Rezension über:

Rainer Kuhn / Heiko Brandl / Leonhard Helten / Franz Jäger: Aufgedeckt. Ein neuer ottonischer Kirchenbau am Magdeburger Domplatz (= Archäologie in Sachsen-Anhalt; Sonderband 3), Halle/S.: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt 2005, 111 S., 25 Abb., ISBN 978-3-910010-87-1, EUR 14,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Bernhard Schütz
Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Ulrich Fürst
Empfohlene Zitierweise:
Bernhard Schütz: Rezension von: Rainer Kuhn / Heiko Brandl / Leonhard Helten / Franz Jäger: Aufgedeckt. Ein neuer ottonischer Kirchenbau am Magdeburger Domplatz, Halle/S.: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 1 [15.01.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/01/8285.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Rainer Kuhn / Heiko Brandl / Leonhard Helten / Franz Jäger: Aufgedeckt

Textgröße: A A A

Aus dem Bereich der mittelalterlichen Bauarchäologie ging vor einiger Zeit durch die Medien bis hin zum Fernsehen eine Nachricht, die in der Öffentlichkeit auf ein erstaunlich breites Interesse stieß: In Magdeburg sei gleich neben dem von Otto dem Großen gegründeten Dom, in dem der Kaiser und seine erste Gattin Edith begraben sind, eine zweite ottonische Kirche aufgedeckt worden. Dieser Bau habe so gewaltige Dimensionen gehabt, dass vorsichtig die Frage aufgeworfen wurde, welche der beiden ottonischen Kirchen denn nun eigentlich Ottos Dom gewesen sei: der Vorgängerbau des heutigen Domes oder der neu entdeckte Bau.

Wer bei den Grabungsergebnissen einen Sensationsfund erwartet, wird enttäuscht. Den Sensationsfund hatte bereits 1959-1968 E. Nickel gemacht, als er nördlich des Domes einen ungewöhnlich komplizierten Baukomplex ergrub, der mehrstöckig gewesen sein muss und im Westen wie im Osten durch das auffällige Motiv gegenständiger, d. h. spiegelbildlich entsprechender Doppelkonchen ausgezeichnet war. Dieses Gebäude glaubte Nickel als Palatium Ottos des Großen, also als einen Profanbau, identifizieren zu können. Diese These ging als gesicherte Erkenntnis in die Forschung ein. Die von 2001 bis 2003 durchgeführte Grabung von Kuhn erfasste ein weitaus kleineres Areal, nämlich nur die Straße, die zwischen dem Nickel'schen Grabungsfeld und der östlich davon gelegenen Staatskanzlei entlang führt. Aufgedeckt wurden im wesentlichen die Gräben von Fundamenten. Deren Steine waren fast überall nicht mehr vorhanden. Trotzdem fanden sich noch genügend kleine Reste, die anzeigten, dass das Baumaterial, etwa beim Fußboden, sehr wertvoll war und teilweise aus importiertem Cipollino- oder Broccatellone-Marmor bestand.

Die Grabung brachte sechs parallel angelegte Fundamentgräben zutage, die in den Fluchten des "Palatiums" weiter nach Osten führten und fünf Abschnitte (von Kuhn "Zellen" genannt) ausbildeten. Wie weit die sechs Fundamentzüge nach Osten reichen und das heißt, wie lang das Gebäude war, konnte nicht ermittelt werden, weil die Staatskanzlei im Wege steht. Der mittlere Abschnitt erwies sich mit etwa 11 m lichter Breite als der größte. Für die Gesamtbreite der fünf Abschnitte und ihrer Mauern wurden 41 m ermittelt. Diese Größe ist erstaunlich, denn der Vorgängerbau des heutigen Magdeburger Doms war deutlich schmaler; er kam im Langhaus auf eine Breite von etwa 26 m und im Querhaus auf eine Nord-Süd-Erstreckung von etwa 35 m. Ziemlich genau die gleiche Breite wie der neu ergrabene Magdeburger Bau hatten unter den ottonischen Kirchen nur der Dom in Trier und der vom Bruder Ottos des Großen, Erzbischof Brun, auf Fünfschiffigkeit erweiterte Dom in Köln.

Die von Kuhn ergrabenen Bauteile standen in Verbindung mit dem Nickel'schen "Palatium". Aber sie stammten nicht aus der gleichen Zeit. Schon im Jahre 2000 hatte die Archäologin B. Ludowici erkannt, dass die gegenständige Doppelkonche an der Westseite des "Palatiums" einer anderen Bauphase zugerechnet werden muss als die entsprechende, aber kleinere Doppelkonche an der Ostseite und deren Seitenkonchen. Die Kuhn'sche Grabung erbrachte den Beweis, dass der ganze Ostbereich mitsamt der genannten Ostkonche älter sein muss als westlich davon der Kernbau des "Palatiums".

