Rezension über:

Steven Merritt Miner: Stalin's Holy War. Religion, Nationalism, and Alliance Politics, 1941 - 1945, Chapel Hill, NC / London: University of North Carolina Press 2003, XXI + 407 S., ISBN 978-0-8078-2736-9, GBP 38,95
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Rezension von:
Katrin Boeckh
Osteuropa-Institut, München
Empfohlene Zitierweise:
Katrin Boeckh: Rezension von: Steven Merritt Miner: Stalin's Holy War. Religion, Nationalism, and Alliance Politics, 1941 - 1945, Chapel Hill, NC / London: University of North Carolina Press 2003, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 2 [15.02.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/02/3845.html


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Steven Merritt Miner: Stalin's Holy War

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Steven Merritt Miner, Professor für Geschichte an der Ohio University in Athens, Ohio, knüpft in gewisser Hinsicht an seine 1989 erschienene Monografie zu den britisch-sowjetischen Beziehungen unter Stalin an und beschäftigt sich in der nun vorgelegten Arbeit mit politischen Vorgängen in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges. Dabei stellt er religionspolitisch relevante und damit zusammenhängende Aspekte in den Vordergrund. Der Autor beschränkt sich fast ausschließlich auf die Rolle der Russischen Orthodoxen Kirche, der die meisten Gläubigen in der Sowjetunion angehörten und deren Bedeutung während des Krieges sowohl innerhalb der Sowjetunion als auch über ihre Grenzen hinaus größer war als diejenige der anderen religiösen Gemeinschaften. Das Buch stellt aber keine Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche und ihrer Angehörigen während des Krieges dar, sondern hebt die Frage der Religion aus ihrem theologischen Umfeld heraus und stellt sie in einen breiteren Zusammenhang mit der sowjetischen Politik allgemein sowie mit der staatlichen Propaganda und der internationalen Diplomatie im Besonderen.

Zu den Grundlagen der Studie gehören neben neueren Arbeiten und Editionen auch Bestände aus dem ehemaligen russischen Parteiarchiv in Moskau (jetzt: Russisches Zentrum für die Aufbewahrung und das Studium von Dokumenten der Zeitgeschichte, RCChIDNI) sowie aus dem Public Record Office in London.

Die Darstellung besteht aus drei längeren Teilen: Der erste, "Rediscovering the Utility of Tradition" (Kapitel 1-2), beleuchtet zunächst die Jahre 1939-1941. In dieser Zeit erweiterte die Sowjetunion im Zusammenspiel mit Hitler-Deutschland ihre Grenzen im Westen durch den Einmarsch in Ostpolen, durch die Besetzung des Baltikums, Bessarabiens und der Nord-Bukowina sowie - was im Text nicht erwähnt wird - durch die Einnahme Wiborgs und von Teilen Kareliens. Wie bereits unter den Zaren wurde die Russische Orthodoxe Kirche als Mittel zum Zweck der Russifizierung der neuen Gebiete im Westen eingesetzt. Mit dem Angriff Hitlers auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurden Kirchen zu einem Thema der Innenpolitik, mit dem die Bevölkerung zur Mobilisierung ihrer äußersten Reserven für den Krieg gewonnen werden sollte. Kirchenpolitik wirkte daher während des Stalinschen "Heiligen Krieges" im Sinne von Nationalitätenpolitik, sowohl um die nationale (groß)russische Idee zu fördern, als auch, um den nicht-russischen nationalen Bewegungen in den westlichen Gebieten zu begegnen.

