Rezension über:

Matthias Hambrock: Die Etablierung der Außenseiter. Der Verband nationaldeutscher Juden 1921-1935, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003, IX + 787 S., ISBN 978-3-412-18902-0, EUR 89,00
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Rezension von:
Miriam Rürup
Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Miriam Rürup: Rezension von: Matthias Hambrock: Die Etablierung der Außenseiter. Der Verband nationaldeutscher Juden 1921-1935, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 4 [15.04.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/04/5004.html


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Matthias Hambrock: Die Etablierung der Außenseiter

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Der Verband der nationaldeutschen Juden (VnJ) hatte während der gesamten Dauer seines Bestehens kaum mehr als 3.500 Mitglieder. Er war nie in bedeutender Funktion in deutschen respektive jüdischen Organisationen vertreten. Und gleichwohl spielte er in den nur 14 Jahren seiner Existenz (1921-1935) eine bedeutende Rolle. Es war die des Außenseiters unter Außenseitern - um hier den Titel der Münsteraner Doktorarbeit von Matthias Hambrock über den VnJ aufzugreifen, der sich seinerseits damit an die Studie von Scotson und Elias anlehnt.

Ein Großteil der deutschen Judenheit befand sich gerade in den 1920er-Jahren im Abschluss eines langen Verbürgerlichungsprozesses. Dieser jüdischen gesellschaftlichen Gruppe hielt nun der VnJ gleichsam einen Spiegel vor, in dem er - so könnte man nach der Lektüre überspitzt feststellen - ein Zerrbild davon sichtbar machte, wohin die "Assimilation" Teile der jüdischen Bevölkerung auch führen konnte.

Der VnJ war ein antidemokratischer, das System der Weimarer Republik zutiefst ablehnender Verband. Er stand der der politischen Rechten nahe und hielt sich auch von antisemitisch scheinenden ebenso wie von dezidiert antisemitischen Positionen nicht fern. Diesem Umstand mag es geschuldet sein, dass die Forschung bislang dieses Thema vernachlässigt hat. Denn es ist gerade durch die Geschichte nach 1933 besonders schwierig, sich mit einer ideologischen Strömung zu befassen, die sich bewusst und sehenden Auges in die Nähe der völkischen Ideologie und des Nationalsozialismus begab.

Insofern stellt bereits die Wahl eines so heiklen Themas ein Wagnis dar - die zum Teil fast enervierende Nüchternheit, mit der Hambrock sein Forschungsfeld skizziert und die Ideologie des VnJ geradezu seziert, erscheint unter diesem Blickwinkel als zusätzliches Verdienst und einziger Weg, sich dem VnJ zu nähern.

Es war der Berliner Rechtsanwalt Max Naumann, der im März 1921 den VnJ ins Leben rief und auf den Verband so prägend wirken sollte, dass dessen Mitglieder häufig auch als die "Naumann-Juden" bezeichnet wurden. Gleich als Einstieg in sein Thema wählt Hambrock den Programmparagrafen der Satzung des VnJ, der hier wegen seiner Deutlichkeit zitiert werden soll: "Der Verband nationaldeutscher Juden bezweckt den Zusammenschluß aller derjenigen Deutschen jüdischen Stammes, die bei offenem Bekennen ihrer Abstammung sich mit deutschem Wesen und deutscher Kultur so unauflöslich verwachsen fühlen, dass sie nicht anders als deutsch empfinden und denken können. Er bekämpft alle Äußerungen und Betätigungen undeutschen Geistes, mögen sie von Juden oder Nichtjuden ausgehen, die das Wiedererstarken deutscher Volkskraft, deutscher Rechtlichkeit und deutschen Selbstgefühls beeinträchtigen und damit den Wiederaufstieg Deutschlands zu einer geachteten Stellung in der Welt gefährden." (1) Aus diesem Zitat heraus lassen sich alle Stränge entwickeln, die Hambrock in seiner Arbeit dann auch verfolgt.

In zwölf Kapiteln nähert sich Hambrock seinem Thema. In einer methodischen und inhaltlichen Einführung liefert er einen historischen Überblick über die Geschichte der Emanzipation und Integration der deutschen Juden, wobei er seine Anwendung des Etablierte-Außenseiter-Konzeptes auf die Geschichte der Weimarer Juden insgesamt und des VnJ insbesondere bereits darlegt und dieses Konzept an die Stelle der in der Forschung üblich gewordenen "kollektivistischen Identitätsparameter" (30) "deutsch" und "jüdisch" zu setzen vorschlägt. Aus diesem Blick auf das gesamtgesellschaftliche Umfeld entwickelt er im Folgenden in zwei Schritten eine Organisationsgeschichte des VnJ. Zunächst erörtert er mit einer Fülle von Zitaten die ideologischen Grundlagen, auf denen der VnJ basierte bzw. aus denen er sich bediente.

