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Mária Huber: Moskau, 11. März 1985. Die Auflösung des sowjetischen Imperiums (= 20 Tage im 20. Jahrhundert), München: dtv 2002, 317 S., ISBN 978-3-423-30616-4, EUR 10,00
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Rezension von:
Anke Stephan
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Anke Stephan: Rezension von: Mária Huber: Moskau, 11. März 1985. Die Auflösung des sowjetischen Imperiums, München: dtv 2002, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 11 [15.11.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/11/3981.html


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Mária Huber: Moskau, 11. März 1985

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Mitte der 1980er- bis Anfang der 1990er-Jahre brachte die sozial- und politikwissenschaftliche Forschung und Publizistik Dutzende Veröffentlichungen über die Vorgänge in der Sowjetunion hervor, zunächst über den Verlauf der perestrojka (Umstrukturierung), dann über den Zerfall des sowjetischen Imperiums. Aktuelle, mit zeitlichem Abstand verfasste Analysen liegen bislang kaum vor. Wenn, dann handelt es sich um Spezialuntersuchungen zu einzelnen Bereichen wie dem Demokratisierungsprozess oder arbeitsmarktpolitischen Fragen, jedoch nicht um Gesamtdarstellungen. Der in der Reihe "20 Tage im 20. Jahrhundert" erschienene Band Mária Hubers stellt daher einen ersten Versuche dar, eine Synthese jener dramatischen Ereignisse zwischen der Wahl Michail Gorbačevs zum Generalsekretär der KPdSU am 11. März 1985 und der Auflösung der Sowjetunion am 25. Dezember 1991 zu formulieren.

Auftakt der Darstellung ist eine minutiöse Rekonstruktion der Vorgänge im Kreml, die zur Entscheidung für Gorbačev als neuem Generalsekretär der KPdSU führten - beginnend mit dem Wetter in Moskau in den ersten Märztagen 1985, das noch keine Anzeichen für den nahenden Frühling zeigte. Die anschließende Darstellung konzentriert sich auf einige zentrale Themen: Wirtschaft und Soziales, imperiale Reformen, nationaler Separatismus und ethnische Konflikte, die Außenpolitik und die Rolle des Westens sowie die internen Machtkämpfe um die Partei- und Staatsführung. Der Autorin, die seit 1994 als Professorin für Internationale Beziehungen am Institut für Politikwissenschaften der Universität Leipzig lehrt und davor lange Jahre als Forscherin und Korrespondentin der ZEIT in Moskau lebte, gelingt dabei eine ansprechende Mischung aus wissenschaftlicher Analyse und fesselnder Erzählung. In flüssigem, gut lesbarem Stil schildert Huber zunächst die sozialen und politischen Verhältnisse der 1980er-Jahre: die Gerontokratie, die Missstände in Landwirtschaft und Konsumgüterindustrie, die Bürokratie und die Schattenwirtschaft sowie die außenpolitische Lage, die einerseits vom Einmarsch in Afghanistan geprägt war, andererseits von erneut zunehmenden Spannungen mit dem Westen unter dem Eindruck des Kriegsrechts in Polen und dem NATO-Doppelbeschluss.

Die perestrojka begann dann Huber zufolge mit einem Fehlstart. Mit Methoden, die sich kaum von früheren Propagandakampagnen unterschieden, versuchte die Regierung zunächst, die Werktätigen zu höherer Arbeitsdisziplin anzuhalten und den hohen Alkoholkonsum einzudämmen, was zur Zerstörung eines Viertels der Weinstöcke führte. Die auf Weinanbau angewiesenen Regionen mussten folglich empfindliche Verluste hinnehmen. Die eigentliche Umgestaltung (perestrojka) der Staats- und Wirtschaftsstruktur begann ab Herbst 1986 mit Ansätzen zur Demokratisierung, die im Sommer 1987 von ersten Reformen des planwirtschaftlichen Systems begleitet wurden. In der zweiten Hälfte des Jahres 1987 trat zur perestrojka das Prinzip glasnost' (Öffnung, Öffentlichkeit) hinzu. Um eine breitere Beteiligung am Reformprozess zu erzielen, gewährte die Regierung ein höheres Maß an bürgerlichen und politischen Freiheiten. Die Pressezensur wurde gelockert, die Kulturszene erlebte bislang nie gekannte Möglichkeiten, die Gründung neuer zivilgesellschaftlicher Organisationen gelang. Eine der prominentesten unter ihnen war die Gesellschaft Memorial, sie wurde von Bürgerrechtlern ins Leben gerufen, die seit der Rückkehr Andrej Sacharovs aus der Verbannung in Gor'kij Ende 1986 und einer Amnestie für politische Gefangene Ende 1987 nicht mehr in der vormals illegalen Dissidentenbewegung, sondern in legalen bürgerrechtlichen Vereinigungen wirken konnten.