Im zweiten Teil, "Fighting the Holy War", der sich über die Kapitel 3 bis 5 erstreckt, werden die Beziehungen zwischen dem Regime und der Russischen Orthodoxen Kirche von 1943 bis zum Kriegsende in den Mittelpunkt gerückt. Ausgangsdatum hierfür war, dass Stalin 1943 eine Bischofssynode zusammentreten und den Metropoliten Sergij (der 1927 eine Loyalitätserklärung gegenüber dem Regime abgegeben hatte und 1944 mit 78 Jahren verstarb) zum Patriarchen von Moskau und ganz Russland wählen ließ; Miner bezeichnet diesen Vorgang als "Konkordat" zwischen Stalin und dem Moskauer Patriarchen. Nach dem deutschen Rückzug wirkte die Russische Orthodoxe Kirche in den neuen Gebieten an der westlichen Grenze abermals als stützende Kraft bei der Etablierung des sowjetischen Systems. Gleichzeitig hatten die Zugeständnisse an die Kirchen in der Sowjetunion eine immer deutlichere Hinwendung der Bevölkerung zur Religion zur Folge, was das Regime in den Folgejahren dazu veranlasste, gegen diesen "inneren Feind" erneut zu Felde zu ziehen und die "nationalbolschewistische" Position zu verstärken.

Der dritte Teil mit dem Titel "Selling the Alliance" (gemeint ist die propagandistische Darstellung der sowjetisch-angloamerikanischen Allianz im Westen; Kapitel 6 bis 8) konzentriert sich auf die Wirkung der Propaganda im Ausland, die von der Behandlung der religiösen Frage in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges ausging. Diese internationale Komponente war für Moskau von nahezu vitaler Bedeutung, da das Regime während des Krieges nicht ohne materielle Hilfe aus dem Westen auskommen konnte. Während sich aber politische Kreise der Anti-Hitler-Koalition der westlichen Demokratien leichtherziger von ihrem bis vor kurzem noch bestehenden Feindbild verabschiedeten und sich zur Zusammenarbeit mit der Diktatur im Osten bereit fanden, waren es gerade kirchliche (vor allem katholische) Vertreter, die immer wieder davor warnten, eine Allianz mit Stalin einzugehen. Stalins Propaganda im Ausland, ausgeführt von der "Allunions-Gesellschaft für Kulturelle Beziehungen mit dem Ausland" (Vsesojuznoe Obščestvo Kul'turnych Svjazej, VOKS), von der Komintern, von der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS, vom Verlag "Meždunarodnaja kniga" (Internationales Buch), insbesondere aber vom Volkskommissariat für Staatssicherheit, musste daher campagnenartig die Erinnerung an die Verfolgung von Kirchen und Gläubigen zerstreuen und sie durch ein neues Image ersetzen, das die Verteidigung der christlichen Zivilisation durch die sowjetische Regierung beinhaltete. In Miners Bewertung verlief dieser in der Forschung bisher wenig beachtete Vorgang für die Sowjetunion erfolgreich. Insgesamt ist dieses Kapitel das spannendste der gesamten Arbeit, nicht nur, weil der Autor die Wirkung sowjetischer Propaganda konkret nachweisen kann, sondern auch, weil er darin die Perspektive auf die anglo-amerikanischen Verbündeten ausweitet und die Dynamik des Stalinschen Propagandaapparates beschreibt. Dabei kommt auch zum Tragen, welche kulturellen Perzeptionen die Sowjetunion über sich selbst weitergab und welche Unterschiede zu dieser in der britischen und US-amerikanischen Auffassung bestanden, wie der Informationsfluss während des Krieges gesteuert wurde und wie sich auch das britische Foreign Office für die Steigerung des sowjetischen Prestiges in Großbritannien einsetzte.

Von besonderem Interesse sind die Passagen über den Einsatz westlicher Journalisten in der Sowjetunion, die sich vor Ort über den Zustand der Religionsgemeinschaften überzeugen sollten und den sowjetischen Verblendungen unterlagen. Zu jenen, welche bereit waren, die Unterschiede zwischen dem sowjetischen Regime und den demokratischen Staaten zu verwischen, gehörte auch Alexander Werth, dessen Buch "Russia at War, 1941-1945" (New York 1964, deutsch 1965) noch immer mit voller Berechtigung zu den Standardwerken über den Zweiten Weltkrieg gehört. Im Juli 1941 erklärte Werth dem Britischen Außenministerium und Informationsministerium, "Russland" (gemeint ist die Sowjetunion) sei nur dem Namen nach ein kommunistisches Land. Die Schauprozesse unter Stalin in den dreißiger Jahren hätten Stalins "Realismus" gezeigt, als er sein Land damit von radikalen Kommunisten und potenziellen Quislingen befreit habe. Die britische Propaganda solle sich daher bei der Darstellung der Sowjetunion auf die Schilderung der reichen russischen Kultur konzentrieren (287-288).

