Rezension über:

Daniel C. Schmid: Dreiecksgeschichten. Die Schweizer Diplomatie, das 'Dritte Reich' und die böhmischen Länder 1938-1945 (= Die Schweiz und der Osten Europas; Bd. 11), Zürich: Chronos Verlag 2004, 501 S., ISBN 978-3-0340-0670-5, EUR 44,80
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Rezension von:
Hermann Graml
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Graml: Rezension von: Daniel C. Schmid: Dreiecksgeschichten. Die Schweizer Diplomatie, das 'Dritte Reich' und die böhmischen Länder 1938-1945, Zürich: Chronos Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 5 [15.05.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/05/5435.html


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Daniel C. Schmid: Dreiecksgeschichten

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Vor Jahren entdeckten Schweizer Bürger, dass im Verhältnis der außerdeutschen Welt zum nationalsozialistischen Deutschland selbst die Schweiz nicht den Widerstand oder zumindest die Distanz gezeigt hat, die der Abscheu vor den Verbrechen des NS-Regimes doch geboten habe. In Wirklichkeit sei es vielmehr, so hieß es nun, zu vielfältigen Formen der Annäherung und auch der - vor allem wirtschaftlichen - Zusammenarbeit gekommen, ungeachtet der prinzipiellen Schweizer Neutralität. Zwei bitter verfeindete Lager entstanden, ja, man kann sagen, dass die Schweizer Gesellschaft tief erschüttert wurde; der Schweizer Gesandte in Hitlers Berlin, Hans Frölicher, ist sogar von erstrangigen Schweizer Dichtern zum Gegenstand von Dramen gemacht worden, in denen er nicht mehr als wackerer Wahrer Schweizer Interessen, sondern als verächtlicher Kollaborateur erschien. Die Einsetzung einer "Unabhängigen Expertenkommission" hat den Konflikt nicht schlichten können; ihre Ergebnisse dienten den Kontroversen eher als Heizmaterial. Noch heute stehen die unentwegten Verteidiger des so lange Zeit gepflegten guten Gewissens und die Anwälte einer zumindest vom Willen zum Verständnis geleiteten historischen Gewissenserforschung den Verfechtern eines in der Tat nicht selten realitätsfernen Moralismus unversöhnt gegenüber.

Umso mehr ist es zu begrüßen, dass jetzt ein junger Schweizer Historiker zu einigen der umstrittenen Fragen eine Arbeit vorgelegt hat, die sich im Ton durch wohltuende Unaufgeregtheit und in ihren wissenschaftlichen Analysen durch ebenso wohltuende Nüchternheit auszeichnet. Daniel C. Schmid, der übrigens für die Expertenkommission tätig war, hat als Testfall für das Verhalten der Schweiz gegenüber dem groben und gefährlichen nördlichen Nachbarn das Wirken der Schweizer Diplomatie in der Tschechoslowakei untersucht und damit eine gute Wahl getroffen, da diese Region seit 1933 im Visier nationalsozialistischer Expansionspolitik lag und seit Mitte März 1939, seit der Schaffung des "Reichsprotektorats Böhmen und Mähren", zum deutschen Herrschaftsbereich gehörte; hier, in einem Kerngebiet Berliner Interessen und Berliner Macht, kann Schweizer Deutschlandpolitik besonders gut analysiert werden. Schmid gelingt das auf eindrucksvolle Weise, erst für die politische Rolle, die Schweizer Diplomaten in Prag bis zum März 1939 spielten, dann in minuziöser - gelegentlich sogar übergenauer - Behandlung für die Aktivitäten Schweizer Konsuln im "Protektorat". Seine Präsentation und seine überzeugende Interpretation deutscher und vor allem Schweizer und tschechischer Quellen machen klar, dass die Dinge in der damaligen Realität einfacher lagen und Schweizer Verhalten sozusagen "normaler" war, als die jüngsten homerischen Schlachten in der historiografischen Debatte vermuten ließen. Mit anderen Worten: die Schweizer Konsuln haben im "Protektorat" keine schlechte - wenn auch oft vergebliche - Arbeit geleistet, ob es um die Wahrung Schweizer Interessen ging, um das Engagement für die Rechte der in der Schweiz lebenden Angehörigen jener alliierten Staaten, die Bern mit den Aufgaben der "Schutzmacht" beauftragt hatten, oder um fraglos sehr vorsichtige Aktionen zu Gunsten verfolgter Juden. Jedoch wird keineswegs verschwiegen, dass Schweizer - so der Delegierte des IKRK Dr. Maurice Rossel bei einer Visite in Theresienstadt - zu naiven Opfern nationalsozialistischer Täuschungsmanöver wurden, dass es übereifrige Schweizer "Appeaser" ebenso gab wie Schweizer Faschisten und Beute - gerade auch jüdische Beute - suchende Schweizer Abenteurer. Gleichwohl fällt sogar auf die wirtschaftlichen Aktivitäten Schweizer Unternehmen - einschließlich der Banken - ein zwar nicht verklärendes, aber gewissermaßen normalisierendes Licht. Doch ist am Ende vor allem noch hervorzuheben, dass Schmid viel Neues und Wichtiges zur innertschechischen Entwicklung im "Protektorat" und zu den Beziehungen zwischen der tschechischen Protektoratsverwaltung und ihren deutschen Aufpassern zu sagen vermag.

