Rezension über:

Norbert Schneider: Geschichte der Genremalerei. Die Entdeckung des Alltags in der Kunst der Frühen Neuzeit, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2004, 222 S., 8 Farb-, 130 s/w-Abb., ISBN 978-3-496-01296-2, EUR 29,90
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Rezension von:
Thomas Fusenig
Essen
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Fusenig: Rezension von: Norbert Schneider: Geschichte der Genremalerei. Die Entdeckung des Alltags in der Kunst der Frühen Neuzeit, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 1 [15.01.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/01/4956.html


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Norbert Schneider: Geschichte der Genremalerei

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Die Geschichte der Genremalerei vor dem Hintergrund der kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Frühen Neuzeit und in einer europäischen Perspektive zu behandeln, ist ein Desiderat. Die zahlreichen jüngeren Einzeluntersuchungen ersetzen nicht den Überblick, den die knapp 200 Seiten Text und zahlreichen Abbildungen versprechen. Mit dem schon seit Jacob Burckhardt üblichen Verweis auf die Schwierigkeiten näherer Definition wird dabei das Feld der Genremalerei abgesteckt als Darstellung des Alltagslebens der niederen Stände (Bürgertum, Bauern, Outcasts) (7). In kurzen Kapiteln werden Landwirtschaft, Handwerk und Gewerbe, Handel und Verkauf, Eheschließung, Festkultur und Spiele und vieles mehr behandelt. Mit Verweis auf die satirische und didaktische Rolle solcher Darstellungen wird die Genremalerei als quasi-obrigkeitliches Medium der gesellschaftlichen Veränderungen ("Formationsprozesse") gedeutet, das im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus neue Werte und Verhaltensnormen verinnerlichen sollte (11, 16-17).

Neue kunsthistorische Forschungen, "unter denen die ikonologische Methode besonders hervorzuheben ist" werden mit der "strukturanalytisch angelegten Sozial- und Kulturgeschichte und einer darauf aufbauenden Mentalitätsgeschichte" verbunden (9). Die Einbettung kunsthistorischer Spezialforschungen in den weiteren Horizont der Geschichtswissenschaft wäre sehr wünschenswert. Doch gebiert die Kombination von Ikonologie und Mentalitätsgeschichte im vorliegenden Buch erstaunlicherweise einen kaum getrübten Materialismus, der sich mit den Ideen des Zivilisationsprozesses und der Sozialdisziplinierung verbindet. Durchgängig wird der ökonomische Unterbau der Gesellschaft als Ursache der sozialen und kulturellen Verhältnisse angeführt, welche die Darstellung von Themen aus der Alltagswelt prägten. Es sei dahin gestellt, ob diese sozialdeterministische Position in einer marxistischen Tradition wurzelt. [1] Die Methode verstellt jedenfalls den Blick auf einige kunsthistorische Fragen, deren Beantwortung sich die meisten Leser wünschen dürften.

Warum, wo und wann entstand so etwas wie die Genremalerei als abgrenzbare Bildkategorie? Wie wandelte sich die Kategorie im Laufe der Zeit? Und inwieweit beeinflussen gattungsspezifische Darstellungstraditionen den historischen Quellenwert? Die thematische Gliederung des Buches impliziert, dass es eine abgrenzbare Bildgattung im untersuchten Zeitraum nicht gab. Nur so lässt sich verstehen, dass die Genremalerei in eine umfangreiche Liste von profanen, untereinander lose verbundenen Motiven aufgelöst wird. Dabei deutet doch alles als Wiege und Kinderstube dieser Gattung auf die südlichen Niederlande, besonders Antwerpen, kurz vor der Mitte des 16. Jahrhunderts hin - bereits ein Gemeinplatz der älteren kunsthistorischen Literatur. [2]

Bedeutsam ist dieser Entstehungszusammenhang, weil die exportorientierte Antwerpener Kunstproduktion die Erwartungen auch in anderen Teilen Europas beeinflusste. Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Verbindungen mit Norditalien und Spanien muss die Vorbildrolle von Joachim Beuckelaer und Co. für den in Cremona ansässigen Vincenzo Campi (Abbildung 76, Farbabbildung VI), den in Mailand tätigen Bartolomeo Passerotti oder die zu diesem Zeitpunkt noch in Bologna lebenden Gebrüder Carracci (Abbildung 13, 77) nicht verwundern. [3] Auch auf die Malerei am Prager Hof strahlte die Gattungs-Innovation aus. [4] Das gilt - in Interaktion mit den inzwischen in Italien gemalten Bildern - ebenfalls für die etwas späteren Gemälde des jungen Velázquez (Abbildung 47). Von alledem ist im Buch nicht die Rede.

