Rezension über:

Rüdiger Bernek: Dramaturgie und Ideologie. Der politische Mythos in den Hikesiedramen des Aischylos, Sophokles und Euripides (= Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 188), München: K. G. Saur 2004, 347 S., ISBN 978-3-598-77800-1, EUR 96,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Kleopatra Ferla
Historians Department, Foundation of the Hellenic World, Athens
Redaktionelle Betreuung:
Sabine Panzram
Empfohlene Zitierweise:
Kleopatra Ferla: Rezension von: Rüdiger Bernek: Dramaturgie und Ideologie. Der politische Mythos in den Hikesiedramen des Aischylos, Sophokles und Euripides, München: K. G. Saur 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 4 [15.04.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/04/7202.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Rüdiger Bernek: Dramaturgie und Ideologie

Textgröße: A A A

Die Tragödie als Teil der Weltliteratur unterliegt der ständigen wissenschaftlichen Untersuchung und Interpretation. Hinsichtlich beider Unternehmungen muss die Frage gestellt werden, was der Forscher oder der Interpret bezweckt: Fragt man nach der Rezeption der Tragödie, oder versucht man den Text aus seiner Zeit heraus zu verstehen? Mit dem letztgenannten Aspekt setzt sich für gewöhnlich die Altertumswissenschaft auseinander.

In diesem Kontext ist die anzuzeigende Arbeit zu verorten: Das Buch ist in fünf Hauptkapitel gegliedert. In der Einleitung trägt der Verfasser sein Theoriekonzept vor, mithilfe dessen er die Tragödien interpretieren wird, die in den folgenden drei Kapiteln vorgestellt werden. Das 5. Kapitel ist der Zusammenfassung gewidmet; eine umfangreiche Literaturliste rundet die Arbeit ab.

Im Folgenden werde ich mich ausführlich mit dem Einleitungskapitel auseinander setzen. Der Grund hierfür ist die Tatsache, dass das Problem dieser Arbeit meiner Ansicht nach in der Deutung der angewendeten Theorie liegt. Die Textinterpretation entspricht dann mehr oder weniger dieser Theorie. Beim 1. Unterkapitel der Einleitung gibt der Verfasser in Umrissen den Zusammenhang zwischen Tragödie und Politik im Athen des 5. Jahrhunderts vor Christus wieder. Er vertritt die Meinung - die seine Grundthese bei der Interpretation der ausgewählten Tragödien sein wird -, dass die Stücke in "irgendeiner Form als Bestandsaufnahme des Seins und Sollens menschlichen Zusammenlebens in der Polis" gedacht sind; dabei sieht er den Ausdruck dieses Vorgangs insbesondere in den Dramen, "mit denen sich die athenische Gesellschaft in Abgrenzung von anderen Gemeinschaften ihrer Identität und ihrer Werte vergewissert". Mit anderen Worten: der Verfasser sieht zum Beispiel in Theben und Argos tatsächlich die Städte, die im Vergleich zu Athen von den Dichtern benutzt werden und versteht diese nicht als Folie für anders konstituiertes Handeln innerhalb der Polis. Dies resultiert meines Ermessens aus der Tatsache, dass er in den Tragödien den Ausdruck menschlichen Zusammenlebens, nicht aber menschlichen Handelns sieht. Darin liegt wahrscheinlich auch der Grund, warum der Verfasser fast nichts über die Lebenswelt, in der die Tragödien spielen, sagt, dafür aber die so genannten Hikesiedramen zum Musterbeispiel seiner These stilisiert. Für ihn bildet die Hikesie nicht einen bekannten Topos, der für die Zuschauer erkennbar ist und deswegen ein geeignetes Mittel in den Händen der Dichter, um ihre Ideen zu kommunizieren. Vielmehr bildet jener Begriff ein Ideologem, das "zu politischen Zwecken umgerüstet werden musste" (69).