Einige beckmesserische Anmerkungen: Schmids Urteile über die Erste Tschechoslowakische Republik sind in den Augen des Rezensenten durchweg zu negativ. So geht es nicht an, der "ungenügenden Integrationsleistung" ihres "politischen Systems" die Entstehung und Entfaltung autoritärer tschechischer Strukturen im Protektorat anzulasten. Dies hatte andere Gründe; eine "ungenügende Integrationsleistung" kann und darf nur der Prager Nationalitätenpolitik zugeschrieben werden. Auch unterlaufen nicht selten fehlerhafte oder missverständliche Formulierungen, wenn es um Fragen der internationalen Politik in den Dreißigerjahren geht. Dafür nur zwei Beispiele: Schmid schreibt, der "außenpolitische Pfeiler" der Ersten Tschechoslowakischen Republik sei die Kleine Entente, also die Verbindung mit Jugoslawien und Rumänien gewesen. Die Kleine Entente war jedoch nur ein Aushilfsmittel gegen den ungarischen Revisionismus und gegen eine habsburgische Restauration in Österreich, gegen Deutschland war sie ohne jeden Wert; der außenpolitische "Pfeiler" Prags war die Verbindung zu Frankreich und damit indirekt zu Großbritannien, die Beneš in den dreißiger Jahren ohne großen Erfolg durch ein Militärbündnis mit der Sowjetunion zu ergänzen suchte. Auch liegt es neben der Realität, vom Münchner Abkommen zu behaupten, es habe "weltpolitische Entspannung" gebracht; ein Vertrag, der allenthalben mit intensivierter und beschleunigter militärischer Rüstung beantwortet wird, ist ein etwas eigenartiges Entspannungsinstrument. Schließlich ist noch ein inflationärer Gebrauch des Begriffs "polykratisch" zu kritisieren. Seit die deutsche Zeitgeschichtsforschung sich angewöhnt hat, das spezifische Chaos der NS-Diktatur als "Polykratie" zu bezeichnen, gerät manchmal die schlichte Tatsache aus dem Blickfeld, dass Konflikte zwischen Ministerien und zwischen sonstigen politische Einrichtungen etwas Natürliches sind und keineswegs immer mithilfe einer speziellen Theorie erklärt werden müssen.

Einwände solcher Art ändern aber nichts daran, dass Daniel C. Schmid ein Werk vorgelegt hat, das uns die prekäre Lage und die mal mehr, mal weniger geschickte Politik eines von totalitären Mächten umgebenen kleinen Staates besser verstehen lässt.

Hermann Graml