Rezension über:

Günter Fischer / Susanne Moraw (Hgg.): Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, 328 S., ISBN 978-3-515-08450-5, EUR 48,00
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Rezension von:
Nicola Zwingmann
Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Nicola Zwingmann: Rezension von: Günter Fischer / Susanne Moraw (Hgg.): Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 1 [15.01.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/01/7360.html


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Günter Fischer / Susanne Moraw (Hgg.): Die andere Seite der Klassik

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Unter dem Eindruck von Gewalterfahrungen der jüngsten Vergangenheit und ihrer Darstellung in den Medien wenden auch die Altertumswissenschaften dem Phänomen Gewalt erstmals größere Aufmerksamkeit zu. [1] Der hier besprochene Sammelband geht zurück auf ein Kolloquium der Arbeitsgruppe "Bild und Gesellschaft im klassischen Griechenland" - einem losen Zusammenschluss jüngerer Archäologen und Archäologinnen -, das vom 11. bis 13. Juli 2002 in der Kunst- und Ausstellungshalle Bonn anlässlich der dortigen Eröffnung der Ausstellung "Die griechische Klassik. Idee oder Wirklichkeit" stattfand.

Die 16 Beiträge sind - bisweilen etwas beliebig wirkend - in die Rubriken "Bildsprache", "soziale Räume", "Sieger und Besiegte", "Geschlechterrollen" und "Rezeption" eingeordnet. Sie stützen sich oft auf die attische Vasenmalerei des 5. Jahrhunderts v. Chr., in geringerem Umfang auch auf andere archäologische und literarische Quellen. Weil die archäologischen Beiträge überwiegen, liegt der Schwerpunkt auf dem medialen Aspekt der Gewalt. Zwei Grundprobleme werden besonders kontrovers diskutiert: Wie verhalten sich Gewaltdarstellungen und Lebenswelt zueinander und wie Gewaltdarstellungen und Wertvorstellungen?

Adrian Stähli geht in seinen Überlegungen (19-44) vom Amoklauf des Robert Steinhäuser in dessen Erfurter Gymnasium aus, den er als Beispiel dafür anführt, wie die Bilderwelt, hier diejenige eines Egoshooter-Computerspiels, das Handlungsszenario für eine reale Gewalttat vorgeben kann. Er untersucht verschiedene Räume der Gewalt in der attischen Vasenmalerei unmittelbar vor und nach der deutlichen ikonografischen Zäsur von ca. 480 v. Chr., nämlich Symposium und Komos, Schwerathletik - siehe hierzu den Beitrag von Martin Bentz (129-141) - und Krieg. Seine fragwürdige These lautet, dass diese Bilder, "in denen Gewalt zum Erfolg führt [...], Lerneffekte produziert haben, die der Wirkung von 'Counterstrike' auf die Aggressionsbereitschaft Robert Steinhäusers nicht unähnlich waren" (43). Stähli verneint die Existenz von Gewalt anprangernden Bildern in der griechischen Antike und äußert die Ansicht, "daß es deshalb auch nicht möglich ist, eine Geschichte der moralischen Problematisierung von Gewalt in Bildern zu schreiben" (35). Dem widerspricht Ralf von den Hoff (225-246), der die transgressiven, d. h. göttliches Recht überschreitenden Gewaltakte des Achill und seines Sohnes Neoptolemos in attischen Vasenbildern des 5. und 4. Jahrhunderts untersucht. Von den Hoff zufolge lässt sich eine Entwicklung feststellen von einem archaischen Kanon mit wenigen, klaren Werten hin zu einer Vielfalt an Beurteilungskriterien in der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts, die er "Phase der kritischen Problematisierung" (245) nennt. In ihr "deute[...] sich eine Tendenz zur ethischen Bewertung von Gewalt zumindest an" (243). Wenn in der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. der transgressive Aspekt des Gewaltaktes ganz ausgeblendet wird, könnte das seiner Meinung nach ein Indiz dafür sein, dass der Einsatz transgressiver Gewalt im Krieg nicht mehr als unvermeidbar galt, sondern hinterfragt werden konnte.

