Rezension über:

Wolfgang Reinhard (Hg.): Römische Mikropolitik unter Papst Paul V. Borghese (1605-1621) zwischen Spanien, Neapel, Mailand und Genua (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom; Bd. 107), Tübingen: Niemeyer 2004, XIV + 790 S., ISBN 978-3-484-82107-1, EUR 116,00
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Rezension von:
Sven Externbrink
Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Sven Externbrink: Rezension von: Wolfgang Reinhard (Hg.): Römische Mikropolitik unter Papst Paul V. Borghese (1605-1621) zwischen Spanien, Neapel, Mailand und Genua, Tübingen: Niemeyer 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 6 [15.06.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/06/6983.html


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Wolfgang Reinhard (Hg.): Römische Mikropolitik unter Papst Paul V. Borghese (1605-1621) zwischen Spanien, Neapel, Mailand und Genua

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Nicht erst seit der Vorlage des hier anzuzeigenden, voluminösen Bandes kann man mit dem Herausgeber Wolfgang Reinhard behaupten, dass das Pontifikat von Papst Paul V. Borghese zu den "best erforschten der Frühen Neuzeit" (20) gehört. Reinhard selbst hat dazu mit seinen methodisch neue Wege beschreitenden Studien (Netzwerkanalyse und Mikropolitik) wesentlich beigetragen, und er hat in Freiburg eine Schule begründet, aus der bedeutende sozial- und verfassungsgeschichtliche Studien zum Kirchenstaat in dieser Epoche hervorgingen. Zuletzt haben sich seine Schüler den Außenbeziehungen des Borghesepapstes unter Zugrundelegung des Reinhard'schen Konzepts der Mikropolitik gewidmet (T. Mörschel über Savoyen; C. Wieland über Florenz [1]). An ihre Forschungen schließt der Band an, in dem die Mikropolitik zwischen der Kurie und Spanien, den spanischen Territorien in Italien und der zur spanischen Klientel zu zählenden Republik Genua thematisiert wird:

Hillard von Thiessen untersucht die genuin römisch-spanischen Beziehungen, "Außenpolitik im Zeichen personaler Herrschaft" (21-177); Guido Metzler erforscht die "Doppelte Peripherie. Neapel als römische Kolonie und spanische Provinz" (179-334); Julia Zunckel beleuchtet sowohl die Tätigkeit des "Quasi-Nuntius" Giulio da Torre in Mailand (335-426) als auch die "Handlungsspielräume eines Mailänder Erzbischofs, Frederico Borromeo und Rom" (427-568). Den Abschluss bildet Jan-Christoph Kitzlers Studie über die "Nützliche[n] Beziehungen" zwischen Genua und Rom (569-704).

Vorangestellt ist diesen in sich geschlossenen, dem Umfang nach kleinen Monografien entsprechenden Beiträgen eine Einleitung Wolfgang Reinhards über "Römische Mikropolitik und spanisches Mittelmeer" (1-20), in der die methodisch-theoretischen Prämissen erläutert werden, auf denen die folgenden Studien gründen. Diese thematisieren die "Spielregeln des Verhaltens politischer Personen Italiens und Spaniens im 17. Jh." und verstehen sich als "Beitrag zur historischen Kulturanthropologie der Mittelmeerwelt". Untersucht wird die "Erzeugung und Nutzung von persönlichen Loyalitäten, die durch Verwandtschaft, Freundschaft und klienteläre Beziehungen zustande kommen". Mikropolitik ist, so die Definition Reinhards, "der mehr oder weniger planmäßige Einsatz eines Netzes informeller persönlicher Beziehungen zu politischen Zwecken, wobei die Besetzung einer Stelle und der Rang ihres Inhabers in der Regel sehr viel wichtiger ist, als das, was diese Person anschließend treibt" (3f.). Loyalität, nicht Kompetenz und Leistung, sei das entscheidende Kriterium bei der Besetzung von Positionen im frühneuzeitlichen Staat gewesen. Dies bedeutet, so betonen Reinhard und die Autoren der Fallstudien, vor allem Loyalität gegenüber einer Person, einem Patron, vom dem man sich nicht zuletzt materielle Vorteile verspricht. Diese Form der Treue, neben "sachlich oder ideologisch begründeter Loyalität" sei ein wesentliches Strukturelement frühneuzeitlicher Politik gewesen, deren Untersuchung aus mikropolitischer Perspektive dazu beiträgt, so Reinhard, allzu antagonistisch geprägte Vorstellungen der Geschichtsforschung zu überwinden - so tritt zum Beispiel an die Stelle einer fundamentalen Opposition von Ständen und Monarchie ein Prozess der fortgesetzten Verhandlung und Konsenssuche (4). Gegenstand von Mikropolitik ist nicht zuletzt die Erforschung von Netzwerken ("einer Menge von Akteuren [...], die untereinander durch Beziehungen verbunden sind"; 5), deren frühneuzeitliche Charakteristika Reinhard unter Berücksichtigung des Forschungsstands knapp aber konzise erläutert (5-12). Abgerundet wird die Einleitung durch einige Erläuterungen zu den Quellen und mit einem Überblick zur Forschung (12-20).

