Rezension über:

Karen Harvey: Reading Sex in the Eighteenth Century. Bodies and Gender in English Erotic Culture (= Cambridge Social and Cultural Histories), Cambridge: Cambridge University Press 2004, IX + 261 S., ISBN 978-0-521-82235-0, GBP 45,00
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Rezension von:
Christine Künzel
Institut für Germanistik II, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Maren Lorenz
Empfohlene Zitierweise:
Christine Künzel: Rezension von: Karen Harvey: Reading Sex in the Eighteenth Century. Bodies and Gender in English Erotic Culture, Cambridge: Cambridge University Press 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 10 [15.10.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/10/7938.html


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Karen Harvey: Reading Sex in the Eighteenth Century

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Viele große Dichter des 18. Jahrhunderts haben sich im Genre der erotischen Literatur, zumeist der erotischen Lyrik, ausprobiert. In der Germanistik werden nicht nur die erotischen Texte bekannter Autoren wie Goethe, Wieland oder Lessing bis heute weitgehend als "Jugendsünden" von minderer literarischer Qualität abgetan und belächelt, auch hat das Genre der erotischen Dichtung im deutschsprachigen Raum - im Gegensatz zur englischen und französischen Forschungslandschaft - bisher kaum ernsthafte Beachtung erfahren. Die wenigen Studien, die sich tatsächlich mit erotischen Texten aus der deutschsprachigen Literatur beschäftigen, konzentrieren sich in ihrer literaturhistorischen Ausrichtung in erster Linie auf Aspekte der Gattungspoetik und Gattungsgeschichte. [1]

Ganz anders ist der Ansatz der Kulturhistorikerin Karen Harvey, die das Genre der erotischen Dichtung zunächst einmal ernst nimmt und auch diese Textgattung als ein Medium begreift, in dem eine Verständigung über kulturelle Praktiken und Diskurse stattfindet. Harvey gelingt es in ihrer Lektüre erotischer Diskurse im England des 18. Jahrhunderts, die zentrale Bedeutung erotischer Literatur im Spannungsfeld der Paradigmenwechsel des Zeitalters der Aufklärung zwischen einer Vorbereitung der Moderne und Reminiszenzen an ein Ancien Régime herauszuarbeiten. Den Topoi der erotischen Literatur entsprechend erhofft sich die Autorin insbesondere Aufschlüsse hinsichtlich der Codierung von Geschlecht und Sexualität. Dabei interessiert sich Harvey nicht nur für die Texte selbst, sondern widmet sich im ersten Kapitel zunächst einer Beschreibung des sozialen Kontextes, in dem Erotika (erotisches Text- und Bildmaterial) hergestellt und rezipiert wurden (3). Da es sich um ein nicht-kanonisches Genre handelt, lassen sich lediglich Hypothesen hinsichtlich eines möglichen Rezipientenkreises aufstellen. Dabei kommt die Autorin zu dem Ergebnis, dass Erotika einen zentralen Bestandteil eines Repertoires homosozialer Aktivitäten bildeten, zu denen auch Trinken, Singen und Prostitution zählten (36). Somit lässt sich von einem Genre sprechen, das von Männern für Männer entworfen wurde, Harvey bezeichnet Erotika in diesem Sinne als "masculinist genre" (77).

Die folgenden drei Kapitel sind der Darstellung der Geschlechterdifferenz bzw. der Repräsentation weiblicher und männlicher Körper gewidmet. In der Analyse diverser erotischer Prosatexte und Gedichte, die sich durch so viel sagende Titel auszeichnen wie "The Adventures of a Cork-Screw", "The Electric Eel: Or, Gymnotus Electricus, and the Torpedo", "Erotopolis" oder "The Natural History of the Frutex Vulvaria", zeigt Harvey, dass die von Thomas Laqueur [2] aufgestellte und in Teilen der Körperwissenschaft(en) mittlerweile zu einem Dogma erstarrte These des Paradigmenwechsels vom "Ein-Geschlecht-Modell" zum "Zwei-Geschlechter-Modell" zumindest dahingehend relativiert werden muss, dass gerade in der (erotischen) Literatur des 18. Jahrhunderts beide Geschlechtermodelle diskutiert und zuweilen auch vermischt wurden. Die Analyse literarischer Texte zeigt also, dass sich der Paradigmenwechsel in der Kodierung der Geschlechterdifferenz keineswegs in allen kulturellen Diskursen so klar und eindeutig vollzogen hat, wie die Studie von Laqueur es nahe legt. Vielmehr scheint sich (auch) das 18. Jahrhundert durch eine Gleichzeitigkeit verschiedenster Konzepte auszuzeichnen (80).

