Rezension über:

Luca Giuliani (Hg.): Meisterwerke der antiken Kunst, München: C.H.Beck 2005, 185 S., 77 Abb., ISBN 978-3-406-53094-4, EUR 24,90
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Rezension von:
Nadia Koch
Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Nadia Koch: Rezension von: Luca Giuliani (Hg.): Meisterwerke der antiken Kunst, München: C.H.Beck 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 5 [15.05.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/05/9286.html


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Luca Giuliani (Hg.): Meisterwerke der antiken Kunst

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Das Bedürfnis nach einer Orientierung durch Bestenlisten, z. B. der zehn wichtigsten Ausstellungen des Jahres 2005, der zehn bedeutendsten Romane des 20. Jahrhunderts usw., wächst im Zuge der medialen Wissensvernetzung zusehends. Dieses scheinbar moderne Phänomen hat eine lange antike Tradition, die mit den Kanones von Rednern, Dichtern oder Kunstwerken im Hellenismus einsetzt und die bis in die Neuzeit hinein bestimmt hat, welche Texte oder Kunstwerke überhaupt als Exempla für die nachfolgenden Epochen überliefert wurden. Eine solcher Listen im 1. Jahrhundert v. Chr. ist die der Berühmten Kunstwerke der ganzen Welt des Bildhauers Pasiteles (nobilia opera in toto orbe: Plinius, Naturalis historia 36. 39).

Der von Luca Giuliani herausgegebene Sammelband geht auf eine Vortragsreihe der Münchner Klassischen Archäologie zurück, in der acht Fachexperten als Lobredner jeweils eines antiken Werkes auftreten, indem sie aufzuzeigen suchen, was es zu einem Meisterwerk macht. Der antike Gedanke der Kanonisierung von Kunstwerken wird so neu belebt, und der Student der Archäologie, aber auch das kunstinteressierte Publikum erhält anhand der Exempla eine persönlich gefärbte Orientierung im modernen Stimmengewirr von Methodendiskussion und kunstkritischem Diskurs.

Insofern ist es meines Erachtens gar nicht vonnöten, dass der Herausgeber in seiner einleitenden "Gebrauchsanleitung" (7-11) das ganze Projekt aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht mit einem Fragezeichen versieht, weil die Begriffe 'Kunst' und 'Meisterwerk' erst moderne Konzepte darstellten (7). Zwar gibt Giuliani zu Recht zu bedenken, dass in der archäologischen Methode der Meisterforschung allzu oft die vergebliche Suche nach einer bestimmten Meisterhand zum Selbstzweck geworden sei (11); in der gegenwärtigen Kunstdiskussion kann man aber auch Objekte unbekannter Autorschaft als Meisterwerke etikettieren, sofern sie in Konzeption oder Ausführung Meisterschaft im antiken Sinne einer arete technes aufweisen, ohne sich dem Vorwurf aussetzen zu müssen, historisch kaum fassbaren Künstlerindividualitäten nachzujagen. Demgemäß will auch das Buch "von der Genieästhetik wieder zurückfinden auf das ältere Verständnis von Meisterschaft, nicht zuletzt im technisch-handwerklichen Sinn" (11).

Die im Band versammelten acht Meisterwerke fordern zum Vergleich mit einem der berühmtesten Kanones auf, den Sieben Weltwundern, zu denen etwa der kolossale Zeus des Phidias von Olympia, die Pyramiden von Gizeh und der Koloss von Rhodos gehörten. Das hätte man schon in der "Gebrauchsanleitung" thematisieren können, wird das Thema Weltwunder doch auch in der Einzelanalyse angeschnitten (111).

Wie bei den Weltwundern ist auch hier die Denkmälerauswahl vom Konzept der Kolossalität dominiert, nicht nur was die reale Größe der Objekte, sondern zum Teil auch was die Inhaltsschwere der bisherigen Beschäftigung mit ihnen betrifft. So umspannt dieser neue Kanon die Zeit von der Archaik bis in die Spätantike, wobei sechs der Werke sich heute in Rom befinden, eines im Louvre in Paris (Die Nike von Samothrake, 50-71) und nur eines in Griechenland in situ besucht wird (Der Koloss der Naxier, 12-27); die musealisierten Highlights der modernen Kunstmetropolen sind also gegenüber den Funden der antiken Stätten in der Überzahl.

Immerhin sieben Werke sind Plastiken von beachtlichem Format oder Ausführung, einzige Ausnahme hierzu ist - gleichsam als Reminiszenz an den Kanon der Sieben Weltwunder - die Römische Grabpyramide des Cestius (94-113). Wenn die Malerei dabei gänzlich ausgespart bleibt, obwohl diese Kunstgattung es schon in der Klassik zu beachtlichen Großformaten gebracht hatte und auch kunsttheoretisch führend war, so zeigt das die nach wie vor starke Verankerung der Klassischen Archäologie in der Winckelmann'schen Tradition.