Wichtig für die Zweckbestimmung und Datierung des Komplexes war die Aufdeckung von zehn Gräbern. Man fand sie im Inneren des Ostbereichs bzw. dicht daneben. Hingegen hatte Nickel im "Palatium" keine Gräber gefunden. Eines der Gräber, ein aufwändig gemauertes Repräsentationsgrab, das im Zusammenhang mit dem Bau des Ostbereichs entstanden sein muss, ließ sich dendrochronologisch in das 3. Viertel des 10. Jahrhunderts datieren. Die Gräber erbrachten ein weiteres, schlechthin entscheidendes Resultat: Das Bauwerk war kein profanes Pfalzgebäude, sondern eine Kirche. Die Datierung des Grabes verwies in die Zeit Ottos des Großen. Das "Palatium" war später angefügt worden. Als Teil der Kirche muss es ebenfalls ein Sakralbau gewesen sein. Demnach war es kein "Palatium", sondern eher eine Art "Westwerk" mit Eingangshalle und Oberkirche.

Welche der beiden nebeneinander bestehenden ottonischen Kirchen aber war der Dom? Die Historiker Brandl und Jäger identifizieren den neu entdeckten Kirchenbau mit jener Nonnenklosterkirche St. Laurentius, die Otto der Große nach Aussage des Thietmar von Merseburg 955 "mirum in modum" an der Grabstätte der frommen Edith errichtet habe. Für die Datierung des später entstandenen Westbaus bietet sich die mehrfach überlieferte Nachricht an, der Magdeburger Erzbischof Norbert von Xanten habe in unmittelbarer Nähe des Domes eine "vetus structura" bzw. ein "antiquius monasterium", das von Kaiser Otto dem Großen "magnifice" errichtet worden sei, auszubauen in Angriff genommen, aber wegen seines frühen Todes (1134) das Vorhaben nicht mehr zu Ende führen können. Offen bleibt dabei die Frage, warum der Erzbischof an die Kirche eines Nonnenklosters, das möglicherweise zu dieser Zeit schon nicht mehr bestand, einen derart aufwändigen Westbau anfügen wollte.

Der Abbruch der Laurentiuskirche scheint schon ein halbes Jahrhundert später unter Erzbischof Wichmann (1152 - 1192) erfolgt zu sein, der innerhalb der Domimmunität einen Markt gründete und diesen dem Domstift übertrug. Hierfür brauchte er Platz. So würde es sich auch zwanglos erklären, warum während des dritten Viertels des 12. Jahrhunderts plötzlich zahlreiche antike Spolien, die Brandl in einem gesonderten Beitrag zusammenstellt, im weiteren Umkreis von Magdeburg verbaut wurden. Aus dem Dom können diese nicht stammen, denn der brannte erst 1207 ab. So kommt nur die zweite Kirche Ottos des Großen in Frage.

Die Kuhn'sche Grabung erbrachte also letztendlich das Ergebnis, dass es in Magdeburg eine Doppelkirchenanlage von gewaltigen Ausmaßen gegeben hat, initiiert durch Otto den Großen. Vergleichbare Anlagen gab es in Aquileia, Pavia, Posen, Krakau und vor allem, heute noch erkennbar, in Trier. Die neu entdeckte Kirche muss, wie Helten hervorhebt, ein gänzlich anderer Bau als der dreischiffige Dom gewesen sein. Für die Länge der 41 m breiten Kirche standen wegen des Steilabfalls zur Elbe nur etwa 50 m zur Verfügung. Das ergibt zwingend einen Zentralbau. Für eine genauere Rekonstruktion fehlen die Anhaltspunkte.

Das Nebeneinander von Longitudinal- und Zentralbau, beide in großen Dimensionen, hatte eine auffällige Parallele in Trier mit dem Dom und der Liebfrauenkirche. Dort war allerdings der Dom der Zentralbau, der spätantike Dom des Kaisers Gratian, ein Quadratbau von 41 m Seitenlänge. Nach Trier verweist außerdem das Motiv der gegenständigen Doppelkonche, das um 949 am Westbau der Trierer Klosterkirche St. Maximin nachweisbar ist. Aus diesem Kloster berief Otto der Große Kleriker für das, 937 gegründete, Magdeburger Mauritiusstift. Des Weiteren vermutet Helten Beziehungen zur spätantiken Doppelkirchenanlage S. Lorenzo fuori le mura in Rom und schlägt für die Rekonstruktion der Magdeburger Kirche nach diesem Muster Emporen vor, die dann wiederum das Vorbild für Gernrode abgegeben hätten - eine verlockende, aber nicht beweisbare These.

Bernhard Schütz