Rezension über:

Jörg Ulbert: Frankreichs Deutschlandpolitik im zweiten und dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Zur Reichsperzeption französischer Diplomaten während der Regentschaft Philipps von Orléans (1715-1723) (= Historische Forschungen; Bd. 79), Berlin: Duncker & Humblot 2004, 494 S., ISBN 978-3-428-10921-0, EUR 84,00
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Rezension von:
Christophe Duhamelle
Mission Historique Française en Allemagne, Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Christine Roll
Empfohlene Zitierweise:
Christophe Duhamelle: Rezension von: Jörg Ulbert: Frankreichs Deutschlandpolitik im zweiten und dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Zur Reichsperzeption französischer Diplomaten während der Regentschaft Philipps von Orléans (1715-1723), Berlin: Duncker & Humblot 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/09/6693.html


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Jörg Ulbert: Frankreichs Deutschlandpolitik im zweiten und dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts

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Der französische Diplomat du Luc beklagte sich 1716 über die vermeintlichen Blicke, die seines Erachtens die Reichspost allzu oft in seine offizielle Korrespondenz warf: "Die Deutschen sind von Natur aus sehr neugierig und genieren sich nicht, die Briefe zu öffnen" (88). Zum Glück, möchte man sagen, nachdem man dieses materialreiche Buch gelesen hat. Jörg Ulbert hat nicht nur die diplomatische Korrespondenz gründlich untersucht, die bislang von der Forschung eher vernachlässigt worden war, er hat auch präzise und zum Teil neue Erkenntnisse über die diplomatische Praxis am Anfang des 18. Jahrhunderts geliefert.

Dabei versprachen die Jahre, die sich Ulbert als Untersuchungszeitraum wählte, zunächst keine besondere Fülle von Resultaten. Die Regentschaft Philipps von Orléans (des Sohnes der Liselotte von der Pfalz) gilt als eine Periode der Genesung und der Zurückhaltung nach den Drangsalen der langen Herrschaft Ludwigs XIV. Als Kardinal Dubois wieder "große Politik" zu treiben vermochte, stand nicht das Alte Reich im Zentrum seiner Bemühungen um Gleichgewicht, sondern die Mitwirkung Großbritanniens und die Zähmung der erst vor kurzem mühsam durchgesetzten, aber schon unbequem gewordenen spanischen Linie der Bourbonen. Im Reich selbst waren für die französische Diplomatie die Handlungsmöglichkeiten äußerst begrenzt, schon weil der durch die erst jüngst beendeten Kriege verursachte "Hass" gegenüber Frankreich, ein Leitmotiv der diplomatischen Berichte, fast alle Verhandlungs- oder Intrigenversuche zum Scheitern verurteilte. Darüber hinaus befand sich der französische Staat in einer solchen Misere, dass die diplomatischen Posten im Reich regelrecht aufgeopfert (von September 1715 bis September 1719 wurden so gut wie keine Löhne von Paris aus bezahlt), oft geschlossen oder mit Diplomaten minderen Ranges besetzt wurden. Die Depeschen wurden demzufolge zu einem andauernden Notschrei, den 1721 de Vaux aus München auf den Punkt brachte: "Es ist schwer, den Geschäften die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, wenn man kontinuierlich mit der Beschaffung seines Lebensunterhalts beschäftigt ist" (276).

Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, wenn die beschriebene diplomatische Aktivität wenig inspiriert erscheint. Die im 17. Jahrhundert so erfolgreiche Spendenverteilung, die zur Bildung einer französischen Klientel beitrug, erlosch. Selbst die Wittelsbacher, sowohl der bayerische als auch der kölnische Kurfürst, bekamen so gut wie nichts mehr. Nur Preußen besetzte in den Plänen des Pariser Ministeriums eine verhältnismäßig wichtige Position, die zur Bestechung des Ministers von Ilgen führte - aus deutscher Sicht die größte "Schlagzeile" dieses Buches, die allerdings von Jörg Ulbert schon 2001 in dem von ihm mitherausgegebenen Sammelband "Formen internationaler Beziehungen in der Frühen Neuzeit" verbreitet wurde.

Wichtiger ist aber die Rekonstruktion des diplomatischen Alltags und Wissenshorizonts, die Ulbert trotz (oder dank?) des Mangels an Gewürzen, der die Ereignisse der Periode charakterisiert, vornehmen kann. Das Interesse der Pariser Zentrale am Reich wird mit großer Genauigkeit analysiert: Nicht nur die Kenntnisse der verschiedenen Minister über Deutschland werden überprüft (etwa anhand ihrer Bibliotheken), sondern auch ihre tatsächliche diplomatische Tätigkeit wird nachgezeichnet, und zwar mithilfe einer sehr interessanten statistischen Auswertung der Anzahl an Depeschen und Weisungen sowie der Zeitspanne, die zwischen den Briefen der Diplomaten und den Antworten (wenn überhaupt...) aus Paris lag. Dass die Neugier des Ministeriums - und folglich die Betrachtungen der Diplomaten - fast ausschließlich auf die Intrigen und Parteien in den Regierungen und der Höfe fokussiert waren, ist zwar keine große Neuigkeit, wird hier aber reich illustriert. Weiterreichende Informationen über die Reformen und Kräfte des jeweiligen Territoriums dienten vor allem der Suche nach Vorbildern für mögliche Reformmaßnahmen in Frankreich, weniger der Evaluierung möglicher Alliierter. Zum Beispiel wurden die französischen Diplomaten im Reich darum gebeten, über die Rezeption der antijansenistischen päpstlichen Bulle Unigenitus zu berichten, die in Frankreich zum inneren Kardinalproblem avanciert war.

