KOMMENTAR UND REPLIK ZUM FORUM

über: Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München: Carl Hanser 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 2 [15.02.2006]. URL: http://www.sehepunkte.de/2006/02/forum/joachim-radkau-max-weber-die-leidenschaft-des-denkens-men-2005-104/


Antikritisches

Von Joachim Radkau, Bielefeld

Wie sich der fromme Christ in allen Lebenslagen fragt: "Was würde Jesus dazu sagen?", fragt sich der Weberianer bei dieser und jener Gelegenheit unwillkürlich: "Was würde jetzt Max Weber sagen?" Zum Beispiel, wie würde er auf eine Attacke im Internet reagieren? Freunde mahnen mich, gegen Rezensionen aufzumucken sei - neudeutsch gesprochen - uncool, dagegen ein Zeichen von Stil, zu aller Kritik lächelnd zu schweigen. Aber da taucht vor meinem Innern Max Weber auf, wie stets auf Ehre bedacht, und gibt zu verstehen: Das stolze Schweigen gehört zwar zur Ehre des japanischen Samurai, nicht jedoch zur Ehre des Hochschullehrers. Ganz im Gegenteil, der soll Rede und Antwort stehen. Daher einige Worte zu den "sehepunkte"-Rezensionen meines "Weber".

Zuerst zur Einführung von Nils Freytag. Ganz richtig, in dem überwiegend positiven Presseecho gab es nur einen einzigen "Ausreißer": den vernichtenden Verriß Dirk Kaeslers im "SPIEGEL". Da ist es nicht unangebracht, Nicht-Weberianer darüber aufzuklären, was die Weber-Insider einander ohnehin schmunzelnd zuraunen: daß Kaesler auch für seine Person seit langem an einer großen Weber-Biographie arbeitet. Wenn er - besonders deutlich in dem Schlußsatz seines Essays - seinem eigenen Opus eine Marktlücke offenhalten will, ist das nur zu verständlich. Ich selber allerdings habe mir aus der gleichen Konkurrenzsituation heraus auf den tausend Seiten meines Weber-Wälzers jeglichen, auch den allerkleinsten Seitenhieb auf Kaesler verkniffen.

Kaeslers Essay ist mehr eine Veralberung als eine Rezension, ausgehend von der Behauptung, man könne sich mit meinem Buch nicht auseinandersetzen. Wenn er jedoch in der Internet-Version seiner Attacke den Eindruck erweckt, ich nähme für mich in Anspruch, die "ultimative" Weber-Biographie geschrieben zu haben, ist es vor allem er selber, der diese Idee aufkommen läßt: An keiner Stelle und mit keinem Wort habe ich einen derartigen Anspruch erhoben. Ich als Terminator im Kampf um Weber: welch eine widerwärtig pubertäre Großmannsucht! Nein, wenn ich einen Wunschtraum habe, dann einzig den, hier und da als Inspirator zu wirken, ein Fenster zu öffnen und der Forschung einen kleinen Kick zu geben. Ob das gelingt, hängt nicht nur an mir. Die bisherigen Reaktionen auf mein Buch lassen diesen Wunschtraum als nicht als ganz unrealistisch erscheinen.

Wie Nils Freytag ihn zitiert, sorgt sich Kaesler um eine "Verdunkelung des Werks durch die indiskrete Helligkeit der Bloßstellungen." Nun, ich bin in einem frommen lutherischen Pfarrhaus aufgewachsen. Aber selbst da wurde mit einem gewissen Vergnügen erzählt, daß den Reformator Luther die Erleuchtung, daß der Mensch Gerechtigkeit allein durch Glauben und Gnade erlange, auf dem Abort überkommen sei, als sich eine wochenlange quälende Verstopfung löste. Daß höchste geistige und niedere vegetative Prozesse intim miteinander zusammenhängen, erleben wir an uns selber alle Tage und ist kein Skandal, der den Wert eines Menschen auch nur im allergeringsten mindert.

