgeschichte (72-99) an, die mit der Säkularisation einsetzt, durch die religiöse Kunstgegenstände aus ihrem liturgischen Zusammenhang gerissen und als Sammelobjekte freigesetzt wurden. Interessanterweise beginnt mit der Überführung in die private Sammlung aber eine Art Re-Sakralisierung der Kunstwerke: Im Rahmen der romantisch-nationalistisch verklärenden Mittelalter-Rezeption werden die Objekte im Sinne einer nationalen spirituellen Erneuerung von den Sammlern zu Zeugnissen einer intakten Idealwelt und zu "Heilsbringern" stilisiert. Entsprechend beschreibt Heckmann die "Öffentlichkeitsarbeit der Brüder Boisserée, mit der sie versuchten, die von ihnen in der Sammlung präsentierte Ansicht der deutschen Kunstgeschichte in ihrem Sinne zu popularisieren und ins öffentliche Kulturbewusstsein zu heben" (106).

"Daher erstaunt es nicht, dass die Brüder Boisserée, und hier vor allem Bertram, ihre Bildersammlung auch als eine Kirche begreifen und sich selbst als die Inhaber eines 'apostolischen' Amtes" (120). Dies zeigt sich auch in der von Heckmann sehr prägnant beschriebenen Art der Präsentation, mit der die Brüder Boisserée seit ihrem Umzug nach Heidelberg im Jahre 1809 ihre Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich machten: Die Betrachter warteten auf Stuhlreihen sitzend bis vor ihnen Einzelstücke der Sammlung theatralisch enthüllt und kommentiert wurden.

Damit beginnt die von Heckmann im zweiten großen Abschnitt untersuchte Rezeptionsgeschichte der Sammlung Boisserée. Sein Schwerpunkt liegt hier - in Anlehnung an Heinrich Dilly [1] - auf der Frage: "Wie lässt sich die 'im Laufe der Jahrhunderte veränderte Präsenz der als Kunstwerke anerkannten Objekte' erfassen und inwieweit spiegeln sie Stationen innerhalb einer 'Geschichte des Sehens'?" (127). Sich dieser Frage nähernd, untersucht Heckmann im Kapitel "Die Sammlung als ambientaler Kontext: Erkenntnisraum, Kunsttempel und 'idealische Welt'" (130-149) zunächst die zeitgenössischen Beschreibungen der Sammlungspräsentation und kommt dabei zu dem interessanten Ergebnis, dass die Galerie-Erfahrung von der Erwartungshaltung der Besucher abhängt: "Vom Erkenntnisraum, der die Werke in ihrer geschichtlichen Folge sieht- und erfahrbar macht, über den Tempel, in den die romantische Kunstreligion einzieht, bis hin zur 'Idealischen Welt', die die eigene künstlerische Produktivität zu wecken vermag" (147).

Es schließt sich die ausführliche Untersuchung der "Kanonisierung des Schreibens über die Sammlung Boisserée" (149-203) an. Von den ersten Sammlungsberichten - dem 1810/11 verfassten Manuskript der Dichterin Wilhelmina von Chézy und der Publikation der Dichterin Amalie von Helvig 1812/13, die beide gleichermaßen schwärmerisch-religiös verfasst waren - bis hin zu den nüchtern analytischen Bildbeschreibungen Goethes spannt sich hier der Bogen. Hinzu treten die Sammlungsbeschreibung Johanna Schopenhauers aus dem Jahr 1818 und die Gutachten der vom preußischen, württembergischen und bayerischen Königshaus gesandten Experten (unter anderem Friedrich Schinkel und Georg von Dillis), die anlässlich des beabsichtigten Verkaufs die Sammlung besichtigten.

Anhand von zwei Bildbeispielen - dem "Schweißtuch der heiligen Veronika" (Meister der heiligen Veronika, um 1420) und dem "Columba"-Altar (Rogier van der Weyden, um 1455) - untersucht Heckmann anschließend ebenso effizient wie gründlich die "Rhetorik der Bildbeschreibungsverfahren" (203-225) und kommt zu dem Schluss: "Das Bild wird entweder nur als künstlerische Form ohne religiösen Gehalt (Goethe) oder aber als religiöser Gehalt ohne künstlerische Form (Chézy, Helvig, Boisserée, Schopenhauer) beschrieben" (215). Auf der Grundlage weiterer zeitgenössischer Rezeptionszeugnisse teilt der Autor die Sammlungsbesucher schließlich in die drei Kategorien "Empathiker", "Techniker" und "Historiker" ein, wobei sich die "Historiker" als "neuer Betrachtertypus" mit den "Fähigkeiten des Kunsthistorikers" erweisen, der erstmalig bei Gustav Friedrich Waagen greifbar wird: "das Sehen geht über in ein Lesen und die Galerie wird als Bild-Archiv genutzt" (246).

Im abschließenden Kapitel zur "Kunstgeschichte als 'Erinnerungsraum'" (301-349) ist besonders der Abschnitt zur Kritik an der Sammlung Boisserée interessant, da die Kollektion auf Grund ihrer religiös-rückwärts gewandten Ausrichtung von einigen Zeitgenossen als Gegenbewegung zu den Idealen der Aufklärung begriffen wurde. Diese mit den zuvor zitierten positiven Stimmen kontrastierende Ansicht rundet eine gelungene und lesenswerte Studie zur Sammlungstheorie des frühen 19. Jahrhunderts ab. Mit dem zwölf Seiten umfassenden Verzeichnis der zeitgenössischen Rezeptionsdokumente und der umfangreichen Bibliografie gibt Heckmann auch zukünftigen Forschern ein gutes Rüstzeug an die Hand. Leider sind die wenigen und ausschließlich schwarz-weißen Abbildungen von minderer Qualität, dies tut jedoch der vom Autor zusammengetragenen Informationsfülle keinen Abbruch.

Anmerkung:

[1] Heinrich Dilly: Kunstgeschichte als Institution. Studien zur Geschichte einer Disziplin, Frankfurt 1979.

Iris Benner