Eine dritte Deutung der Bewertung von Gewalt schlägt Susanne Muth vor, eine ausgewiesene Expertin zum Thema, deren Habilitationsschrift über mediale Gewalt im Athen des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. demnächst gedruckt vorliegen wird. Sie betont in ihrem auf attische Vasenbilder des 5. Jahrhunderts gestützten Beitrag (185-209), dass die Ikonografie der Gewalt durch viele Faktoren geprägt sei, nicht nur durch die inhaltliche Einstellung zu ihr. Sie lehnt es ab, aus den sich verändernden Gewaltdarstellungen und deren unterschiedlicher Häufigkeit auf einen grundsätzlichen Wandel in der Einstellung zur kriegerischen Gewalt zu schließen. Stattdessen deutet sie dieses Phänomen als formales Experiment, das in die Entwicklung einer bis heute prägenden Ikonografie der Gewalt münde, "eine weniger bekannte, aber um so mehr bezeichnende 'Leistung' Athens im 5. Jahrhundert" (209). Muths interessante These erscheint mir in ihrer Radikalität jedoch überzogen.

Wie Susanne Moraw (73-88) in ihrer etwas sonderbaren Zusammenstellung der - in unterschiedlichem Maße - rechtlosen Gruppen Tiere, Sklaven und Ehefrauen zeigt, stellen die attischen Vasenbilder klassischer Zeit den mittels Gewalt erreichten Zustand als einen gewaltlosen und für alle, auch für das Opfer, wünschenswerten dar und legitimieren somit die bestehenden Machtverhältnisse. Gleichzeitig propagieren die Schriftquellen mehrheitlich die natürliche Unterlegenheit von Sklaven und Frauen. Eine kritische Einstellung zur Gewalt von Männern gegen Frauen meinen hingegen zwei Autoren erkennen zu können, Stefan Ritter (265-285) in attischen Vasenbildern des 5. Jahrhunderts v. Chr., die die Wiederbegegnung von Helena und Menelaos zeigen, und Klaus Junker (287-304) in den Giebeln des Zeustempels von Olympia, den Metopen am Heratempel von Selinunt und Darstellungen von Athena und Pandora im Giebel und am bzw. im Parthenon in Athen. Während Ritter eine Handlungsanweisung gegen den Einsatz von Gewalt zu erkennen glaubt, streitet Junker dies ab und nimmt an, dass die Darstellungen "zur Reflexion über das Geschlechterverhältnis auf[forderten]" (301).

Anja Klöckner (247-263) vergleicht, wie die von den "mordenden Müttern" Medea und Prokne ausgeübten Gewaltakte positiv bewertet wurden, ebenfalls am Beispiel Athens anhand zweier Tragödien des Euripides und des Sophokles sowie einer Marmorgruppe von Prokne und ihrem Sohn Itys von der Athener Akropolis. Sie deutet Prokne als positive Identifikationsfigur, die dem traditionellen Werteverständnis gerecht wird, indem sie durch einen sie selbst schädigenden Gewaltakt die Ehre ihres Oikos rettet und somit als "Paradigma extremer Opferbereitschaft und vorbildlichen Verhaltens" (261) dient. Ähnlich gezeichnet werden kann Leaina, Mitverschwörerin der so genannten Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton, die Almuth-Barbara Renger (305-325) ins Zentrum ihrer Untersuchung stellt.

Winfried Schmitz (103-128) untersucht vor allem literarische Quellen sowie einige Vasenbilder in Hinblick auf Gewalt in der Familie im klassischen Athen, und zwar an den Beispielen der Kindesaussetzung und -tötung, der Kindererziehung mittels Schlägen und der Gewalt zwischen Eheleuten. Die von Schmitz herangezogenen sozialwissenschaftlichen Theorien zum Thema können aufgrund der Quellenlage für die Antike jedoch nur sehr eingeschränkt fruchtbar gemacht werden. Die Kindesaussetzung wird meistens auf verschiedene Arten, z. B. sprachlich, verschleiert, selten auch angeprangert. Dass Schläge als Erziehungsmittel nicht wirklich in Frage gestellt wurden, überrascht ebenso wenig wie das weitgehende Fehlen von Belegen über Gewalt zwischen Eheleuten, vor allem von Männern gegenüber ihren Frauen.

