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Michael Kaiser: Ländliche Gesellschaft in der Vormoderne. Einführung, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/07/forum/laendliche-gesellschaft-in-der-vormoderne-86/

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Ländliche Gesellschaft in der Vormoderne

Einführung

Von Michael Kaiser

Die Erforschung der ländlichen Gesellschaft in der Vormoderne erlebt zweifelsohne eine Blütezeit. Wichtige Impulse sind in den vergangenen Jahren von der "Arbeitsgruppe Gutsherrschaft" um Jan Peters ausgegangen. Daneben gibt es aber auch in Österreich, in England, den USA und anderswo Forschergruppen, die sich, meist gut miteinander vernetzt, dieser Thematik widmen. Die sehepunkte haben immer wieder Publikationen zu diesem Themenkreis vorgestellt, zuletzt die Sammelbände von Markus Cerman / Hermann Zeitlhofer sowie von Jan Klußmann in der Ausgabe 4 (2004), Nr. 1 (http://www.sehepunkte.de/2004/01/4796.html). In diesem Forum finden sich Bücher höchst unterschiedlichen Zuschnitts, die exemplarisch die ganz Bandbreite der Thematik, vor allem aber auch das innovative Potential dieser Forschungen präsentieren.

Anhand eines böhmischen Beispiels, nämlich der Herrschaft Krumau, lässt Pavel Himl die derzeitigen Tendenzen der Forschung erkennen. Die Gutsherrschaft war, wie schon seit einiger Zeit betont wird, keineswegs eine eindeutige und leicht überschaubare Konstruktion; vielmehr erwiesen sich die ländlichen Herrschaftsverhältnisse als überaus komplex. Die obrigkeitliche Gewalt stieß rasch an ihre Grenzen und war auf "intermediäre Verwaltungsstrukturen" angewiesen. In den Fokus rückt damit die Gemeinde, die "'Schnittstelle' zwischen Gutsherrschaft und untertäniger Gesellschaft" (Markus Cerman). Zur Sprache kommen mit der dörflichen Selbstverwaltung kollektive Autonomiebereiche der Gemeinde, aber auch individuelle Handlungsspielräume sowohl gegenüber der Gemeinde als auch gegenüber der Herrschaft spielen eine große Rolle.

Historische Individuen werden für die Forschung vor allem durch Devianzen und Konflikte erkennbar. Dies zeigt sich bereits in Himls Studie zu Krumau, wird im Sammelband zu den "Streitkulturen" in der ländlichen Gesellschaft aber mit großer Konsequenz zum Ansatz erhoben. Eine Fülle von Einzelfällen stellt verschiedene Formen des Konflikts und Konfliktaustrags dar. Ein Schlüsselbegriff ist die Gewalt, verstanden als "kulturell codiertes und historisch wandelbares Konflikthandeln" (Gerd Schwerhoff). Wichtig erscheinen zudem Fragen nach der Legitimität von Gewalt sowie den Möglichkeiten der Konfliktlösung. An dem Punkt tauchen auch immer wieder die Herrschaftsverhältnisse im ländlichen Raum auf, nicht nur in Konflikten der Untertanen mit der Herrschaft, sondern auch bei innerdörflichen Streitfällen.

Fragen der Herrschaft, ihrer Visualisierung, Etablierung und Verfestigung thematisiert auch die Studie von Alexander Schunka. Er stellt die Jagd in den Mittelpunkt seiner Betrachtung und fasst sie als ein "Mittel zur herrschaftlichen Erfassung des Raumes, eine Art 'Raumdurchdringung'" (Ursula Löffler), auf. Letztlich habe die Jagd die Bildung des Untertanenverbandes befördert. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Autor den Wahrnehmungsfragen, hier vor allem denen der ländlichen Bevölkerung. Wie Bauern ihre Herrschaft, aber auch die Natur erlebten, ist das erkenntnisleitende Interesse. Schunka konstatiert differente Wahrnehmungen, weist aber zugleich darauf hin, dass die "wechselseitige Aneignung kultureller Praktiken" diese Vorstellungen aneinander annäherte.

Es mag zunächst verwundern, in diesem Rahmen eine Besprechung einer "Geschichte der Freiheit in Deutschland" (s. Untertitel) einzubinden. Doch in seinem neuesten Werk leitet Peter Blickle die Entwicklung der Menschenrechte aus dem Institut der Leibeigenschaft ab. Und da die vormoderne Welt vor allem ländlich geprägt war, stellt die "auf den ersten Blick ungewohnte These" (so Wolfgang Schmale in seiner Rezension) auch einen Aspekt dieses Themas dar. Zudem wird in Auseinandersetzung mit Blickles Ansatz einmal mehr deutlich, dass die ländliche Gesellschaft nicht nur rückwartsgewandt und repressiv war, sondern auch den Keim des Zukünftigen, vielleicht gar des Modernen in sich trug.

Eine Bilanzierung der Forschungsergebnisse ist momentan kaum möglich. Dafür befinden sich zu viele Projekte im Fluss, erscheinen viele Fragen noch nicht hinreichend geklärt. Wohl aber sind Tendenzen erkennbar, die an vielen Stellen der neueren Studien durchscheinen. Da ist zum einen eine wachsende Fragmentierung, insofern in zunehmendem Maße Mikrostrukturen untersucht werden. Dörfliche Autonomie und sogar Individuen werden vielfach immer deutlicher wahrgenommen - gerade der Selbstbehauptungswille der ländlichen Bevölkerung und die vielfältigen Möglichkeiten dazu brechen die Vorstellung festgefügter Verhältnisse auf. Überhaupt erscheinen Herrschaftsverhältnisse deutlich komplexer, mitunter auch fragiler als lange angenommen. All diese Erkenntnisse sind auf der Basis von exemplarischen Arbeiten gewonnen worden, die einzelne Regionen, oft aber auch singuläre Gutsherrschaften oder gar Einzelfälle thematisieren.

Es bleibt die Frage, ob sich irgendwann diese punktuellen Studien zu einer generalisierenden Erkenntnis oder These synthetisieren lassen. Dazu mag eine nochmalige Erweiterung des Blickfelds beitragen: Gerd Schwerhoff konstatiert in seiner Besprechung die Notwendigkeit, "über die eherne Grenze um 1800 hinaus(zu)gehen", um somit historischen Wandel und Beharrung besser zu erkennen und vor allem auch neue Maßstäbe für die (Neu-)Bewertung verschiedener, vorgeblich vormoderner Phänomene zu gewinnen. Als gewichtige Bestätigung für dieses Plädoyer mag die Studie von Blickle gelten.

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