Rezension über:

Andreas Kießling: Die CSU. Machterhaltung und Machterneuerung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, 380 S., ISBN 978-3-531-14380-4, EUR 34,90
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Rezension von:
Thomas Schlemmer
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Schlemmer: Rezension von: Andreas Kießling: Die CSU. Machterhaltung und Machterneuerung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/03/10547.html


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Andreas Kießling: Die CSU

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Als Erwin Huber, seinerzeit Generalsekretär der CSU, im Oktober 1994 nach den politischen Perspektiven seiner Partei befragt wurde, antwortete er selbstbewusst: "In Bayern haben die Wittelsbacher 800 Jahre regiert. Wir erst 37. Da is' noch viel drin." Inzwischen sind fast 12 Jahre vergangen, und während etwa die politische Hegemonie der SPD in Nordrhein-Westfalen gebrochen worden ist, lässt sich im Freistaat noch kein Ende der CSU-Herrschaft absehen. Daher drängt sich die Frage nach den Ursachen dieser Entwicklung geradezu auf. Alf Mintzel hat es schon in den Siebzigerjahren unternommen, das bayerische Mirakel zu erklären, und seither haben zahlreiche Politologen, Soziologen und Historiker das Rätsel zu lösen versucht, wie es denn kommt, dass die CSU ihre Stellung als bundespolitisch erfolgreiche Regionalpartei offenbar unbeeindruckt von tagespolitischen Krisen und dauerhaften Veränderungen des Parteiensystems verteidigen konnte.

Mit seiner im Jahre 2004 an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität angenommenen Dissertation hat sich der Politikwissenschaftler Andreas Kießling in diese Phalanx eingereiht. Ausgehend von der Beobachtung, dass das Diktum "Macht hat ein Verfallsdatum" in Bayern außer Kraft gesetzt zu sein scheint, untersucht er beginnend mit der Debatte um die Nachfolge des überlebensgroßen Parteivorsitzenden Franz Josef Strauß im Oktober 1988 die strukturellen Grundlagen der CSU-Hegemonie in Bayern und die politischen Strategien des Machterhalts bis zur Landtagswahl im September 2003, bei der die bayerische Unionspartei die Zwei-Drittel-Mehrheit der Mandate erobern konnte. Dabei vertritt er die These, dass die wiederholt beschriebenen Besonderheiten der politischen Kultur Bayerns zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung darstellten, um den Erfolg der CSU zu erklären. Für ihn steht fest, dass die dauerhafte Sicherung der Macht nicht möglich gewesen wäre, hätte die bayerische Mehrheitspartei nicht wiederholt eine ebenso erstaunliche wie spezifische Fähigkeit zur Selbsterneuerung an den Tag gelegt, deren Markenzeichen es gewesen sei, die innerparteiliche Dynamik aufrechtzuerhalten oder wiederzugewinnen und zugleich das damit verbundene Konfliktpotential soweit zu bändigen, dass die Geschlossenheit im entscheidenden Moment nie ernsthaft gefährdet gewesen sei.

Kießling untersucht dieses Spannungsverhältnis von Kooperation und Konflikt an fünf Beispielen: die Nachfolge von Franz Josef Strauß und die Frage nach dem Verhältnis von CSU und DSU; die Debatte um das Grundsatzprogramm der CSU von 1993; die Ablösung Max Streibls als bayerischer Ministerpräsident durch Edmund Stoiber; die Diskussion um die Einführung des Euro und das Ringen zwischen CDU und CSU um die Kanzlerkandidatur und Oppositionsstrategie nach dem Machtverlust von 1998. Er folgt dabei einem akteurzentrierten Ansatz und stellt vier "Machtzentren" der CSU - den Parteivorsitzenden und die Landesleitung der Partei, die bayerische Staatsregierung mit dem Ministerpräsidenten und der Staatskanzlei, die Landesgruppe im Deutschen Bundestag mit etwaigen Mitgliedern der Bundesregierung sowie die CSU-Fraktion im bayerischen Landtag - in den Mittelpunkt seiner Analyse, die vor allem nach dem Verhältnis individueller und kollektiver Akteure, nach Machtpotentialen sowie nach innerparteilichen Bündnissen und Konfliktregelungsmustern fragt. Kießling stützt sich dabei vor allem auf die Auswertung wichtiger Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine, zahlreiche Interviews mit führenden CSU-Politikern und Parteiarbeitern im Hintergrund sowie zumindest im Kapitel über das Grundsatzprogramm von 1993 auf ungedruckte Quellen aus dem Archiv für Christlich-Soziale Politik der Hanns-Seidel-Stiftung. Bei der Auswertung der wissenschaftlichen Literatur wäre mehr Sorgfalt zu wünschen gewesen. So liegen die frühen Protokolle des CSU-Landesvorstands bisher keineswegs in gedruckter Form vor, wie Kießling schreibt (40), und die mit zwei verschiedenen Daten als erschienen geführte Strauß-Biografie von Peter Siebenmorgen (41 und 378) lässt nach wie vor auf sich warten; der Autor kann sich ihrer also kaum bedient haben.