Die Rolle der vormals "Andersdenkenden" bei der Umgestaltung des sowjetischen Systems wird von der Autorin jedoch nicht diskutiert. Es bleibt eine offene Frage, welchen Anteil die früheren Oppositionellen am Umstrukturierungsprozess hatten, in welcher Weise das Regime versuchte, sie politisch einzubinden, und welche Chancen dabei möglicherweise vertan wurden. Schließlich waren es die Dissidentinnen und Dissidenten, die seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre glasnost' zu einem Grundprinzip staatsbürgerlichen Engagements erhoben hatten. In diesem Zusammenhang wäre es vonnöten gewesen, den Begriff näher zu definieren und seine Herkunft zu beleuchten. Aber auch das Konzept der perestrojka wird nicht erläutert. Die Bestandteile ihres "Programms" wie die Einführung marktwirtschaftlicher Elemente oder die Verfassungsreform müssen sich die Leser aus einzelnen Kapiteln zusammenklauben. Ebenso bleibt es im Dunkeln, wann der Begriff das erste Mal verwendet wurde, welche Bedeutung er in der sowjetischen Tradition besaß und wie jene sich unter Gorbačev wandelte.

Umso größeres Gewicht legt Mária Huber auf die Nationalitätenkonflikte und die Unabhängigkeitsbestrebungen in zahlreichen Republiken, die schließlich zur Auflösung des sowjetischen Imperiums führten. Hier gibt die Autorin Einblicke in die Entwicklung unterschiedlicher Republiken und Regionen, die von profunder Sachkenntnis zeugen: Ausführlich thematisiert sie den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach, die gewaltsamen Ausschreitungen im usbekischen Fergana-Tal gegen die meschetische Minderheit sowie die Unabhängigkeitsbestrebungen in den baltischen Staaten und der Ukraine, die seit Sommer 1988 mit der Veröffentlichung des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939 Aufwind bekamen. Im Gegensatz zum Baltikum, wo die Unabhängigkeitsbestrebungen mit dem Willen zu demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen verbunden waren, strebten die separatistischen Kräfte in der Ukraine oder in Georgien laut Huber weniger nach einem Systemwechsel, sondern waren ausschließlich nationalistisch motiviert. Im Baltikum gipfelte die Konfrontation mit der Zentralregierung in den Unabhängigkeitserklärungen Estlands, Lettlands und Litauens im Frühjahr 1990. Als Antwort stürmten sowjetische Truppen im Januar 1991 den Fernsehturm in Vilnius, als die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit dem bevorstehenden Angriff der USA auf den Irak galt. Würdigt Huber Gorbačevs außenpolitische Verdienste um die Abrüstung und den Ausgleich mit dem Westen, was unter anderem auch zum Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan führte, so charakterisiert sie den Generalsekretär in der Nationalitätenpolitik als Unentschlossenen, der zwischen glasnost' und Gewalt schwankte.

Den Todesstoß erhielt das Imperium durch die Ereignisse in Russland: Unter Boris El'cin, Präsident der Russischen Republik, erklärte sich Russland am 12. Juni 1990 für souverän. Parallel zu den Strukturen der Sowjetunion baute El'cin eine russische Staatsgewalt auf, die in Konkurrenz zur Zentralregierung trat. Den Machtkampf mit Gorbačev konnte er schließlich nach dem Augustputsch von 1991 für sich entscheiden. Gorbačev musste von seinem Amt als Generalsekretär der KPdSU zurücktreten, der geplante Unionsvertrag kam nicht mehr zu Stande, die baltischen Staaten wurden durch die EU völkerrechtlich anerkannt, weitere Unionsrepubliken wie die Ukraine, Belarus und Kasachstan erklärten ihre Unabhängigkeit. Am 25. Dezember 1991 wurde die sowjetische Fahne über dem Kreml eingeholt.

Abschließend fragt Huber nach dem Einfluss des Westens: Ihrer Meinung war der Anteil der USA an der Schwächung der Sowjetunion erheblich. Das Jackson-Vanik-Amendment hatte in den 1970er-Jahren ein Handelsabkommen verhindert und versperrte der Sowjetunion auch langfristig den Zugang zu amerikanischen Exportkrediten. Bis auf die Bewilligung von Krediten für Getreideimporte aus den USA wurde auch während der perestrojka keine materielle Hilfe, beispielsweise in Form günstiger Kredite, gewährt. Statt Gorbačevs allmählichem "Übergang zur gemischten sozialen Marktwirtschaft" (283) rieten westliche Experten zur Schocktherapie. Die "spontane Privatisierung" fand schließlich im administrativen und legislativen Chaos statt, in dem sich wenige spätere "Oligarchen" oder "neue Russen" bereichern konnten, während die Mehrheit der Bevölkerung verarmte.

Abgesehen von den wenigen Mängeln, auf die bereits verwiesen wurde, ist es Mária Huber gelungen, eine komprimierte, kluge und zugleich packende Darstellung vorzulegen. Auf der Basis unterschiedlicher Materialien, Medienbeiträge, Erinnerungen und Dokumentationen, zeichnet die Autorin die zentralen Entwicklungslinien nach und liefert damit plausible Erklärungen für den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums. Das Buch regt an zu weiterer Forschung und Diskussion, denn viele Fragen müssen vorerst offen bleiben.

Anke Stephan