Wird man dem Buch vielleicht eher gerecht, wenn man es als Einführung in die sozialhistorische Betrachtung frühneuzeitlicher Alltagsbilder betrachtet? Leider verfehlt es auch dieses Ziel, da man sich auf seine sachlichen Aussagen nicht verlassen kann. So zeigt die erste Abbildung im Kapitel "Verkehr und Reisen" einen Holzschnitt mit einer eselreitenden Frau, die eine Unmenge von Hausgerät, ein Kind in der Wiege und zahlreiche Haustiere mit sich führt und obendrein noch mit Spinnen beschäftigt ist (Abbildung 53). Ihr Mann begleitet sie zu Fuß. Die ausführliche Interpretation als Darstellung einer Familie, die auf Grund des liederlichen Lebenswandels der Frau vertrieben wurde, ist Unsinn. Tatsächlich illustriert die um 1420 entstandene Darstellung "Metz Unmuss" (Frau Unmuße). Die übereifrige und vieles gleichzeitig verrichtende Hausfrau gehört "zu der großen Schar von verspotteten Charaktereigenschaften" in der spätmittelalterlichen Literatur, "zur Gruppe von Frau Seltenfried, Heinz Widerporst, Neidhart und wie sie alle mit redenden Namen heißen". [5]

Der Abschnitt "Medizin und Liebespein" behandelt holländische Bilder der so genannten Jungfernkrankheit. Die Unpässlichkeit der jungen Frauen wird vom Autor auf unerlaubte Schwangerschaft zurückgeführt (185-188, 143). Das fällt vor dem Hintergrund der bereits 1987 vorgestellten ikonografischen Untersuchung der "Jungfernkrankheit" von Einar Pettersson - zurückhaltend formuliert - weit hinter den Forschungsstand zurück. [6]

Das Kapitel "Handel und Verkauf" vertritt eine weitgehend erotische Interpretation niederländischer Darstellungen von Handel und Verkauf (84-87). In dem als einzigen Beleg angeführten Artikel von E. de Jongh wurden zwar keine so weit reichenden Schlussfolgerungen gezogen, das sei aber einmal hintangestellt. [7] Die Argumentation fährt dann mit einem Anflug von Jargon fort: "Vergleicht man nun z.B. in Spanien, wo sich kapitalistische Verhältnisse in nur geringem Maße entwickelt hatten, gemalte Marktszenen mit gleichzeitig entstandenen holländischen, so lässt sich hier eine derartige Erotisierung von Handel und Verkauf kaum feststellen. Velázquez' 'Wasserverkäufer von Sevilla' (um 1619-20, Abbildung 47) etwa wirkt demgegenüber ernst und würdevoll. Ein ähnliches Moment der von der Fetischisierung der Waren ausgehenden Verdinglichung ist nicht wahrnehmbar" (88). Hatten sich die "kapitalistischen Verhältnisse" ausgerechnet in Sevilla, Drehscheibe des europäischen Handels mit Mittel- und Südamerika, Zielort der spanischen Silberflotte, bedeutendste Hafenstadt des um 1600 modernsten Territorialstaates Europas noch nicht entwickelt? Vom vermeintlich gesellschaftlich begründeten Unterschied der Darstellungsweise bleibt nichts übrig, wenn man Alejandro de Loartes 1626 gemalte "Vogelhändlerin, die von einem Jüngling bezahlt wird" in einer Privatsammlung in Madrid vergleicht. Auch bei Murillo gibt es Dirnen auf dem Markt. [8]

Das Vertrauen in die Sorgfalt der Recherche und der Argumentation wird hier und an vielen anderen Stellen untergraben. Die mit 22 Seiten üppig ausgefallene Bibliografie wiegt die Mängel des Textes nicht auf. Neben vor allem allgemeiner historischer Literatur führt sie einige Quellentexte, Werkverzeichnisse, Bestands- und Ausstellungskataloge auf. Spezifische Beiträge zur Genremalerei sind deutlich in der Minderheit. Seltsamerweise wird das im gleichen Verlag erschienene Buch von Barbara Gaehtgens (Hg.): Genremalerei (= Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren; Band 4), Berlin 2002, nicht genannt. Man vermisst wichtige Titel, wobei sich zeigt, dass die im Vorwort (15) versprochene Internationalität nur oberflächlich eingelöst wurde. [9]

Wie man es dreht und wendet: Das Buch hält nicht, was der Titel verspricht. Es ist kein Überblick über die Geschichte der Genremalerei, denn es bietet keine Darstellung ihrer historischen Entwicklung. Auch als Einführung in die Darstellung des Alltags in der Frühen Neuzeit ist es ungeeignet. Dazu enthält es zu viele inhaltliche und argumentative Mängel. Das Buch zielt in seiner Aufmachung auf interessierte Laien, Kunstgeschichtsstudenten und Forscher aus benachbarten Disziplinen, die sich schnell zum Thema informieren wollen. Unausgesprochene methodische Voraussetzungen, die mangelnde Einbettung in den Forschungsstand und der autoritative Duktus werden wohl manchen von ihnen in die Irre führen.