Der Hauptteil der Studie zerfällt in drei Kapitel, wobei Kießling zunächst auf die spezifischen Bedingungen der Parteienkonkurrenz im Freistaat eingeht und die politische Kultur, die Asymmetrien im Parteiensystem sowie die Wahlen und das Wählerverhalten in den Blick nimmt. Dann stellt er die vier kollektiven Akteure Landesleitung, Landtagsfraktion, Staatsregierung und Landesgruppe vor und verortet sie im Geflecht der Macht. Schließlich untersucht er unter der Überschrift "Kompetitive Kooperation von Machtzentren" anhand ausgewählter Beispiele deren Verhältnis zueinander und versucht so, hinter das strategische Geheimnis der CSU zu kommen.

Für Kießling sind dabei die Landesleitung mit dem Parteivorsitzenden und die Staatsregierung mit dem Ministerpräsidenten die beiden entscheidenden Gravitationszentren der Partei, während er der Landesgruppe strukturell weniger Bedeutung zumisst und sie vor allem dann als gewichtigen Faktor einschätzt, wenn die CSU an der Bundesregierung beteiligt ist und der Parteivorsitzende aus ihren Reihen kommt. Die Landtagsfraktion hingegen spiele die Rolle einer "Reservemacht der Partei" (338), die dann zum Tragen komme, wenn die anderen kollektiven Akteure geschwächt seien oder sich gegenseitig blockierten. Ob die prinzipiell um die Führung der Partei wetteifernden Machtzentren eher zur Kooperation neigten oder ob sie zu Konflikten bereit waren, hing nach 1988 sowohl von der aktuellen Situation als auch von den Interessenlagen der führenden CSU-Politiker ab. Eher kooperationsbereit, so Kießling, seien die Akteure vor allem dann gewesen, wenn ihre Position wie nach Strauß' unerwartetem Tod noch nicht gefestigt gewesen sei, wenn die potentiell rivalisierenden Machtzentren insgesamt geschwächt gewesen seien oder wenn es bevorstehende Wahlen geboten erscheinen ließen, interne Konflikte zurückzustellen und auf Geschlossenheit zu setzen. Dagegen habe die "Konkurrenz der Akteure bei Schlüsselentscheidungen immer dann" überwogen, wenn "zwischen den Machtzentren Interessengegensätze auftauchten" und diese "aus innerparteilich gefestigten Positionen heraus agierten" (341), wie sich etwa beim Wechsel von Max Streibl zu Edmund Stoiber unter Ausschaltung von Theo Waigel 1993 gezeigt habe.

Mögen diese Einsichten ebenso allgemein wie mechanisch anmuten, so geben Kießlings Ausführungen zur spezifischen Organisationskultur der CSU eine wichtige Antwort auf die Frage, wie die bayerische Unionspartei immer wieder in der Lage war, den schwierigen Spagat zwischen innerer Geschlossenheit und politischer Erneuerung bei gleichzeitigem Machterhalt zu bewältigen. Die CSU stehe als Mehrheitspartei in Bayern allein gegen alle. Diese Situation des verschärften Wettbewerbs "erhöht das Zusammengehörigkeitsgefühl nach innen und erhöht die Geschlossenheit nach außen". Da die CSU "nahezu den einzig aussichtsreichen politischen Aufstiegsweg im Freistaat" darstelle, komme es jedoch "auch zu einer scharfen Konkurrenz nach innen, die zu einer personellen und programmatischen Dynamik führt" - einer Dynamik freilich, die mehr positive als negative Energien freisetze, weil man in der Partei gelernt habe, dass nur der "Erfolg des Ganzen" die "eigene individuelle Karriere" garantiere (345).

Dass diese Einsicht auf schmerzhaften Lernprozessen der frühen Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beruht, erfährt der Leser aber nur am Rande, wie man überhaupt sagen muss, dass Kießlings Studie immer wieder die historische Tiefenschärfe fehlt. Und ob sich die Partei zwischen 1988 und 2003 tatsächlich von der "alten CSU" als einer bayerischen Partei mit bundespolitischem Anspruch zur "neuen CSU" als "bundespolitische Partei, die eine Art Symbiose mit ihrem Wahlgebiet Bayern eingegangen ist" (343), gewandelt hat, ist fraglich. Die Ereignisse nach der Bundestagswahl vom September 2005 und Stoibers Flucht von Berlin nach München lassen die Jahre zwischen 2000 und 2003 eher als vorübergehende Episode erscheinen, die nicht zuletzt der Schwäche der CDU nach der Spendenaffäre geschuldet war. Dagegen trifft Kießlings Aussage, dass die Erfolge der CSU trotz einer spezifischen politischen Kultur im Freistaat nicht auf einem Naturgesetz beruhen, sondern dass sie vor allem mit Blick auf die gegenwärtig zu beobachtenden soziokulturellen Veränderungsprozesse immer wieder neu erarbeitet werden müssen, in vollem Umfang zu. Die CSU sollte bei diesen Sätzen genauso aufmerksam werden wie die Opposition.

Thomas Schlemmer