Nun zu Uta Gerhardt. Mit Recht hebt sie hervor, in meiner Weber-Deutung heiße das "Zauberwort": "Natur". Ich weiß es zu würdigen, daß sie sich mit dem Kern meiner Konzeption, der spannungsvollen Beziehung Webers zur Natur im Leben wie im Werk, intensiv auseinandersetzt, statt sich ganz auf einzelne Episoden einzuschießen. Ein Mißverständnis enthält jedoch ihre Behauptung, ich rücke Weber "in direkte Nähe" zu dem Naturalismus der Proto-Soziologie des 19. Jahrhunderts. Webers Absage an jenen Sozio-Naturalismus, der aus sozialen Einheiten Organismen machte, nehme ich sehr ernst. Weber war demgegenüber, wie ich immer wieder zeige, ein "Naturalist" in einem sehr modernen Sinne: nämlich in dem, daß die realen Akteure der Geschichte für ihn stets die lebendigen Menschen blieben. Wirkliche Körper waren für ihn einzig die biologischen, nicht die metaphorischen Körper.

Nein, kein Zurück zu den organologischen Staats- und Volksideen des 19. Jahrhunderts: Eine Botschaft meines Buches besteht vielmehr in der Aufforderung, mit Weber einen Anschluß der Sozialwissenschaften an die moderne Soziobiologie und an eine zu dieser geöffneten Anthropologie zu suchen. Dabei will ich jedoch beileibe keinen "biologistic turn" der Sozialwissenschaften predigen; vielmehr hängen mir diese ewigen "turns" längst zum Halse heraus, wo alles, was auf "Diskurshoheit" und Drittmittel aus ist, den gerade modischen Jargon nachplappert. Keine neuen Wissenschaftsdogmen und Wissenschaftsmaschen; dafür behutsame und auf Solidität geprüfte Brückenschläge über die Kluft zwischen Snows "zwei Kulturen", der literarisch-geisteswissenschaftlichen und der naturwissenschaftlich-technischen. Eben dies hat auf seine Art auch Max Weber wiederholt versucht; aber da fehlte eine Wissenschaftskultur, die ihn getragen hätte.

Zum Thema "Idealtypus": Ich sehe nicht, wo ich bestritten habe, daß Weber tatsächlich mit idealtypisch gefaßten Begriffen gearbeitet hat, wo ich doch auf Seite 417 Webers Hinweis zitiere, daß die Sprache des Historikers ohnehin von idealtypisch zu verstehenden Worten und "Gedankenbildern" wimmelt. Eben dies läßt sich teilweise als ein Element von Naturalismus verstehen. Wie Horst Baier in seiner Habilitationsschrift zeigte und ich auf Seite 420 erwähne, steht gerade der Webersche Umgang mit dem Idealtypus in innerer Nähe zum biologischen Denken. Um mit Helmuth Plessner zu reden: "Der Idealtypus ist eine Flucht aus dem engen Korsett der Trennung von Natur und Kultur." Uta Gerhardt zitiert weiter unten ohne Kommentar meine These, in gewissem Sinne bedeute auch Webers Postulat der Wertfreiheit ähnlich wie der Idealtypus die Übertragung der naturwissenschaftlichen Einstellung zum Forschungsobjekt auf die Humanwissenschaften. Ihrer Schlußthese, bei mir würde die Werkbiographie "auf die Lebensführung der Person reduziert", möchte ich jedoch mit aller Emphase widersprechen: Ganz im Gegenteil, der Einblick in Webers geradezu schmerzend spannungsvolles Verhältnis zu seiner eigenen Natur wirft ein schärferes Licht auf die ganze Ambivalenz seines Verhältnisses zum Naturalismus in der Wissenschaft und damit auf eine bislang eklatant vernachlässigte Seite seines Werkes.

Nun zu der Rezension von Barbara Hahn. Da muß ich bekennen, daß ich sie auch nach wiederholter Lektüre nicht verstehe. Sie beginnt mit der These, in der Geschichte seien "Zeiten der Biografik Zeiten, in denen zu wenig Fragen bewegt werden." Das bitte ich zu erläutern! In der deutschen Geschichte waren die 1920er Jahre die erste große Zeit der Biographik - zum Wutschnauben der konservativen Historikerzunft - , während im Dunstkreis des nationalsozialistischen Führerkultes keine einzige große Biographie entstand. Eben zu dieser Zeit wurde die Biographie dagegen zum typischen Genre der deutschen Exilliteratur. Apropos: Barbara Hahns gesamte bisherige wissenschaftliche Arbeit ist stark personenorientiert, während meine Publikationen vor dem "Weber" fast ausschließlich von Sachthemen handeln. Wenn sie die Biographik abwertet, trifft das ihr eigenes Lebenswerk weit mehr als das meinige.