Im 2. Unterkapitel werden der Begriff und die Struktur der Hikesiedramen dargestellt. Dabei werden zwei Modelle vorgestellt, das Kopperschmidt'sche und das Burian'sche, wobei sich der Verfasser dem Burian'schen mehr verpflichtet fühlt; allerdings rechnet er die Eumeniden im Gegensatz zu Peter Burian und mit Josef Kopperschmidt zu den Hikesiedramen. Burian hat ein Schema entwickelt, dem die Hikesiedramen folgen. Die 'Hiketiden' und 'Eumeniden' des Aischylos, der 'Oidipus auf Kolonos' des Sophokles sowie die 'Herakliden' und 'Hiketiden' des Euripides werden von dem Verfasser nach diesem Modell und mithilfe der Kopperschmidt'schen Definition für das Hikesiedrama untersucht; zudem spürt er die Relation zwischen Hikesiepattern und so genannter Athenideologie auf. Dabei meint der Verfasser, gemeinsame Punkte in den fünf Tragödien gefunden zu haben: 1.) In allen Dramen prallen zwei Wertegemeinschaften aufeinander, wobei sich die eine moralisch und somit militärisch als überlegen erweise (18). Aber in allen Tragödien prallen Wertegemeinschaften aufeinander; jedes Mal werden es unterschiedliche Werte sein, und nicht nur zwei - manchmal sind es mehrere. Des Öfteren aber sind es das geschriebene und ungeschriebene Recht, die alte und die neue Ordnung et cetera, die einander gegenüber stehen. 2.) Der Verfasser erklärt die Tatsache, dass vier von den fünf Dramen in Athen spielen, nicht als Zufall, sondern als ein von dem Zusammenhang zwischen Hikesiepattern und Athenideologie abgeleitetes Konstrukt. Eine solche Folgerung ist meines Ermessens übertrieben. In allen Tragödien spielt Athen auf die eine oder andere Weise eine Rolle, manchmal in der Projektion auf eine andere Stadt. Die Tragödie ist ein Produkt der athenischen Gesellschaft, die Dichter haben in Athen gelebt und für das athenische Publikum geschrieben - diese drei Punkte reichen vollkommen aus, um den gemeinsamen Schauplatz zu erklären.

Anschließend skizziert der Verfasser den Blickwinkel, unter dem er die Tragödien betrachten wird (19): nämlich wie sich die zunehmende ideologische Überfrachtung des Patterns auf seine literarische Umsetzung ausgewirkt habe. Dabei werden "die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den relevanten Dramen als Entwicklung einer Subgattung und als Ausdruck des Formwillens jedes einzelnen Bearbeiters im Sinne eines Dialogs zwischen den Tragikern erklärt werden, [...]. Denn jeder Dichter, der sich ein Pattern aneignet, setzt sich, [...], nicht nur mit dessen ideologischen Implikationen auseinander, sondern auch und vor allem mit den vorangegangenen Bearbeitungen desselben Sujets".

Diese Aussage wird im folgenden Kapitel diskutiert. Obwohl der Verfasser die Burian'sche Aussage von dem mythischen Megatext - darunter versteht Burian die Sagenkreise, woraus die Tragiker ihre Themen schöpfen (21) - akzeptiert, vertritt er die Meinung, dass "wir die Weiterentwicklung [des Patterns] zu bewusst verwendeten Erzählmustern mit spezifischen poetologischen Implikationen notwendigerweise dem Dialog der Tragiker verdanken". Bei der Interpretation der Stücke kommt er immer wieder darauf zurück, so zum Beispiel auf Seite 23: "Denn jeder von ihnen [den Tragikern], der sich ein Sujet des Megatextes aneignete, setzte sich zunächst mit den konkreten Bearbeitungen seiner Vorgänger auseinander und nicht mit einem abstrakten Pattern" oder, konkreter: "Dass Sophokles sich mit dieser Szene tatsächlich auf den konkreten Prätext der Eumeniden bezieht, [...]" (187). Soviel ich weiß, gibt es keinen Beleg dafür, dass so ein Prozess stattgefunden hat: Die Zuschauer hätten darauf gewartet, dass die Dichter den vorgegebenen Mythos modifizieren, und zwar voller Neugierde; wenn der gleiche Mythos auch von anderen Dichtern behandelt worden ist, haben sie sicher über die Unterschiede zwischen den Fassungen diskutiert.

Zurück zu einem anderen Punkt dieses Kapitels: Ich glaube, dass der Verfasser den Begriff der tragischen Ironie mit der gängigen Bedeutung des Wortes und dem Komischen verwechselt. In Abgrenzung zu Cedric H. Whitmans und Philip Vellacotts Aussage über das Ironische bei Euripides, die die Ironie mehr oder weniger als eine spezielle Kommunikationsform innerhalb des politischen Diskurses interpretieren, versteht Bernek die Ironie als Ausdruck eines erhöhten Formbewusstseins in metatheatralischem Sinn. Die Ironie aber, auch bei Sophokles vorhanden, war sicher ein Kommunikationsmittel, das sich in den Händen der Dichter zu einer starken Waffe für die Gesellschaftskritik entwickelte. Das Charakteristikum der euripideischen Tragödien bildet aber das ad absurdum führende Handeln seiner Helden (vergleiche Medea).

