Rezension über:

Walther L. Bernecker: Europa zwischen den Weltkriegen 1914-1945 (= Handbuch der Geschichte Europas; Bd. 9), Stuttgart: UTB 2002, 570 S., ISBN 978-3-8252-2297-0, EUR 24,90
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Rezension von:
Johannes Hürter
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Hürter: Rezension von: Walther L. Bernecker: Europa zwischen den Weltkriegen 1914-1945, Stuttgart: UTB 2002, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 5 [15.05.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/05/5003.html


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Walther L. Bernecker: Europa zwischen den Weltkriegen 1914-1945

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Europa ist en vogue, auch in der Zeitgeschichtsforschung. Das zeigen die verstärkten Forderungen nach einer "Europäischen Zeitgeschichte" (Jost Dülffer) und einer "vergleichenden Demokratie- und Diktaturforschung" (Horst Möller) ebenso wie die wachsende Zahl von Büchern, die diesem Anspruch gerecht zu werden versuchen und sich dabei vor allem mit dem Zeitalter der Weltkriege beschäftigen. Das Problem ist allerdings, dass die Lehre an den deutschen Universitäten, der immer wieder vorgeworfen wird, sie sei zu "eurozentrisch", häufig nicht einmal das ist, sondern weiterhin vor allem "germanozentrisch". Während sich selbst Proseminaristen oft über die Details der deutschen Geschichte vom Ausgang des Kaiserreichs über das Werden und Vergehen der Weimarer Republik bis zur Agonie des "Dritten Reichs" gut informiert zeigen, herrscht in der Regel schon über die Parallelgeschichten der Nachbarstaaten und großen Mächte Ahnungslosigkeit, vom Geschehen an der Peripherie Europas und in kleineren Staaten ganz zu schweigen. Gezielte Fragen nach interessanten Phänomenen wie dem Salazarismus in Portugal, der sozialdemokratischen Politik des folkhemmet in Schweden oder den verschiedenen autoritären Regimen in Ost- und Südosteuropa lösen selbst bei gestandenen Historikern meist nicht mehr als ein Achselzucken aus.

Wer sich über die gesamteuropäische Entwicklung in der Zwischenkriegszeit einen Überblick verschaffen wollte, musste lange auf den zeitgeschichtlichen Band des gehaltvollen und zuverlässigen, aber inzwischen veralteten und etwas sperrigen "Handbuchs der europäischen Geschichte" (Bd. 7, 1979), herausgegeben von Theodor Schieder, zurückgreifen. So ist es erfreulich, dass jetzt neben den konzentrierten Problemaufrissen von Horst Möller und Gunther Mai [1] ein neues veritables Handbuch über diese bewegte Periode europäischer Geschichte vorliegt , in dem sich der Student wie der professionelle Historiker kurz und bündig informieren können, wie die Geschichte in den einzelnen europäischen Ländern zwischen 1914 und 1945 verlaufen ist, und welchen Stand ihre Erforschung inzwischen erreicht hat. Dass Bernecker dabei ein besonderes Gewicht auf die romanischen Länder legt und sich auf diesem Gebiet auch als besonders kompetent erweist, kann angesichts der Interessen des Autors nicht erstaunen, führt aber zu einigen Schieflagen. So wird zum Beispiel der Geschichte der iberischen Halbinsel genauso viel Platz eingeräumt wie derjenigen ganz Ost- und Südosteuropas mit Ausnahme der Sowjetunion. Der Leser wird sich über die präzisen Informationen über Spanien und Portugal freuen, dieselbe Dichte freilich für Polen, die Tschechoslowakei, Österreich, Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien, Rumänien, Albanien, Griechenland sowie die baltischen Staaten vermissen - nebenbei werden sogar noch Finnland und die Türkei in dieses Kapitel gezwängt. Das wird der Bedeutung gerade jener Teile Europas für den Weg in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs kaum gerecht.

Diese Katastrophe wird in einem eigenen, länderübergreifenden Kapitel behandelt. Der Autor wäre gut beraten gewesen, mit dem Ersten Weltkrieg genauso zu verfahren. Über die "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts, deren überragende Bedeutung für die europäische Geschichte bis in unsere Zeit auch Bernecker konstatiert, erfährt man viel zu wenig. In der Einleitung wird mit flüchtigen Federstrichen ein unscharfes Gesamtbild skizziert, in den Länderkapiteln sporadisch auch auf die nationalen Entwicklungen im Ersten Weltkrieg eingegangen. Das ist für dieses facettenreiche und wirkungsmächtige gesamteuropäische Ereignis entschieden zu wenig und rechtfertigt kaum den Anspruch des Handbuchs, mit dem Jahr 1914 zu beginnen.

Die Fakten und der Forschungsbericht über die nationalstaatlichen Entwicklungen bzw. über den Zweiten Weltkrieg werden ergänzt durch einleitende Überlegungen über den "Charakter der Epoche" sowie ein Kapitel über die "Strukturprobleme der Zwischenkriegszeit". Diese beiden analytischen Teile nehmen insgesamt etwa ein Fünftel des Buches ein und gehören nicht zu seinen stärksten Seiten. Die knappe Einleitung bringt zunächst die erwähnte Skizze des Ersten Weltkriegs und verhakt sich dann vorwiegend an solch eingehend diskutierten Begriffen wie "Nationalismus", "Liberalismus", "Autoritarismus", "Faschismus" und "Totalitarismus", ohne dass ein klares Epochenbild entstehen würde. Dass die Diskussion über ideologie- und verfassungsgeschichtliche Typologien auch in allen anderen Abschnitten immer wieder referiert wird, führt zu Redundanzen, teilweise auch zu Widersprüchen. Die Strukturprobleme werden in vier Teilen erörtert, wobei das alte Forschungsfeld der internationalen Beziehungen und das neue Forschungsfeld der Kulturgeschichte gegenüber den sozialökonomischen und verfassungsrechtlichen Fragestellungen jeweils zu knapp behandelt werden. Eine bestimmte eigene Interpretation, welche Kräfte und Konflikte das Europa dieser unruhigen drei Jahrzehnte bewegten, sucht man vergeblich.

Insgesamt ist also der wesentliche Gewinn dieses Handbuchs darin zu sehen, dass es einen soliden Überblick über die Fakten der europäischen Geschichte zwischen den Weltkriegen vermittelt. Damit bietet es eine gute, außerdem auch preisgünstigere und handlichere Alternative zum älteren Nachschlagewerk Theodor Schieders sowie eine willkommene Ergänzung zu den problemorientierten Grundrissen und Skizzen der letzten Jahre.


Anmerkung:

[1] Horst Möller: Europa zwischen den Weltkriegen (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte; 21), München 1998; Gunther Mai: Europa 1918-1939, Stuttgart 2001.

Johannes Hürter