Auf die Fallstudien im Einzelnen kann hier nicht eingegangen werden. Sie gründen auf intensiven Quellenstudien und fügen sich zu einem beeindruckenden Gesamtbild römisch-spanischer und -genuesischer Beziehungen zusammen. Nicht nur über die speziellen Fragen der mikropolitischen Verflechtungen, sondern auch ein von alten Klischees ("verhaßte spanische Fremdbestimmung"; 340) befreites Bild der allgemeinen Geschichte Italiens im frühen 17. Jahrhundert entsteht vor den Augen des Lesers. Dies ist umso mehr zu begrüßen, da vergleichbare, die aktuelle italienische Seicento-Forschung vermittelnde Darstellungen in deutscher Sprache so gut wie nicht vorhanden sind.

Abschließend stellt sich die Frage nach der Repräsentativität des hier entwickelten Modells für die Außenbeziehungen der europäischen Staaten in der Frühen Neuzeit. Es scheint mir insofern einzigartig zu sein, als die Beziehungen der katholischen Staaten zur Kurie immer sowohl Fragen der Personalpolitik (womit immer "Patronageressourcen" zur Debatte standen; 175) als auch Probleme der "High Politics" (Mantuakrieg und Veltlinaufstand; zum Beispiel 417-425) zum Gegenstand hatten. Dieser Dualismus kennzeichnete die Beziehungen zwischen Madrid und Paris oder Paris und Turin jedoch nicht in erster Linie (was aber nicht heißen soll, dass mikropolitische Untersuchungen hier nicht nützlich sein könnten). [2]

Zweifellos stellt die Mikropolitik ein wesentliches Charakteristikum frühneuzeitlicher Innen- und Außenpolitik dar (so weit sie voneinander zu scheiden sind), doch sollte man darüber die "Sachfragen" der Makropolitik nicht völlig beiseite legen. Gerade im frühen 17. Jahrhundert rückte der abstrakte "Akteur" Staat immer stärker in den Vordergrund, und es wurde immer häufiger von Staatsinteresse gesprochen, wurden Entscheidungen mit der Staatsräson begründet. Zu ihrer Umsetzung bedurfte man loyaler Diener, die über Patronagebeziehungen an den Entscheidungsträger gebunden waren. Reizvoll dürfte es sein, Mikro- und Makropolitik miteinander zu verbinden und zu untersuchen, ob und wie der Sieg einer um einen Patron gescharten Klientelgruppe zugleich den Sieg einer bestimmten politischen Richtung oder Denkweise bedeuten konnte.

Nur ein Beispiel hierfür: In Frankreich setzte sich 1630 mit Richelieu ein Patron (der seinen Aufstieg vielen Patronen verdankte; zu dieser Problematik zusammenfassend von Thiessen, 176f.) gegen ein anderes Netzwerk (die Marillac) durch, das zugleich für eine andere makropolitische Ausrichtung stand. Richelieu und sein Nachfolger Mazarin dominierten die großen Netzwerke und ließen nur ihnen loyal gesinnte Kreaturen an der Macht teilhaben. Erst unter Ludwig XIV. änderte sich dies: Er spaltete die Klientel Mazarins auf und ersetzte sie durch mehrere, um Posten und Einfluss konkurrierende, miteinander verflochtene Netzwerke, von denen die der Colberts und der Le Telliers die bedeutendsten waren. Diese Zusammenhänge sind bei weitem noch nicht umfassend erforscht. Das vorliegende Buch wie auch die ihm zu Grunde liegenden Fragen können aber hierfür als Modell dienen.


Anmerkungen:

[1] Tobias Mörschel: Buona amicitia? Die römisch-savoyischen Beziehungen unter Paul V. (1605-1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Italien (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte; Bd. 193), Mainz 2002, siehe hierzu die Rezension von Arne Karsten in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 4, URL: http://www.sehepunkte.de/2003/04/1834.html; Christian Wieland: Fürsten, Freunde, Diplomaten. Die römisch-florentinischen Beziehungen unter Paul V. (1605-1621) (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit; Bd. 20), Köln / Weimar / Wien 2004; siehe hierzu die Rezension von Sven Externbrink, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 9, URL: http://www.sehepunkte.de/2004/09/5335. html.

[2] Auf den Ausnahmecharakter wies unlängst Wolfgang Reinhard selbst hin: Wolfgang Reinhard: Kommentar, in: Kommunikation und Raum. 45. Deutscher Historikertag, 14.-17. September 2004 in Kiel. Berichtsband, Neumünster 2005, 167.

Sven Externbrink