Der Bedeutung von Gewalt im Grabkontext widmen sich zwei Beiträge: Stefan Schmidt (167-183) lenkt die Aufmerksamkeit am Beispiel der unteritalischen und sizilischen Vasen des 4. Jahrhunderts v. Chr. bei Darstellungen besonders gewaltsamer Mythen auf zwei Aspekte: auf den Bildinhalt, der Gewalttaten wiedergibt, die im Mythos als unsinnig oder fragwürdig gezeichnet sind, und auf die Verwendung der Bildträger im Grabkontext. Identifikationsfiguren seien die Opfer und nicht, wie üblich, die Täter. Die Gewaltdarstellungen stünden metaphorisch für den unbarmherzigen Tod. Dirk Steuernagel (211-224) zufolge, der an das Thema seiner Dissertation anknüpft [2], beschwört die drastische Darstellung der Besiegten in der ebenfalls im Grabkontext verankerten etruskischen Bildkunst und der faliskischen Vasenmalerei des 4. Jahrhunderts v. Chr. hingegen gerade nicht die Ausweglosigkeit des Todes, sondern die völlige Vernichtung des Feindes.

Kai Trampedach (143-165) untersucht historisch belegte transgressive Gewaltakte in Heiligtümern insbesondere bei Herodot, Thukydides und Aineias Taktikos, wobei er seinem Beitrag eine Liste mit allen ihm bekannten Belegen von der Archaik bis ins 4. Jahrhundert anfügt. Seit dem Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. seien religiöse und moralische Normen im Diskurs einem der 'Realpolitik' verpflichteten Machtdenken untergeordnet worden, das in den politischen Ausnahmesituationen Krieg, Bürgerkrieg und Umsturz sogar diese Form der Gewalt legitimierte.

Der Band gibt einen guten Einblick in die aktuelle Forschungsdiskussion und ihre Einordnung in die zeitgenössische soziologische und gesellschaftliche Diskussion zum Thema Gewalt. Die starke Fokussierung auf Gewaltdarstellungen in der attischen Vasenmalerei des 5. Jahrhunderts v. Chr. bringt bisweilen eine gewisse Redundanz mit sich, die vielleicht durch einen einführenden Beitrag hätte vermieden werden können. Hilfreich wäre ein Index gewesen. Auch wenn die Gründe dafür auf der Hand liegen, weshalb die Fotos in Schwarzweiß abgedruckt sind, hätten Farbfotos einige Vasenbilder, die blutige Szenen zeigen, doch besser zur Geltung gebracht.


Anmerkungen:

[1] Sammelbände zu Tagungen der Jahre 2002 und 2003: J.-M. Bertrand (Hg.): La violence dans les mondes grec et romain, Actes du colloque international (Paris, 2-4 mai 2002), Publications de la Sorbonne, Paris 2005; M. Zimmermann (Hg.): Extreme Formen von Gewalt im Altertum in Bild und Text (im Druck). Ein weiterer Band wird die Beiträge einer Tagung in Santa Barbara zu "Violence, Victims and Vindication in Late Antiquity" beinhalten. Im September letzten Jahres fand eine Tagung in Friaul statt zu "Terror et pavor. Violenza, intimidazione, clandestinità nel mondo antico". Siehe auch die bald erscheinende Habilitationsschrift von S. Muth über mediale Gewalt im Athen des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. und die im Druck befindliche Monografie von D. Rohmann mit dem Titel: "'Das ist ja Gewalt'. Grausame Szenen in der Literatur und der politische Umbruch des 1. Jahrhunderts n. Chr.".

[2] Dirk Steuernagel: Menschenopfer und Mord am Altar. Griechische Mythen in etruskischen Gräbern (= Palilia; Bd. 3), Wiesbaden 1998.

Nicola Zwingmann