Kurz darauf, nachdem Barbara Hahn von Marianne Webers "Lebensbild" gehandelt hat, der Rätselsatz: "Hinter dieser biographischen Arbeit verschwand die editorische." Wie bitte? Hat Marianne nicht vor dem "Lebensbild" in Rekordzeit die erste Gesamtausgabe der Werke Max Webers besorgt, von der die Weber-Forschung über ein halbes Jahrhundert, fast zu lange, zehrte? Mit fast jedem Satz eine neue Konfusion. Max Weber "wurde nach seinem Tod immer und immer wieder psychisch 'erklärt': weil er psychische 'Probleme' hatte." Das sprachliche Niveau will ich nicht weiter kommentieren; aber: Wer erklärte Weber "psychisch": Parsons, Bendix, Winckelmann, Kaesler, Ringer? "Die intellektuelle und politische Sprengkraft von Webers Texten droht stillgestellt zu werden": Wieso, wenn Weber ohnehin schon immer "psychisch erklärt" wurde? Hat nicht Mariannes "Lebensbild" die Ausstrahlung von Webers Werk ungemein gefördert: dadurch, dass man seither hinter dem Werk den lebendigen Menschen, sein Leiden und seine Leidenschaft sah?

Weiter: "Im Hintergrund lauert hier eine gefährliche Vorstellung von Normalität." Genau um diesem Eindruck von vornherein vorzubeugen - nicht aus Exhibitionismus - , habe ich mich schon zu Anfang mit dem Bekenntnis geoutet, daß ich in einer Lebensphase in mancher Hinsicht Ähnliches wie Weber durchgemacht habe. Ich meine, in dem langen Kapitel "Die Dämonen", das von Webers schlimmster Zeit handelt, ist einiges an Mit-Leiden, aber gewiß keine pharisäische Herablassung von der Höhe einer spießigen Normalität zu spüren. Aber auch "banal", wie von Kaesler unterstellt, war die Art seines Leidens überhaupt nicht. Ich habe mehrere mir bekannte Psychiater und Psychotherapeuten gefragt: Einen Fall wie Weber hatten sie noch nie erlebt. Auch in den Neurasthenikerakten der Jahrhundertwende, die ich für meine Nervositätsgeschichte durchstöberte, habe ich Ähnliches allenfalls sporadisch gefunden. Noch am ehesten entdeckte ich einen Präzedenzfall bei dem Kirchenvater Augustinus, der, als er dem Sexus entsagte, von nächtlichen Pollutionen gepeinigt wurde und sich dabei von Dämonen verfolgt vorkam. Das Grübeln darüber mischte sich in seine Theologie ebenso wie in die Wissenschaftslehre Max Webers: Das und nichts anderes ist der Grund, in Webers Leidensgeschichte ins konkrete Detail zu gehen.

Erst im folgenden kommt in Barbara Hahns Rezension endlich eine klare Linie, wenn sie zunächst mir und am Ende auch Max Weber - Antisemitismus, zumindest unterschwelligen, unterstellt. Das macht sie mit dem einfachen Trick, indem sie Passagen, in denen ich antisemitische Positionen jener Zeit beschreibe, als meine eigene Position suggeriert. Da sie auch über Hannah Arendt gearbeitet hat, empfehle ich ihr, Hannah Arendts Brief an Karl Jaspers vom 18. 4. 1966 zu lesen. Da nennt Hannah Arendt solche Leute, die ihren Kontrahenten ohne Grund Antisemitismus anhängen, "eine abscheuliche Gesellschaft".