Eine reine Organisationsgeschichte des VnJ wäre schnell erzählt: Der Verein hatte seine Zentrale in Berlin, seine Mitglieder rekrutierten sich hauptsächlich aus dem Bildungsbürgertum. Als wichtigste Sozialisationsagenturen benennt Hambrock Schule, Militär und Universität. Die Klärung der historischen, strukturellen und ideologischen Grundvoraussetzungen für die Geschichte des VnJ nimmt hier aber nur das erste Drittel des Buches in Anspruch. In den folgenden Kapiteln geht der Autor auf die wichtigsten Aspekte der Verbandspolitik ein. Großen Raum nimmt dabei die Frage der "Ostjuden" ein - eines der zentralen Themen des VnJ. Ein Thema, mit dem der Verband zwar weit verbreiteten Ressentiments in der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung allgemein, aber auch in einem Großteil der jüdischen entgegenkam. Seine Sprache ließ es an antisemitischen Untertönen nicht fehlen - so etwa, wenn der Vereinsgründer Max Naumann von der "Ostjudengefahr" sprach und der "Sturmflut, die uns zu verschlingen droht" (190). Doch nicht nur die "Ostjuden", auch die Zionisten und die so genannte "Zwischenschicht" (222) - deren prominenteste Vertreter Naumann im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) sah - machte der VnJ als Feinde der deutschnationalen Sache und damit als Ziel seiner Angriffe aus. Jeder einzelne Angriff wiederum schien den VnJ zunehmend an den Rand der "jüdischen Gesellschaft" zu drängen und doch nicht näher ins Zentrum der "deutschen Gesellschaft" zu lassen.

In den folgenden Kapiteln geht Hambrock auf die Haltung des VnJ zu wichtigen Themenfeldern und Debatten in der Weimarer Republik ein sowie auf die Auseinandersetzungen um eine einheitliche Haltung des Verbandes in parteipolitischen Fragen. Wie er im achten Kapitel nachweisen kann, war die Partei, der der VnJ programmatisch am nächsten stand, trotz ihres unverhohlenen Antisemitismus die Deutschnationale Volkspartei (DNVP). Zwar bemühte sich der VnJ um eine möglichst überparteiliche Haltung - gemäß der Losung "Wählt deutsch!" (405) - doch positive Reaktionen auf seine Politik ließen sich wenig überraschend vornehmlich in Zeitungen finden, die zwischen DVP und DNVP angesiedelt waren und damit ein nationalkonservatives, rechtes Spektrum widerspiegelten.

Die komplexesten Passagen der Arbeit finden sich aber sicherlich in den folgenden drei Kapiteln: unter der Überschrift "Kritik an den Außenseitern" setzt sich Hambrock mit der Frage nach dem Antisemitismus und dem Umgang des VnJ mit dieser auch gegen ihn gerichteten Bewegung auseinander. In einem weiteren Abschnitt wendet er sich der "Selbstkritik der Außenseiter" zu. Hier führt er aus, wie der VnJ gegen Ende der Weimarer Republik die zunehmend schwieriger werdende Lage der deutschen Juden erkannte, nun aber Wert auf die "Rückbesinnung auf ein nachweislich gelungenes Zusammenleben mit Nichtjuden" (559) legte. Diese Forderung nach Rückbesinnung war Teil der "Erfindung einer nationaldeutschen Tradition", wie Hambrock es im Gegensatz zur jüdischen Tradition und zur These von Shulamit Volkov zuspitzt. Das folgende Kapitel schließlich zieht die letzten Aktivitäten des VnJ und seiner prominentesten Mitglieder soweit möglich bis über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus nach. Es beginnt mit den Loyalitätsbekundungen des VnJ gegenüber dem erfolgreichen NS-Regime, schildert das Verbot und die Auflösung des Verbandes Ende 1935. Die Verfolgungsgeschichten Naumanns und anderer Verbandsmitglieder werden geschildert, deren Lebenswege teilweise bis in die 1960er-Jahre rekonstruiert. Im Schlusskapitel bündelt Hambrock die auf 700 Seiten ausgebreiteten Fäden und setzt sich abschließend mit der Frage auseinander, ob es einen "nationaldeutschen Sonderweg" (711) gegeben habe. Hier kommt er zu dem Schluss, dass der VnJ "gleichermaßen Folge, Ausdruck und Spielball der konflikthaft aufbrechenden 'Ungleichzeitigkeiten'" (720) nach 1918 war und damit tatsächlich einen solchen Sonderweg begründete.

Mit seiner Studie erzählt Matthias Hambrock letztlich eine Geschichte der Weimarer Republik von den Rändern her. Dass sich die umfangreiche Studie streckenweise spröde und allzu nüchtern liest und zuweilen mit Wortungetümen gespickt ist, die aus der soziologischen Fachsprache entlehnt sind, obgleich es ihrer vielerorts so nicht bedurft hätte, tritt als Kritikpunkt in den Hintergrund. Vielmehr kann Hambrock zugute gehalten werden, dass er vielleicht gerade wegen dieser Nüchternheit der Darstellungsform der Leserin das Befremden über dieses Extrem jüdischen, deutsch-nationalen Denkens nicht nimmt, sondern schlicht dazu beiträgt, es als Teil der Vielseitigkeit der Weimarer Republik darzustellen. Damit schärft die Studie den Blick dafür, wie viele Möglichkeiten dieses Jahrzehnt, das in der Rückschau allzu direkt in den Nationalsozialismus führte, gerade auch der randständigen Minderheit der Juden bot - eine Minderheit, die sich zunehmend etablierte und wieder, wie im Fall des VnJ, ihre eigenen Außenseiter hervorbrachte.

Miriam Rürup