In der Zusammenfassung zieht Miner aus der sowjetischen Religionspolitik Schlussfolgerungen hinsichtlich der inneren Situation des Landes zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, beschreibt, wie sich das sowjetische Selbstverständnis nach dem Triumph über NS-Deutschland veränderte und geht auf die Kontinuität politischer und sozialer Muster ein, die bis in die nachsowjetische Gegenwart wirken. Insbesondere der russische Nationalbolschewismus, mit dem sich Stalin ebenso camouflierte wie mit der angeblichen Religionsfreiheit, zeigt sich dabei in der Form eines russischen Nationalismus als besonders beharrliches Phänomen.

Die Studie verschränkt in charakteristischer Weise mehrere historiografische Ebenen: diejenige der traditionellen politischen Geschichte, diejenige der Diplomatiegeschichte und diejenige der Sozialgeschichte. Die Abkopplung der Analyse religionspolitischer Gegenstände von der religiösen und auch heilsgeschichtlichen Sphäre, in deren Zusammenhang sie oftmals gesehen werden, ist ein Kennzeichen des Neuansatzes jüngerer Untersuchungen zur Religionsverfolgung in kommunistischen Staaten. Diese Sichtweise erweist sich als sehr produktiv, da die politische Rolle der Religionsgemeinschaften schärfer fokussiert wird und dadurch auch das Bild der realen Situation der Gläubigen in einem autoritär geleiteten Staat an Klarheit gewinnt.

Natürlich erzählt Miner die Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche nicht völlig neu. Viele Einzelheiten sind aus früheren Arbeiten bekannt, wenn diese auch längst nicht auf die jetzt zur Verfügung stehenden sowjetischen Archivquellen zurückgreifen konnten. Dennoch vermag Miner durch eine erneute Beleuchtung und andere Gewichtung von Fakten, die weniger im Vordergrund der traditionellen Historiografie standen, diesen einen neuen Stellenwert zuzumessen und dadurch der Thematik des Zweiten Weltkrieges eine zusätzliche Facette zu verleihen. So betont der Autor mit Recht die gegen den Bolschewismus gerichteten Aussagen von Papst Pius XI. in der Enzyklika "Divini Redemptoris" von März 1937, in der er den sowjetischen Kommunismus unmissverständlich verurteilte und die Zusammenarbeit zwischen Katholiken und Kommunisten in welcher Hinsicht auch immer für unmöglich erklärte. Damit erscheinen die insbesondere gegen Katholiken gerichteten Verfolgungen in der Sowjetunion (darunter diejenige der unierten Kirche in der West-Ukraine ab 1939) nicht nur als Aktion im Sinne des marxistisch-leninistischen Atheismus, sondern auch als sowjetische Reaktion auf die Haltung des Vatikans, der seinerseits keinen Kompromiss zulassen konnte, weil er die rigorose und brutale Religionsrepression seit der bolschewistischen Machtübernahme 1917 registrierte. Dass Papst Pius XI. auch die Überzeugung Roosevelts nicht teilte, dass in der Sowjetunion eine freie Religionsausübung gewährleistet sei, wie er ihm brieflich mitteilte (221-222), liegt auf der Hand.

Insgesamt werden ausgehend von der sowjetischen Religionspolitik während des Zweiten Weltkrieges Erkenntnisse für die Diplomatie-, aber auch für die politische Kulturgeschichte der Sowjetunion gewonnen, weshalb sich die Lektüre des Buches in jeden Fall empfiehlt.

Katrin Boeckh