Es kommt noch toller. Zu Webers bösem Wort: Rosa Luxemburg gehört in den Zoologischen Garten" bemerkte ich, es sei "für heutige Weber-Verehrer die größte Peinlichkeit." Dazu Barbara Hahn: "Antisemitismus - eine Peinlichkeit?" Da unterstellt sie, Webers Wut auf Rosa Luxemburg habe antisemitische Motive. Diese durch nichts bewiesene These möge sie nicht nur ins geduldige Internet stellen, sondern einmal auf einer einschlägigen Tagung präsentieren. Außerdem implizieren ihre Unterstellungen mir gegenüber, daß ein Historiker mit solchen Positionen, die er nicht schärfstens zurückweise, insgeheim sympathisiere. Alles in allem das Postulat einer nicht hermeneutischen, sondern permanent schimpfenden Geschichtsschreibung; denn die Weltgeschichte verläuft nun einmal über weite Strecken höchst unerfreulich. Eine dementsprechende Dauerschimpfe wäre jedoch nicht nur unlesbar, sondern man würde auch nichts aus ihr lernen.

Aus Gangolf Hübingers Rezension habe ich dagegen manches gelernt. So wenn er mich dabei ertappt, daß ich Webers "besonderte" zu "besonderen Gesichtspunkten" banalisiert habe: Von der Sache her macht das nicht viel aus, aber ich weiß solche kleinen Unterschiede zu schätzen. Zumal mir Hübinger im gleichen Atemzug attestiert, ich hätte Webers Maxime vorbildlich beherzigt und zu Beginn meine eigenen "besonderten" (nämlich von der bisherigen Weberforschung abgesonderten) Gesichtspunkte offengelegt. In der Tat war es mir wichtig, mit offenen Karten zu spielen. Ich leugne nicht, daß ich meinen "Natur"-Ansatz mit einer gewissen Einseitigkeit verfolgt habe. Die Forschung kommt nur dadurch voran, daß einer ein bestimmtes Konzept mit einer gewissen Konsequenz durchhält: Andere mögen dann zusehen, wie sie die Mosaiksteinchen aus Webers Leben und Werk zu einem besseren Bild zusammenfügen. Dagegen mit Versicherungen von der Art, die Wurzeln von Webers Denken seien "komplex", kommen wir nicht weiter. Solche Feststellungen sind prinzipiell nicht zu widerlegen; und vom Kritischen Rationalismus haben wir gelernt, daß die Falsifizierbarkeit ein Kriterium wissenschaftsfähiger Aussagen ist. Ich denke, dieses Kriterium trifft auf meine Weber-Interpretation zu. Das läßt auch die Rezension Hübingers erkennen.

Dazu nur ein Pünktchen: Hübinger schreibt, Gladstone sei mir "keine einzige Erwähnung wert". Doch: Auf Seite 602 kommt er vor; nur im Register wurde er (sorry!) vergessen. Auch bei Weber begegnet Gladstone im Kontext "charismatische Herrschaft" nur ein einziges Mal. Daß Weber durch diesen liberalen britischen Staatsmann wesentlich zu seinem Idealtyp des Charismatikers inspiriert wurde, erscheint mir überhaupt nicht plausibel - aber das wäre ein Beispiel für eine prinzipielle Falsifikationsmöglichkeit meiner Darstellung.

Gegen Schluß hält mir Hübinger vor, ich hätte "Webers selbstbewußtes Bürgerbekenntnis" zu wenig beachtet. Nun kommt das Thema Bürgertum an einer ganzen Reihe von Stellen meines Buches zur Sprache; insgesamt allerdings fällt auf, daß das Bürgertum als solches für Weber weder ein Idealtypus noch ein großes Thema, überhaupt ein Thema sui generis ist. In dem voluminösen Opus "Wirtschaft und Gesellschaft" sucht man vergeblich nach dem kleinsten Kapitel "Bürgertum" - was hätte einst der Bielefelder Sonderforschungsbereich "Bürgertum" für ein solches Kapitel gegeben!

Abschließend beanstandet Hübinger, ich hätte den "privaten" allzusehr auf Kosten des "öffentlichen Weber" in den Vordergrund gestellt. Vielleicht ja - das mag ein Stück Geschmackssache sein. Besonders ausführlich bin ich vor allem dort geworden, wo ich etwas Neues entdeckt hatte; das erschien mir sinnvoller, als einmal mehr in aller Breite eine Inhaltsangabe von "Wirtschaft und Gesellschaft" zu präsentieren.