Was die formal so vielfältige Auswahl vereint, ist die Besonderheit der Fund- oder Wirkungsgeschichte im Einzelnen. Der schon im früheren Quattrocento von Ciriaco d'Ancona gezeichnete, ehemals 9 m hohe Naxier-Kouros von Delos (13, Abb. 2-3) gehört daher ebenso wie der 1506 unter den Augen Michelangelos gehobene Laokoon (73) zu den unbestrittenen nobilia opera sowohl, was die arete technes als auch, was die Umstände ihrer Entdeckung und Rezeption betrifft. Die acht Meisterwerke zusammengenommen schaffen auf diese Weise ein facettenreiches Panorama der Rezeptionsformen antiker Kunst von der Kaiserzeit über die Frühe Neuzeit bis in die moderne archäologische Forschungsdiskussion hinein.

So zeigt der Beitrag von Rolf M. Schneider, wie sogar ein Produkt der imitatio, nämlich die Kopie des Lysippischen Herakles aus den Caracalla-Thermen, statt als defizientes Rezeptionsphänomen nun als Meisterwerk der Transformation betrachtet werden kann (136-157). Umgekehrt wandelt sich das Bildnis des Commodus als Hercules - aufgrund seiner ikonografischen Poikilia heute schwer rezipierbar - im Zuge der Beschreibung Ralf von den Hoffs von einem geschmacklich bedenklichen Pasticcio zu einem Faszinosum der "Oberflächenästhetik" (117), das es durchaus mit den Porträts Berninis aufnehmen kann.

Dass dieses Panorama ein interessantes Gesamtbild ergibt, ist auch der Einheitlichkeit der Fragestellung zu verdanken, die die acht Wissenschaftler gewahrt haben. Vorherrschend ist das Ziel, eben nicht an vorgeprägten Stilbegriffen, sondern am Zusammenspiel von inventio und handwerklicher Umsetzung aufzuweisen, worin die arete technes besteht. Zwar wird dieses Vorgehen nicht kunsttheoretisch reflektiert, es scheint aber in den meisten Beiträgen auf. [1] Dafür wird oft ein antiker Betrachter eingeführt (14, 66, 75, 103, 150, 175), mit dessen Augen der Leser die antike Umgebung des Werkes, etwa Heiligtum oder Basilika, erkundet.

Das ist natürlich ein Spiel, denn der antike Betrachtungskontext ist nie eine Konstante gewesen, sondern konnte sich von der archaischen Epoche des Naxier-Kolosses bis zum 4. Jahrhundert n. Chr., in dem man den Konstantin-Koloss aufstellte (165), erheblich wandeln. Letztlich verbirgt sich hinter dem so genannten antiken Betrachter immer der Altertumswissenschaftler, der sich in einen archäologisch rekonstruierten Kontext hineinversetzt. Solange aber eine antike Kulturgeschichte des Sehens noch nicht geschrieben ist, ist es zu begrüßen, dass man den Leser als 'Betrachter ins Bild' holt und so der Rezeptionsästhetik in der Klassischen Archäologie einen festen Platz sichert. [2]

Trotz des anfänglich vom Herausgeber gesetzten Fragezeichens wird im Buch ein neues Bekenntnis zu einer Archäologie des Ausrufezeichens erkennbar, wie etwa die Beschreibung der Nike von Samothrake durch Andreas Grüner zeigt: "Damit nicht genug. In dieser nächsten Sekunde wird sich an einer anderen Stelle des Körpers etwas ganz ähnliches ereignen. [...] Im nächsten Moment wird der Saum des Kleids über die linke Brust nach unten rutschen [...]. Dieser Film läuft natürlich nur im Kopf des Betrachters ab" (66).

Von den gängigen Werksammlungen unterscheidet sich diese also darin, dass sie die Objekte nicht einem wissenschaftlichen Raster unterwirft, sondern im Dialog des betrachtenden Subjekts mit ihnen Momente ästhetischer Persuasion aufzudecken sucht; dadurch wird das Buch zum Experiment einer neuauszulotenden Subjektivität des Betrachtens, die man noch vor zehn Jahren im Fach als unwissenschaftlich abgewiesen hätte.


Anmerkungen:

[1] Exemplarisch der Ansatz Rolf Michael Schneiders bei der Interpretation des Hercules Farnese (137): "Dabei geht es mir nicht um ein nach neuzeitlichen Maßstäben verabsolutiertes Meisterwerk, sondern um die konkrete Meisterschaft eines antiken Standbilds [...]: in seinem konkreten Entwurf, seiner handwerklichen Vortrefflichkeit und seiner kontextuellen Inszenierung".

[2] Wolfgang Kemp: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Neuausgabe, Berlin 1992.

Nadia Koch