Rezension über:

Eva-Maria Landwehr: Neubarock. Architektur und Ausstattungskonzepte süddeutscher Sakralbauten um 1900, Osnabrück: Der Andere Verlag 2003, 386 S., 74 s/w-Abb., ISBN 978-3-89959-120-0, EUR 41,90
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Christian Hecht
Institut für Kunstgeschichte, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Redaktionelle Betreuung:
Stefanie Lieb
Empfohlene Zitierweise:
Christian Hecht: Rezension von: Eva-Maria Landwehr: Neubarock. Architektur und Ausstattungskonzepte süddeutscher Sakralbauten um 1900, Osnabrück: Der Andere Verlag 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 10 [15.10.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/10/5761.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Eva-Maria Landwehr: Neubarock

Textgröße: A A A

Die Erforschung der neubarocken Sakralarchitektur hat in den letzten Jahren bemerkenswerte Fortschritte gemacht, dennoch gibt es noch viele Neuentdeckungen zu machen. Die Kirchen, die in der vorliegenden Publikation behandelt werden, gehören sicher dazu. Doch die Verfasserin will nicht nur einige bisher kaum behandelte Bauten vorstellen, sie will vielmehr einen generellen Zugang zum sakralen Neubarock in Süddeutschland geben.

Am Beginn steht ein ausführlicher erster Teil zur Bewertung des Barockstils im 19. und 20. Jahrhundert (25-100). Die Verfasserin schafft auf diesen Seiten die Folie, vor der sich die sehr späte Rezeption des Barock in der Sakralkunst abheben kann. Eine wichtige Rolle spielt die Kunstgeschichtsschreibung (50-53), die sich mit Cornelius Gurlitt, Robert Dohme und anderen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer positiveren Würdigung des Barock durchringen konnte. Trotz der Schwierigkeit, die disparaten Prozesse in der Bewertung des Barock kurz zusammenzufassen, sind der Verfasserin hier sehr instruktive Seiten gelungen. Natürlich muss auch das Problem "Kirchenbau und Stilfragen" (54-76) behandelt werden, das seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert - bis heute - für die Sakralarchitektur bestimmend ist. Auch wenn im 19. Jahrhundert Neuromanik und Neugotik überwogen, gab es doch schon in der ersten Jahrhunderthälfte eine erstaunliche Stilvielfalt. Bekannt sind die byzantinisierend-frühchristlichen Bauten, die in Bayern und Preußen errichtet wurden; eine recht große Bedeutung hatten aber auch klassizistische Formen, die etwa in der Repräsentation des päpstlichen Hofes bis weit ins 20. Jahrhundert vorherrschten. Und die barocken und barockisierten Bauten waren ja immer noch vorhanden, sie bestimmten natürlich vor den Regotisierungen und Reromanisierungen die kirchliche Architektur viel stärker als heute. Und man hat auch damals den Barock nicht nur abgelehnt, wie etwa Peter Kraffts Wiederherstellung (1832-1834) von Andrea Pozzos Fresken in der Wiener Jesuitenkirche beispielhaft zeigt.

Die Verfasserin betont in den einleitenden Passagen vielleicht etwas zu stark die organisatorische Schwäche der Kirchen; so wird man kaum sagen können, dass es durch die Säkularisation zur "Abschaffung der autoritären Amtskirche" (55) gekommen wäre und dass man sich deshalb in eine verklärte Vergangenheit hätte zurückversetzen wollen. Der von Landwehr selbst immer wieder angestellte Vergleich mit der Profanarchitektur legt stattdessen nahe, dass man nicht zu leicht von historistischen Formen auf eine rückwärts gewandte Gesinnung schließen darf. Man könnte auch auf die Verwendung historistischer Formen im Bereich der Sozialdemokratie verweisen. Bei der Behandlung der einzelnen Fallbeispiele wird dann auch erkennbar, dass sich die Verfasserin dieses Problems sehr bewusst ist.

Ein weiterer wichtiger Aspekt wird unter der Überschrift "Konfessionelle Differenzierungsbestrebungen und die Suche nach 'dem' Kirchenbaustil" (58-65) behandelt. Die Schwierigkeiten, die hier darzustellen sind, lagen unter anderen darin, dass für die protestantischen Konfessionen die mittelalterlichen und vormittelalterlichen Stile "katholisch" sind, der Barock aber im 19. Jahrhundert oft als "jesuitisch" verstanden wurde. Ein einheitlicher protestantischer Kirchenbaustil - schon gar kein lutherischer oder reformierter oder unierter - wurde daher nicht gefunden, auch gelang es nicht, eindeutige Unterscheidungsmerkmale von katholischen Kirchen zu finden. Die Stilfragen wurden am Ende des Jahrhunderts mit dem "Weg in die Moderne" (65-69) immer drängender. Der Barock erschien wegen seiner günstigen Raumformen als Ausweg, das heißt für die Erfordernisse einer Pfarrkirche - welcher Konfession auch immer - eigneten sich einschiffige Hallen- und Wandpfeilerkirchen sowie zentralisierende Bauten besser als mehrschiffige Basiliken. Landwehr stellt im Kapitel "Ansätze zur Wiederentdeckung des Barockstils in der protestantischen Kirchenbautheorie" (69-76) deutlich heraus, dass die "Wiederentdeckung des Wertes der sakralen Barockarchitektur für die zeitgenössische Kirchenbaukunst [...] das Verdienst der protestantischen Kirchenbauliteratur" (71) ist. Angesichts der tatsächlichen Raumbedürfnisse einer protestantischen Predigtkirche muss man sich eigentlich wundern, dass es bis ins ausgehende 19. Jahrhundert gedauert hat, bis es zur Rezeption barocker Bauformen kam.