Gleichwohl möchte ich zu diesem Vorwurf zweierlei anmerken. Zum einen: Webers Ausstrahlung wirkte zu seinen Lebzeiten meinem Eindruck nach ganz wesentlich über die kleinen Kreise und pflanzte sich durch diese fort, nicht so sehr durch die große Öffentlichkeit. Und zum anderen: Ich finde die Unterscheidung "privat - öffentlich" nicht sehr weberisch. Für Weber ist die Lebensmethodik der Kern aller großen Bewegungen der Geschichte. Heute würde man sagen: Er suchte das Politische im Privaten - und ist eben dadurch zum Inspirator einer neuen Politikgeschichte prädestiniert. Und ihn faszinierten nicht die großen Staats- und Volkskirchen, sondern die intimeren religiösen Gemeinschaften, die an urwüchsige Formen der Vergesellschaftung anknüpften, und wo die Grenze zwischen "öffentlich" und "privat" nicht existiert. Ich meine, nicht zuletzt dort erkennt man einen fundamentalen Zusammenhang zwischen seinem Denken und seiner Lebenserfahrung.

Last but not least darf ich daran erinnern, daß die Max Weber Gesamtausgabe (MWG), in deren Areopag Hübinger als Nachfolger Wolfgang Mommsens aufgerückt ist, in ihren mit unendlicher Mühe editierten Briefbänden auf der "Philosophie" beruht, alle Lebensäußerungen Webers seien potentiell bedeutsam. Dieses Konzept ist jedoch bislang von keinem Biographen eingelöst und überhaupt die gewaltige MWG von der bisherigen Forschung merkwürdig wenig benutzt worden. Das Gros der üblichen Forschungsansätze kam eben mit den Weber-Ausgaben meiner Studentenzeit aus.

Vielleicht trägt mein "Weber" ein wenig dazu bei, daß das immense Arsenal der MWG künftig etwas ausgiebiger ausgeschöpft wird - und sei es, um mein Opus zu widerlegen. Mariannes "Lebensbild" hat zu einer Zeit, als die unmittelbare Erinnerung an Weber schwächer wurde, sein Bild in den Köpfen neu belebt, gerade auch durch die aufwühlende Schilderung, wie bei Weber "Höllenfahrt" und geistige Auferstehung intim zusammenhingen. Ich denke, auch eine heutige Weber-Biographik, die dieses alte Thema mit neuen Zugängen wieder aufgreift und dem Wechselspiel von Erkenntnis und persönlicher Erfahrung nachspürt, könnte ihr Teil zur Wiederbelebung Webers beitragen.



REPLIK

Von Uta Gerhardt, Heidelberg

Dass Radkau sein Antikritisches mit einem Unterton des Anti bei seiner Kritik an den Rezensenten (und sogar dem Vorspann) vorbringt, möchte ich nicht kommentieren. Meine Replik betrifft nur zwei Missverständnisse in seiner Entgegnung, die wegen der Bedeutung Webers für die moderne Soziologie (und Geschichte) berichtigt werden sollten.

Das eine Missverständnis ist, dass ein Autor, der sich mit Weber befasst und etwa eine voluminöse Biographie über Weber schreibt, eo ipso auch Weberianer wäre. Radkau sagt nur über Andere, dass sie sich für Weberianer halten wie die Christen, der sich an Jesus' Worten orientieren. Er karikiert einen Kollegen, der sich anheischig mache, "Nicht-Weberianer darüber aufzuklären, dass er (Radkau) von sich meine, die immer noch 'ultimative' Weber-Biographie geschrieben zu haben." Es steht außer Frage, dass Radkau sich als Weberianer fühlt.

Gegenüber Radkaus Bekenntnis zur Soziobiologie muss man unterstreichen, dass seine Erkenntnisabsicht, die "mit Weber einen Anschluss der Sozialwissenschaft an die moderne Soziobiologie und an eine zu dieser geöffneten Anthropologie" sucht, nicht in die Tradition Webers passt. Obwohl die vermuteten oder gar behaupteten Anschlussstellen für diese Anschlusssuche nicht genannt werden, kann man vermuten, dass die in den USA entstandene jüngere Soziobiologie, die nach genetisch verankerten gesellschaftlichen Handlungspotentialen fragt, und die seit den vierziger Jahren vorliegende Humananthropologie, die eine Entlastungsfunktion gesellschaftlicher Institutionen unterstellt, zu den solchermaßen empfohlenen und mit Webers sozialwissenschaftlichem Ansatz unvereinbaren soziobiologischen Lehren gehören.

