Rezension über:

Thomas Müller (Hg.): Psychotherapie und Körperarbeit in Berlin. Geschichte und Praktiken der Etablierung (= Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften; Bd. 86), Husum: Matthiesen 2004, 328 S., ISBN 978-3-7868-4086-2, EUR 51,00
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Rezension von:
Kai Sammet
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Kai Sammet: Rezension von: Thomas Müller (Hg.): Psychotherapie und Körperarbeit in Berlin. Geschichte und Praktiken der Etablierung, Husum: Matthiesen 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 4 [15.04.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/04/8146.html


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Thomas Müller (Hg.): Psychotherapie und Körperarbeit in Berlin

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Die Medizin ist therapeutisch oft ein grobschlächtiges Geschäft. Vielen Erkrankungen ist mit somatischen Therapien kaum beizukommen. Psychotherapien spielen daher eine wichtige Rolle. Doch bildet sich das zu wenig in der Medizingeschichte ab. Noch weniger beachtet wurden körperorientierte Zugänge. Daher ist eine Pionierstudie zur Sondierung des Feldes äußerst willkommen. Der Herausgeber, der Berliner Medizinhistoriker Thomas Müller, ist aufgrund des unbefriedigenden Forschungsstandes vorsichtig. Es sollen "erste Lücken" am Beispiel Berlins geschlossen werden.

Zuerst stellt Mitchell Ash dieses Unternehmen in einen größeren Kontext: Erstens geht es um die jeweilige Berufsgeschichte. Zweitens geht es um die Entwicklung einer psychologischen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die von sich selbst in einer psychologischen Sprache erzählt, ihre Mitglieder als psychisch konstruiert deutet, sich von Psychotherapien viel erwartet. Berufliche Ausdifferenzierung und Psychologisierung bedingen sich gegenseitig. Kontrovers sei, wie diese Entwicklung zu verstehen sei. Ist für die einen "Therapeutisierung" emanzipativ-demokratisierend, so meinen andere, dies bedeute nur Selbstverpflichtung zu Individualität und Gesundheit. Drittens schließlich sei die Lokalhistorie wichtig. Leider führt Ash diesen Aspekt nicht näher aus. Hier hätte ich mir Genaueres darüber gewünscht, was das Besondere an Berlin und der dortigen Etablierung spezifischer Verfahren gewesen ist.

Die Wahl Berlins hat allerdings auch pragmatische Gründe. Das zeigt der Beitrag von Thomas Müller, Thomas Beddies und Heinz-Peter Schmiedebach. Das vorliegende Buch reiht sich in Forschungsprojekte zur Psychiatrie- und Psychotherapiegeschichte, die seit langem mit dem Berliner medizinhistorischen Institut verbunden sind. Ein weiterer pragmatischer Gesichtspunkt: Das Buch ging aus einem Seminar hervor, hier stand (mit Blick auf Berliner Medizinstudierende) Berlin im Mittelpunkt.

Anhand der Biografie Fritz Perls' untersucht Bernd Bocian die Wurzeln der Gestalttherapie. Perls, aus dem deutsch-jüdischen Bildungsbürgertum stammend, kann als typisch für einen linken Berliner Intellektuellen der 1910er- und 1920er-Jahre gelten. Zur Entwicklung der Gestalttherapie lieferten generationsspezifische Erfahrungen (Traumatisierung als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg), Perls Interesse an Theater und Kunst, aber auch seine berufsspezifische Sozialisation als Arzt und als Psychoanalytiker Bausteine, die erst in der Emigration in den USA in eine Therapieform integriert wurden. Bocian verdeutlicht, dass Berlin vor allem durch seine kulturelle Vielfalt in Kaiserreich und Weimarer Republik als Ideenlieferant fungierte.

Thomas Müller skizziert die Etablierung der Psychoanalyse in Berlin. Als Motor der Entwicklung (theoretisch wie institutionell) spielte Karl Abraham eine tragende Rolle. Neben Wien bildete Berlin seit Anfang des 20. Jahrhunderts das zweite deutschsprachige Zentrum der Psychoanalyse. Seit 1908 trafen sich in Abrahams Wohnung bekannte Größen nicht nur des Berliner Geisteslebens, um sich über Psychoanalyse auszutauschen. Müller, dessen Beitrag durch stupende Hintergrundkenntnisse beeindruckt, macht deutlich, dass insbesondere der Erste Weltkrieg eine wichtige Etablierungsphase darstellte, vor allem durch die bei Kriegszitterern angewandten Therapien. Während der Weimarer Republik stabilisierte sich die Psychoanalyse. Der Nationalsozialismus brachte die Emigration eines großen Teils der jüdischen Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen. Doch war der Versuch der "Bewahrung" (besser: Anpassung) der verbliebenen Psychotherapeuten im Rahmen des Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie (Göring-Institut) und das Verhalten der nichtjüdischen Analytiker kein Ruhmesblatt in der Geschichte der Psychoanalyse.

