Rezension über:

Annette Geiger: Urbild und fotografischer Blick. Diderot, Chardin und die Vorgeschichte der Fotografie in der Malerei des 18. Jahrhunderts, München: Wilhelm Fink 2004, 192 S., 47 Abb., ISBN 978-3-7705-3974-1, EUR 32,90
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Rezension von:
Carolin Meister
Kunsthistorisches Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Alexis Joachimides
Empfohlene Zitierweise:
Carolin Meister: Rezension von: Annette Geiger: Urbild und fotografischer Blick. Diderot, Chardin und die Vorgeschichte der Fotografie in der Malerei des 18. Jahrhunderts, München: Wilhelm Fink 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 1 [15.01.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/01/5147.html


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Annette Geiger: Urbild und fotografischer Blick

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Wohl kaum ein künstlerisches Œuvre ist so nachhaltig durch seine Reflexion in der zeitgenössischen Kritik geprägt worden, wie die Malerei Chardins durch die Schriften Diderots. Insbesondere die Stillleben des Künstlers wurden immer wieder als Embleme jener Kunstkritik aufgerufen, die mit Diderot, wie es schien, nur anhob, um die Worte an den Klippen der sinnlichsten Malerei zerschellen zu lassen. Annette Geigers ambitioniertes Buch fügt sich in diese Reihe - allerdings, um der bekannten Stellung von Bild und Sprache eine neue These abzugewinnen. Gestützt auf Vilém Flussers Philosophie der Fotografie entdeckt sie in ihr jene Konstellation, welche die Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert an eine Krisis der Texte bindet. Das Ende der Tradition der Ekphrasis geht demnach schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Entstehung einer neuen Art von Bildlichkeit einher: Chardin und Diderot malen und schreiben ein Stück Vorgeschichte der Fotografie. "Urbild und fotografischer Blick" versteht sich als eine Rekonstruktion dieser zugleich ideellen und ästhetischen Vorgeschichte, die den medien- und technikgeschichtlichen Aspekt mit entschiedenem Gestus in den zweiten Rang verweist.

Die Rekonstruktion dieser Vorgeschichte basiert auf der Grundannahme, dass die Genese dessen, was die Autorin als "fotografischer Blick oder Effekt" (8) tituliert, sich nicht auf technische Entwicklungen stützt, sondern vielmehr einem Umbruch in der ästhetischen Theorie und Praxis zu verdanken ist. In der Malerei Chardins - so die These - findet diese Wendung zum Fotografischen ihre erste visuelle Demonstration, während sich in der Kritik Diderots im gleichen Zuge eine fotografische Rhetorik avant la lettre artikuliert. Das fotografische Verfahren stellt damit nichts anderes als den technischen Nachvollzug und verspäteten automatisierten Erfüllungsgehilfen eines ästhetischen Postulats dar, das sich in den Diskursen und der Malerei nach 1750 unabhängig von technischen Dispositiven ausgebildet hat: "Die Malerei ahnte mit ihren ureigensten Mitteln und Verfahren voraus, was die Fotografie später technisch vollziehen wird." (8) Unbeachtet bleibt mit der These von der ästhetischen Präfiguration fotografischer Technik allerdings die Tatsache, dass sich die Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert einem gänzlich anderen epistemologischen Kontext verdankt.

Inwiefern kann das chardinsche Œuvre "als konsequente Ausarbeitung des fotografischen Effektes" (65) angesehen werden? Das zweite Kapitel des dreiteiligen Buches, "Chardins Stillleben und die Grenzen der Beschreibungskunst" widmet sich dieser Darlegung. Dabei enthüllt die Betrachtung der Malerei Chardins im Licht der Fotografie weniger neue Aspekte, als dass sie eine konsequente Perspektivierung bereits bekannter Charakteristika anbietet: Die Bedeutungslosigkeit der Gegenstände, die Abwesenheit narrativer Intentionen und die Vereinfachung der Komposition sind in gleichem Maße Indizien eines fotografischen Paradigmas wie die zunehmende Auflösung der Raumkoordinaten, die Verflachung der Volumen oder die Enthierarchisierung der malerischen Behandlung. Auch die Aushebelung der tradierten Gattungshierarchie durch das Gespann Diderot-Chardin ist nach Geiger ein Symptom dieser frühreifen fotografischen Ästhetik, die nicht länger auf die Nobilität des Gegenstandes und künstlerische Erfindung abhebt, als vielmehr auf ein Verfahren der "Aufnahme", das dem Postulat von Wahrheit und Objektivität genügt.