Anmerkungen:

[1] Kritik an sozial deterministischer Kunst- und Kulturgeschichtsschreibung wurde bereits von anderen Autoren formuliert; Ernst H. Gombrich: Kunstgeschichte und Sozialwissenschaft, in: derselbe: Krise der Kulturgeschichte. Gedanken zum Wertproblem in den Geisteswissenschaften, Stuttgart (1979) 1983, besonders 146-185.

[2] Jacob Burckhardt: Über die niederländische Genremalerei (1874), in ders.: Die Kunst der Betrachtung. Aufsätze und Vorträge zur Bildenden Kunst, herausgegeben von Henning Ritter, Köln 1984, 335-379, besonders 343-44; Max Julius Friedländer: Essays über die Landschaftsmalerei und andere Bildgattungen, Den Haag, Oxford 1947, 191- 286, besonders 199-200; Francine Legrand: Les peintres flamands de genre au XVIIe siècle, Brüssel 1963, 10-14 (fehlen sämtlich in der Bibliografie).

[3] Vgl. an etwas entlegener Stelle Hans-Joachim Raupp: 'Pitture ridicole' - 'Kleine Sachen': Zur Genremalerei in den romanischen Ländern, in: Zwei Gesichter der Eremitage - Band 2, Von Caravaggio bis Poussin, Ausstellungskatalog Bonn 1997, 58-68 (fehlt in der Bibliografie).

[4] Thomas DaCosta Kaufmann: 'Gar lecherlich': Low-life painting in Rudolfine Prague, in: Prag um 1600 - Beiträge zur Kunst und Kultur am Hofe Rudolfs II., herausgegeben von E. Fuciková, Freren 1988, 33-38 (fehlt in der Bibliografie).

[5] Otto Kurz: Metz Unmuss, in: Zeitschrift für Schweizerische Kunstgeschichte und Archäologie, Band 14 1953, 86-88.

[6] Einar Petterson: 'Amans Amanti Medicus': Die Ikonologie des Motivs 'Der ärztliche Besuch', in: Holländische Genremalerei im 17. Jahrhundert. Symposium Berlin 1984, herausgegeben von Henning Bock und Thomas Gaehtgens, Berlin 1987, 193-224 (in der Bibliografie ist der Band aufgeführt!) Vgl. inzwischen Einar Petterson: Amans amanti medicus: das Genremotiv "Der ärztliche Besuch" in seinem kulturhistorischen Kontext, Berlin 2000.

[7] Eddy de Jongh: Erotica in vogelperspectief. De dubbelzinnigheid van een reeks zeventiende-eeuwse genrevoorstellingen, in: Simiolus, Band 3, 1968/69, 22-74. Die weitgehende erotische Deutung früher Markt- und Küchenstücke vertrat erst Ethan Matt Kavaler: Erotische Elementen in der Markttafereelen van Beuckelaer, Aertsen en hun tijdgenoten, in: Ausstellungskatalog Joachim Beuckelaer. Het markt- en keukenstuk in de Nederlanden 1550-1650, Gent 1986/87, 18-26.

[8] Marianna Haraszti-Takàcs: Spanish genre painting in the 17th century, Budapest 1983, Kat. 48, 174-175 (zum Bild in Madrid); Jonathan Brown: Murillo, pintor de temas eroticos - una faceta inadvertita de su obra, in: Goya, Band 169-171 1982, 35-42 (fehlt in der Bibliografie).

[9] Den Verweis auf das Kapitel "Dal comico al genere" in dem 1962 erstmals publizierten Buch von Eugenio Battisti, "L'Antirinascimento" vermisse ich am meisten. In der erweiterten Ausgabe Turin 1989 bieten die ergänzten Fußnoten eine Fundgrube weiterführender Literatur (Band 2, 911-943). Ebenso anregend ist der Ausstellungskatalog Over wilden en narren, boeren en bedelaars. Beeld van de andere, vertoog over het zelf, von Paul Vanderbroeck, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Antwerpen 1987.

Thomas Fusenig