Nach diesen grundsätzlicheren Überlegungen kreist die Verfasserin ihr Thema geografisch immer mehr ein, indem sie das folgende Kapitel mit "München als Zentrum des Neubarocks in Süddeutschland" (77-99) überschreibt. Hier wurden mit dem neubarocken Justizpalast Friedrich von Thierschs entscheidende stilistische Weichen gestellt. Auch die Denkmalpflege, deren Bedeutung die Verfasserin unterstreicht, kam schon 1885 mit der Erweiterung der Heiliggeistkirche (78-79) zum Zuge. Eine große Rolle spielten auch der damalige Münchener Pfarrkirchenbau (83-85). In München entstanden damals zum Beispiel die Pfarr- und Kapuzinerklosterkirche St. Josef (1898-1902) von Hans Schurr und die Pfarrkirche St. Margaret in München-Sendling (1901-1913) von Michael Dosch. Es handelte sich jeweils um Bauten, die sich klar an der Jesuitenkirche St. Michael orientieren und damit angesichts des noch nachklingenden Kulturkampfes tatsächlich ein kirchenpolitisches Signal setzen. Entsprechend gestaltete etwa auch Johann Baptist Schott seine riesige Altöttinger Wallfahrtsbasilika, wie er selbst sagt, "nach Art der mustergültigen Jesuitenkirchen" [1], das heißt wiederum nach dem Vorbild von St. Michael. Ausgehend von derartigen Bauten schildert die Verfasserin den neubarocken Kirchenbau in der Zeit zwischen 1900 bis 1920 (87-96), wobei sie an das Ende dieser Überlegungen eine terminologische Darlegung über "Heimatstil, Landschaftsstil, Lokalstil und Neubarock" (96-99) anschließt. Sehr treffend konstatiert sie die - theoretische - "Aufwertung des ländlichen Raums" (97), wie er sich etwa auch in der evangelischen Dorfkirchenbewegung widerspiegelt. An diesen Punkt ließen sich dann allerdings weitgehende ideologiekritische Überlegungen anschließen - doch kann das nicht Aufgabe einer kunsthistorischen Arbeit sein.

Im zweiten Teil der Untersuchung (103-271) werden fünf sehr klug ausgewählte Bauwerke behandelt: die Wallfahrtskirche Mariae Opferung in Baumgärtle, die evangelische Garnisonkirche in Ludwigsburg, die evangelische Himmelfahrtskirche in München-Pasing, die katholische Pfarrkirche St. Andreas in Nesselwang sowie die katholische Stadtpfarrkirche Mariae Unbefleckte Empfängnis in Vohenstrauß. Ohne dass an dieser Stelle diese fünf sehr gelungenen Kapitel referiert werden könnten, lässt sich doch feststellen, dass es der Verfasserin gelingt, ausgehend von ihrer, nur auf den ersten Blick schmalen Materialbasis allgemeinere Schlüsse zu ziehen. Sie arbeitet im besten Sinne exemplarisch. Ohne dass man in jedem Falle zustimmen müsste, wird doch bestens erkennbar, welche Möglichkeiten in einer solchen Vorgehensweise liegen, wenn sie sich wie hier auf solides Quellenstudium stützt. Die Qualitäten dieses zweiten Hauptteils sind offensichtlich, neben den grundlegenden Archivarbeiten müssen dabei unbedingt auch die sehr genauen Architekturbeschreibungen hervorgehoben werden. Aus den hier gewonnenen Ergebnissen erwächst auch das Fazit der gesamten Arbeit: "Gemeinsam aber hatte alle diese [...] Kirchen, was den Barockstil in den Augen ihrer Erbauer und Entwerfer auszeichnete: Vorbildhaftigkeit und Modernität im Sinne übersichtlicher Raumformen und Unverbrauchtheit der Formen" (280).

Das Buch ist ein Dissertationsdruck, der typografisch durchaus über dem Durchschnitt liegt. Die 74 Abbildungen erleichtern dem Leser, der wohl normalerweise kaum eines der Bauwerke kennt, sich eigene Vorstellungen von den behandelten Kirchen zu machen. Leider fehlt ein Register, das gerade angesichts der Tatsache, dass hier doch wesentlich mehr als nur fünf Kirchen untersucht werden, sehr nützlich gewesen wäre. Den Verantwortlichen des "anderen Verlages" möchte man den Rat geben, ihre Bücher wie andere Verlage auch mit einem Impressum auszustatten sowie Erscheinungsort und -jahr aufs Titelblatt zu drucken.

Das Fazit bleibt trotz der genannten Kleinigkeiten außerordentlich positiv. Die Untersuchung von Eva-Maria Landwehr ist ein wichtiger Schritt bei der Erforschung des sakralen Neubarock.

Anmerkung:

[1] Johannes Fahmüller: Der Architekt Johann Baptist Schott. Phil. Diss. Bonn 1992, Bd. 2, 249.

Christian Hecht