Der Einsatz dieser These vor dem aktuellen Forschungshintergrund ist offenkundig: Chardin soll aus jenem naturwissenschaftlich gesättigten Klima herausgehoben werden, in dem ihn neuere Studien von Baxandall zu Terpak und von Schefer bis Crary präsentieren. Gegenüber jenem Künstler, der aufmerksam die Lektionen der Optik verfolgt, der die Einführung des Äthers in die Lehre der Dioptrik illustriert und Theorien der Lichtphysik in Malerei übersetzt, macht Geiger Chardin als den Entdecker der "Autonomie des Auges" (104) stark. Wenn sich die Betrachter seit Diderot darin einig waren, dass Chardin "das Sehen selbst" (94) malt, führt die Autorin gegen die naturwissenschaftliche Signatur dieses Sehens ein leider nur unscharf indiziertes ästhetisches Paradigma des Fotografischen ins Feld: Chardins "stumme Kompositionen" (Diderot) sind "fotografischer Blick" und "Urbild" zugleich. Denn sie geben eine reine Visualität, welche die Regression zu einem perzeptiven Stadium meint, das vor der Verbildung kulturell codierten Wissens liegt. "In diesem Blick", so Geiger, "entsteht eine Fotografie vor der Fotografie, noch ohne den entsprechenden Apparat konzentriert sie sich allein auf eine bestimmte Sehleistung des Auges." (104)

Der nicht zuletzt von Diderot beförderte Topos von der Wiedererlangung des - mit Geiger fotografischen - Urbildes durch eine "Aufklärung des Sehens" ist Gegenstand des dritten Kapitels. Die Konzeption des Auges als eines neutralen Aufnahmeapparats in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird als erste Operation einer Moderne dargestellt, welche die natürliche Augenleistung des Flachsehens gegenüber dem vom Tastsinn imprägnierten "zivilisierten Sehen" (115) rehabilitiert. Neben Chardins Malerei wird unter anderem auch Etienne Boullées Entwurf zum Newton-Kenotaph (1784) als Ausdruck dieses aufklärerischen Programms präsentiert. Lange bevor die Silbersalze zur Bildproduktion in Einsatz kommen, soll sich hier künstlerisch und diskursiv ein ästhetisches Konzept profilieren, welches das Auge als lichtempfindliche Platte versteht, die teilnahmslos Wahrnehmungsbilder registriert.

Zentral für die These von Annette Geiger sind die ästhetischen Schriften Diderots. Denn die schon im Titel genannte Verklammerung von "Urbild und fotografischer Blick" stützt sich vor allem auf eine Lektüre der diderotschen Wirkungsästhetik als Ausdruck eines fotografisch belegten Diskurses. Die zentralen Topoi seiner Kunstkritik werden dabei als Indizien einer um die Konzepte von Wahrheit und Authentizität kreisenden Ästhetik gelesen. Genau hier liegt eine der Stärken, aber auch eine der argumentativen Schwächen des Buches. Geiger liefert ausführliche Lektüren von Diderots ästhetischen Schriften, die nicht nur seine Anmerkungen zu Malerei, Theater und Briefroman umfassen, sondern auch seine Lektüre von Platons Höhlengleichnis. Problematisch an der Argumentation erscheint dabei die unbefragte Identifikation eines Wahrheitseffektes, der sich allem voran in einer kunstkritischen Rhetorik manifestiert, mit einer spezifischen Bildtechnik namens Fotografie.

Bereits der erste Teil des Buches stellt die Ästhetik Diderots ins Zeichen der Fotografie. Diese gibt sich insbesondere in Konzepten wie Natürlichkeit, Augenblickshaftigkeit, Teilnahmslosigkeit und Objektivität zu erkennen. Der Topos von der vierten Wand und das von Michael Fried herausgestellte Postulat der Absorption gerät ebenso in eine fotografische Perspektive, wie die - im Rekurs auf Lessings Medienästhetik gefestigte - "Genese der Momentaufnahme" (46) und Diderots Privilegierung des Briefromans: "Ob Schauspieler, bildender Künstler, Literat oder Kunstkritiker, der Autor übernimmt lediglich die neutrale Rolle einer Kamera bzw. einer Maschine, die aufnimmt, was ihre Rezeptoren wahrnehmen." (26) Die ideengeschichtliche Rückführung dieser quasi-fotografischen Topoi auf Diderots Platonlektüre bietet der letzte Teil des Buches: Diderots Ästhetik visiert eine "Aufklärung des Sehens", in der die ursprünglichen Kapazitäten des Augsinnes wieder zugänglich gemacht werden sollen. In der Malerei Chardins sieht Diderot diese flachen "Urbilder" inkarniert. Geigers Einsatz ist es, dieses aufklärerische Moment eines rein optischen, teilnahmslosen Sehens, das Diderot gegen die Subjektivismen einer verbildeten Wahrnehmung setzt, als fotografisches zu identifizieren. Diderot und Chardin geben im Sinne von "Urbild und fotografischer Blick" darum Höhlenausgänge der Bildgeschichte.

Carolin Meister