In den letzten drei Kapiteln widmet sich Harvey zentralen Topoi innerhalb des erotischen Diskurses, und zwar der Darstellung von Raum, Bewegung und sinnlicher Lust im Hinblick auf die Kodierung weiblicher und männlicher Körperlichkeit und Sexualität. In der erotischen Literatur zeigt sich die geschlechtsspezifische Konnotation von Orten in zugespitzter Form: Der weibliche Körper wird zum Ort selbst, zum unbekannten Kontinent, zur Landschaft, die von einem männlichen Subjekt entdeckt, vermessen und (im wahrsten Sinne des Wortes) erfahren werden kann. Die Analyse von Harvey zeigt, dass die rhetorisch-poetischen Strategien u. a. dazu angelegt sind, die Grenzen zwischen einvernehmlichem Geschlechtsverkehr, sexueller Nötigung und Vergewaltigung zu verwischen, indem der weibliche Gegenpart zum Schweigen gebracht oder ihm ein lustvoller Seufzer abgenötigt wird (192-198) - eine Beobachtung, die sich mit neueren Studien zur Darstellung sexueller Gewalt in der Literatur deckt. [3]

Der spielerisch-ironische Umgang mit zeitgenössischen Geschlechter- und Körperkonzepten sowie die Anspielungen auf populäre literarische Genres (wie etwa den Reiseroman) und wissenschaftliche Diskurse verleiten Harvey allerdings zu der Annahme, es handele sich bei der erotischen Dichtung um eine Gattung der Satire (80). Nicht erst an dieser Stelle offenbart sich die Schwierigkeit der Definition des Genres und auch das Problem der Abgrenzung gegenüber benachbarten Gattungen wie der galanten Liebesdichtung oder der Pornografie - eine Problematik, mit der jede Studie zu kämpfen hat, die sich diesem Genre widmet. [4] Auch Harvey benennt das Problem in ihrer Einleitung (13) und unternimmt den Versuch einer Eingrenzung, indem sie eine Definition im Sinne ihrer Textauswahl und Lektüren anbietet. Die Autorin versteht "Erotika" als eine bestimmte Repräsentationsform sexueller Lust, in der Sexualität, Körper und Begehren mittels einer Rhetorik der Verschleierung und der Herstellung von Distanz dargestellt wurden. Harvey zufolge wurde Körperlichkeit in diesem Genre lediglich indirekt über Metaphern und suggestive Anspielungen vermittelt; und die Darstellung sexueller Handlungen zeichnete sich durch Verschiebungen und Verschweigen aus (20). In der Verwendung des Imperfekts deutet sich an, dass die Historikerin "Erotika" als ein spezifisches, historisch in der Frühen Neuzeit verortetes Genre begreift - eine Annahme, die, aus literaturwissenschaftlicher Perspektive betrachtet, in der Form wohl kaum haltbar sein dürfte.

Und obwohl die These von dem satirischen Charakter erotischer Literatur in der Argumentation Harveys, die erotische Dichtung sei wie die Satire ein parasitäres Genre, indem sie sich verschiedenster Diskurse und Gattungen bediene und sich diese einverleibe (222), auf den ersten Blick verführerisch erscheint, sind auch hier Zweifel anzumelden. Möglicherweise handelt sich bei einigen der Texte, die Harvey hier vorstellt, tatsächlich um Satiren. Das würde jedoch implizieren, dass dann auch die Bezugnahme auf erotische Diskurse in diesen Werken in satirischer Manier erfolgt, d. h. als Satire auf das erotische Genre. Die Studie lässt in dieser Hinsicht eine Trennschärfe zwischen Satire, Ironie und Witz vermissen. Der im 18. Jahrhundert populäre deutsche Gattungsbegriff der "scherzhaften Muse" bezeichnet gerade jene, für die erotische Literatur typische Paarung von Witz, Humor und Sexualität, der sich in der zeitgenössischen Bedeutung des Begriffs "Scherz" verbirgt. Bei der erotischen Dichtung handelt es sich um eine spezifische Form des Humors in einem Fiktions-Spiel, in dem der weibliche Körper zwar als zentrales Objekt fungiert, aus dem die Frau als Rezipientin jedoch weitestgehend ausgeschlossen bleibt.

Insgesamt bietet Harveys Studie - und das ist ihr eigentliches Verdienst - eine erste umfassende kulturwissenschaftliche Analyse erotischer Texte aus dem England des 18. Jahrhunderts und zeigt damit zugleich, wie unterschiedlich sich erotische Kulturen in verschiedenen literarischen Diskursen Europas entwickelten: Während der erotische Roman insbesondere in Frankreich, aber auch in England im Jahrhundert der Aufklärung zu einem populären Genre avancierte, konzentrierte sich die Darstellung erotischer Topoi im deutschsprachigen Raum fast ausschließlich auf die Lyrik. Vor dem Hintergrund, dass sowohl französische als auch englische Kulturen des Erotischen inzwischen sowohl von Seiten der historischen als auch von Seiten der literaturwissenschaftlichen Forschung weitgehend erschlossen sind, mag diese Studie als Anregung dienen, endlich auch Texte der deutschsprachigen erotischen Literatur einer kulturwissenschaftlichen Lektüre zuzuführen.


Anmerkungen:

[1] So etwa die bisher einzige umfassende Studie von Hans Schlaffer: Musa iocosa: Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland, Stuttgart 1971.

[2] Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben: Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a. M. 1992.

[3] Vgl. u. a. Christine Künzel: Vergewaltigungslektüren: Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht, Frankfurt a. M. / New York 2003.

[4] Vgl. den Versuch von Thomas Hecken: Gestalten des Eros: Die schöne Literatur und der sexuelle Akt, Opladen 1997, hier besonders 23 ff.

Christine Künzel