Das nächste Unterkapitel behandelt die Theorie der Intertextualität im Allgemeinen und hier insbesondere ihre Anwendung bei der Tragödieninterpretation. Nach einer Diskussion der verschiedenen Begrifflichkeiten der Theorie kommt der Verfasser zu folgender Schlussfolgerung: "Ob man hier nun von Intertextualität sprechen will oder aber von der Kombination von Strukturen aus verschiedenen Diskurstypen, der Bezug besteht in jedem Fall" (28). Dabei referiert der Verfasser, was Manfred Pfister sagt, nämlich dass der intertextuelle Bezug auf Diskurstypen weit über literarische Vorgaben hinausgehe und gerade auf nichtliterarischen, dem gesellschaftlichen Leben unmittelbar verhafteten Sprach- und Textformen seinen Schwerpunkt setze (28, Anm. 75). In einer hauptsächlich auf Mündlichkeit ausgerichteten Gesellschaft, wie der Verfasser selber bemerkt, erweist sich die Definition von Pfister als geeigneter, weil Texte eine geringere Rolle als Diskussionen auf der Agora, politische Reden, Dialoge bei Symposien und so weiter spielten. Die Kommunikationsformen waren andere, und wir müssen dies bei unseren Versuchen, die Tragödie zu interpretieren, berücksichtigen. Bei dem Vergleich der Tragödien 'Choephoren' und 'Elektra' ergeben sich folgende Fragen: Wie viele der Zuschauer, die die 'Elektra' (417) sahen, haben auch die 'Choephoren' (458) gesehen? Für das 5. Jahrhundert haben wir keine Nachricht von der Wiederholung früherer Tragödien - eine Voraussetzung, um "Zitate" zu erkennen. Dies bedeutet aber, dass "wörtliche Zitate" keinen Sinn machen würden. Genau das aber postuliert der Verfasser, wenn er die Skalierungskriterien Pfisters für die 'Elektra' als völlig zutreffend charakterisiert. Abgesehen davon: Welche wäre die Intention der Dichter bei der Konzipierung der beiden Texte gewesen? Die Darstellung einer Wiedererkennungsszene? Eine solche Annahme ist eher unwahrscheinlich, wenn man den ganzen Text liest. Stimmen diese Bemerkungen, dann ist die ganze Theorie der Intertextualität, so wie sie der Verfasser versteht, nicht vertretbar. Genau diese Theorie aber wird bei der Interpretation der Hikesiedramen angewendet. Es werden weder die Lebenswelt der Dichter noch die zeitliche Spanne oder das ganze Stück berücksichtigt. Die Tatsache, dass eine Tragödie die Hikesie zum Thema hat, bedeutet nicht, dass damit alles über ihren Sinn gesagt wurde. Man kann zum Beispiel meines Ermessens auf keinen Fall die beiden Tragödien 'Agamemnon' und 'Choephoren' beiseite lassen, wenn man die 'Eumeniden' behandelt. Sonst kommt man zu solchen fragwürdigen Sätzen wie "die Tragödiendichter erkannten das Hikesiepattern als das ideale Vehikel, um eine immer spezifischer werdende Athenideologie zu transportieren. [...] - das Vehikel musste gewissermaßen zu politischen Zwecken umgerüstet werden" (69). Die Tragödien bieten mehr als nur athenische Ideologie, eben deswegen, weil die Gesellschaft komplexer war als heute, wo die Grenzen zwischen Politischem und Religiösem, Familie und Staat, Privatem und Öffentlichem klar gesetzt sind. Der Verfasser hätte die verschiedenen sozialen Systeme, die bei den untersuchten Tragödien vorkommen, stärker berücksichtigen sollen: So hat er sehr wohl die Rolle der Verwandtschaft bei 'Oidipus auf Kolonos' herausgearbeitet, bleibt aber in seinem Hikesiepattern gefangen; dadurch versucht er eine Interpretation der Auseinandersetzungen, die bei Sophokles vorkommen, nicht auf der Basis der wichtigen strukturellen Unterschiede zwischen dieser Tragödie und den 'Eumeniden', sondern unter der Prämisse des Hikesiedramas. Dieser Versuch führt notwendigerweise zu Aussagen wie auf Seite 184: "Diese Deutungsansätze [es geht um die Erklärung, warum Theseus gegen Kreon, aber für Theben spricht] erklären jedoch nicht wirklich überzeugend den für das Hikesiedrama völlig atypischen Umstand" (vgl. auch 158: "[...] fällt wiederum eine Abweichung des Sophokles von der kanonischen Form [...] im Hikesiedrama auf"); entsprechend problematisch fällt die Erklärung für die unerwartete Sinnesumkehrung Demophons in Euripides' 'Herakliden' aus (vgl. 235 f.).

Es wäre hilfreicher, wenn der Verfasser stärker jene Literatur berücksichtigt hätte, die die Rolle der Kunst in der Gesellschaft behandelt, und jene, die die Texte unter soziolinguistischen Aspekten untersucht. [1] Zu den Vorteilen der Arbeit zählt die Konsequenz des Verfassers: Auch in Punkten, in denen seine Interpretationsweise schwer nachvollziehbar war (zum Beispiel 158), konnte er eine überzeugende Lösung anbieten.


Anmerkung:

[1] Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 4. Aufl. Frankfurt a.M. 1982; Theodorus Christiaan Oudemans / André Pierre Lardinois: Tragic Ambiguity, Philosophy and Sophocles' Antigone, Leiden 1987.

Kleopatra Ferla