Diese Lehren sind - wegen ihres Wirklichkeitsverständnisses - mit der methodologischen Begründung der Soziologie (Sozialwissenschaften) unvereinbar, die Weber an die Stelle der biologisch-soziologischen Theoreme Auguste Comtes und Herbert Spencers setzte. Man dreht das Rad der Soziologiegeschichte um über hundert Jahre zurück, wenn man - ausgerechnet in einer Biographie über Weber - jene Lebensleistung Webers relativiert, die der Überwindung des Sozialbiologismus galt. Webers Philippika gegen Alfred Ploetz anlässlich des Ersten Deutschen Soziologentages im Jahr 1910 - wenn Radkau den Text zu Ende gelesen hätte - hätte überzeugen müssen, dass ein Anschluss der Sozialwissenschaften an die moderne Soziobiologie mit Weber nicht zu machen ist. Natürlich kann ein sozialbiologisch interessierter Kultursoziologe eine Biographie über Weber schreiben - nur macht ihn dies nicht zum Weberianer.

Das zweite Missverständnis betrifft den Begriff der Natur. Radkau konzediert, meine Rezension habe sein Erkenntnisinteresse angemessen widergegeben, Webers Naturbegriff zu fassen bzw. Weber in den Zusammenhang eines sozialwissenschaftlichen Naturalismus zu stellen. Allerdings scheint es problematisch, in den Schriften - und im Leben - Webers nicht nur einen, sondern vier verschiedene Dimensionen der Natur zu orten. Die vier Bedeutungsebenen, die die Natur in Radkaus Darstellung erhält, passen nicht zusammen. Die vegetative oder psychosexuelle Seite - sofern hier überhaupt Natur am Werke ist - passt nicht zum Animalischen und Aggressiven, einer zweiten Dimension, die bei Weber vorläge. Das Triebhaft-Hedonistische (Stichwort Hassliebe) wiederum passt nicht zur Natur als Schicksal, einer kosmischen Macht, die "keine Gnade kennt", sich gar "rächt", wie Radkau - mit Marianne Weber - meint. Und wenn der Naturalismus Darwins sich in Webers "verstecktem Evolutionismus" (ohne Fortschrittsglaube) und in Kampf als Grundbegriff seiner Soziologie ausdrücken sollte, so ist dies keinesfalls eine Natur, die als Schicksal aufzufassen oder gar der Rache bei etwaiger so genannter Vergewaltigung der Natur fähig wäre. Dies mag zwar im Lebensbild behauptet werden. Aber aus der Perspektive der modernen Soziologie, wie sie durch Weber begründet wurde, muss man immer auch nach den begrifflichen Konstrukten fragen, die verwendet werden, und sich dabei bewusst bleiben, dass es sich um begriffliche Konstrukte handelt - idealiter eben auch Idealtypen. Jedenfalls sollten atavistische Vorstellungen über die Natur, wie sie zur Zeit der Neurasthenie-Apotheose des Psychiaters Möbius - einer dubiosen Figur der Psychiatriegeschichte - um die vorige Jahrhundertwende grassierten und noch bis in die Nazizeit hinein eine gewisse Überzeugungskraft hatten, durch Zitate aus teilweise zweifelhaften Lehrbüchern nicht sozialwissenschaftlich hoffähig gemacht werden.

Eine letzte Bemerkung: Dass Weber Idealtypen verwendet, hat Radkau nicht bestritten, und ich habe ihm nicht unterstellt, er hätte es getan. Aber er verkennt, dass eine Biographie, die Webers Werke berücksichtigt, deren idealtypische Argumentführung wahrnehmen und zum Thema machen muss. Die Vermutung, Weber habe hinsichtlich Idealtypus "eine spontane Naturanlage zu derartigen 'Gedankenbildern'" als den "damals neuesten Stand der Evolutionsforschung" angesehen, ist kein vollgültiger Ersatz für ein textgenaues - und dabei den auf Idealtypen bezogenen Aufbau der Texte Webers berücksichtigendes - Verständnis der Werke.


Anmerkung der Redaktion:
Barbara Hahn und Gangolf Hübinger haben auf eine Replik verzichtet.