Ebenso informiert zeigt sich Michael Kölch über die Entwicklung der Individualpsychologie. Er macht plausibel, dass die eher sozialpsychologisch und pädagogisch ausgerichtete Individualpsychologie Adlers den Weg für ein Engagement in Jugend- und Erziehungsarbeit während der Weimarer Republik ebnete. An dieser Stelle hätte man sich allerdings eine kritischere Betrachtung gewünscht. Fürsorgeerziehung war für Psychiatrie und Pädagogik alles andere als bloße, der "verwahrlosten" Jugend angediente Wohltat. Die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie wurzelt in der Konstruktion des "jugendlichen Schwachsinns". Dass es sich dabei um wissenschaftlich-administrativ betriebene Unschädlichmachung als bedrohlich wahrgenommenen Verhaltens proletarischer Jugendlicher seitens der herrschenden Eliten handelte, kommt nicht zur Sprache. Welche Rolle spielte hier die Individualpsychologie?

Nach einem Abriss zur Kinderpsychoanalyse folgen Aufsätze zur Körperarbeit (wobei eine Erläuterung dieses Begriffes geholfen hätte). Instruktiv sind Imke Fiedlers Ausführungen zur Tanztherapie. Hier trägt ein genuin personengeschichtlich orientierter Ansatz, weil Fiedler deutlich machen kann, wie die Tanztherapie, die in den 1940er- und 1950er-Jahren in den USA entwickelt wurde, im Berliner Boden der Weimarer Republik wurzelte. Auch wenn damals durch die Vorreiterinnen und Vorreiter des Ausdruckstanzes keine Therapie beabsichtigt war, so wird genau beschrieben, wie die Tanztherapie schließlich, nach der erzwungenen Emigration der Schülerinnen der ersten Berliner Ausdruckstänzerinnen, in den 1970er-Jahren wieder nach Berlin zurückkehrte.

Karin Dannecker berichtet über Kunsttherapie in Berlin. Schon im 19. Jahrhundert - in Irrenanstalten - wurde künstlerische Betätigung therapeutisch benutzt (wenn auch unter Normalisierungsprämissen). Im 20. Jahrhundert gab es Überlegungen über Verbindungen zwischen Kunst und Psychopathologie, Künstler und neugierige Mediziner öffneten sich dieser Frage. Auch die schulmedizinische Psychiatrie glaubte einiges über künstlerische Produktion, Produktion irrer Künstler oder über die Produkte psychisch Kranker beisteuern zu können. Es ist fraglich, inwieweit diese verschiedenen Phänomene tatsächlich als Vorläufer für die erst spät im 20. Jahrhundert sich etablierende Kunsttherapie fungierten.

Wie lassen sich die einzelnen Beiträge auf das "Programm" Ashs beziehen? Trotz einiger Schwächen - es ergibt sich das beeindruckende Bild einer pluralisierten Psychotherapiewelt, bei deren Entstehung Berlin im Mittelpunkt stand. Die meisten Aufsätze stammen von Vertreterinnen und Vertretern der einzelnen Verfahren. Hier lag die Gefahr nahe, sich in Professionalisierungsscharmützeln zu verlieren. Es gehört zu den Stärken dieses Bandes, dass dies vermieden wurde.

Erhält man Hinweise auf die Frage der Psychologisierung der Gesellschaft? Lassen sich beim jetzigen Forschungsstand und unter den Prämissen des vorliegenden Bandes - im Fokus stand die Etablierung - hierzu schon Aussagen machen? Offensichtlich muss hier weiter geforscht werden. Dazu bieten die vorliegenden Beiträge Ausgangs- und Anhaltspunkte. Sie machen deutlich, dass Geschichte der Medizin und der (psycho-)therapeutischen Verfahren mehr umfasst als Schulmedizin.

Kai Sammet