Dass aus der Studie die "französische" Sicht über Deutschland erkennbar werden könnte, ist also fraglich - aber das behauptet Jörg Ulbert auch nicht. Er liefert nichtsdestoweniger aufschlussreiche (und oft unterhaltsame; ein französischer Diplomat war sich dessen bewusst, dass er auch mit geistreichen Skizzen seine Laufbahn begünstigen konnte) Texte über die Perzeption des jungen Königs Friedrich Wilhelm von Preußen oder etwa des Kurfürsten von Bayern. Vor allem aber werden Gründe für die zögerliche Reichspolitik Frankreichs erkennbar: Sie habe auf Angst vor Wien beruht (Ulbert spricht auf Seite 340 sogar von dem "irrationalen, fast paranoiden Charakter der französischen Ängste"). Die französischen Diplomaten erkannten nämlich einerseits recht gut den Reichspatriotismus, den sie besonders am Regensburger Reichstag beobachteten - und begriffen das Alte Reich damit zutreffender als die spätere Historiografie -, sahen darin aber andererseits einen Beweis für eine erneuerte Macht der Habsburger, die sie daher wohl überschätzten. So spärlich finanziert und sporadisch geführt die französische Reichspolitik in diesen Jahren auch gewesen sein mag, so blieben doch das Interesse für und die Kenntnisse über das Reichsrecht und die Reichsverfassung auf einem hohen Niveau.

Sein reiches Material breitet Ulbert in sieben Kapiteln aus. Zunächst werden in einem Überblick das Ministerium und das diplomatische Vorgehen vorgestellt: Verwaltungsapparat der Diplomatie, diplomatische Posten, Depeschen. Dann geht die Arbeit für jeden Ort, an dem ein französischer Diplomat während der Periode tätig war (Regensburger Reichstag, Wien, Berlin, München, Köln), der Geschichte des Postens, der Sicht des Diplomaten und der Sicht des Ministeriums nach. Schließlich wird eine Synthese der Grundzüge der französischen Deutschlandpolitik versucht. Die Edition der wichtigsten Schlussrelationen der Diplomaten und deren Kurzbiografien runden den Band ab. Diese Herangehensweise erweist sich allerdings leider auch als nachteilig. Der Unterschied zwischen der "Sicht der Diplomaten" und der "Sicht des Ministeriums", der im ersten und im letzten Teil thematisiert wird, wirkt in den territorialen Abschnitten künstlich und führt allzu oft zu Wiederholungen - zumal der Autor durch die Fülle des Materials ab und zu überwältigt wird und dasselbe Zitat zweimal bringt (233, 263, 265; oder 288 und 302). Zwischen einer ausführlichen Wiedergabe des Inhalts seiner Quellen und einer anspruchsvolleren und klarer gegliederten Analyse des diplomatischen Vorgehens hat sich Jörg Ulbert offenbar nicht entscheiden können.

Zudem wird die unvollständige Übersetzung der zahlreichen französischen Zitate den deutschen Leser wohl irritieren. Hier fehlt es an einem einheitlichen Prinzip. Mitunter übersetzt Ulbert nur einen Teil des französischen Textes und setzt dabei die Übersetzung nicht immer klar durch Anführungszeichen von seinem eigenen Text ab (121, 156). An anderen Stellen bietet er überhaupt nur die deutsche Übersetzung (168), öfter aber nur den französischen Text. Der französische Leser kann an manchen Stellen sogar mehr Informationen aus den Fußnoten als aus der eigentlichen Darstellung gewinnen!

Eine sorgfältigere Behandlung der Quellen und ihrer Darstellungsweise, vor allem aber: eine entschlossenere Fokussierung auf eine Fragestellung, die dann auch mehr der Diplomatiegeschichte als der diplomatischen Geschichte gebührt hätte, hätten diesem Buch vermutlich mehr Stringenz und Aussagekraft verliehen. Die Arbeit von Jörg Ulbert zeichnet sich aber insgesamt als eine quellengesättigte, sorgfältige und einfallsreiche Studie über eine bislang vernachlässigte Periode der französischen Reichspolitik aus.

Christophe Duhamelle