Rezension über:

Monika Kaiser / Daniel Hofmann / Hans-Heinrich Jansen (Bearb.): Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe. Band 3: 1. Januar 1973 bis 31. Dezember 1974, München: Oldenbourg 2005, LXVIII + 970 S., ISBN 978-3-486-57668-9, EUR 89,90
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Rezension von:
Wolfgang Schmidt
Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Schmidt: Rezension von: Monika Kaiser / Daniel Hofmann / Hans-Heinrich Jansen (Bearb.): Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe. Band 3: 1. Januar 1973 bis 31. Dezember 1974, München: Oldenbourg 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/07/10239.html


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Monika Kaiser / Daniel Hofmann / Hans-Heinrich Jansen (Bearb.): Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe

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Nach der Ratifizierung der Ostverträge und der Unterzeichnung des Grundlagenvertrags trat die Deutschlandpolitik 1973 in eine neue Phase ein. Rasch entpuppte sich die Formel von der "Normalisierung" der innerdeutschen Beziehungen und des Verhältnisses zu den osteuropäischen Nachbarn als Schimäre. Die 285 sorgfältig kommentierten Dokumente geben Zeugnis vom mühsamen Ringen um Prinzipielles und kleinste Fortschritte.

Die Beziehungen zwischen Bonn und Ost-Berlin stehen erwartungsgemäß im Mittelpunkt. Aber auch die internationalen Zusammenhänge werden gebührend berücksichtigt. Die KSZE-Verhandlungen, die Gespräche mit der ČSSR über den Prager Vertrag und die Beziehungen zur Sowjetunion werden ebenso dokumentiert wie die äußerst schwierigen Unterredungen mit Warschau über deutsche Übersiedler, Wirtschaftshilfe, Rentenabkommen sowie Wiedergutmachungsforderungen für KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter.

In der Berlin-Frage kam die internationale Seite der Deutschlandpolitik am deutlichsten zum Vorschein. Das Bestreben der Bundesrepublik, mit der Gründung des Umweltbundesamtes in West-Berlin die Bindungen auszubauen, traf auf heftigen Widerstand des Kreml, der eine Abwehrfront der "sozialistischen Bruderstaaten" organisierte. So erhielt das SED-Politbüro im Januar 1974 den sowjetischen Entwurf einer Demarche an die Bundesregierung. Selbstverständlich machten sich die deutschen Genossen die Stellungnahme zu Eigen (Nr. 113, 113A). Immer wieder wird deutlich, wie stark Ost-Berlin von Moskau abhängig war. Vor diesem Hintergrund erscheint das Pochen der DDR auf westlicher Anerkennung ihrer "Souveränität" einmal mehr als Farce.

Allerdings weckte der forsche Vorstoß Bonns in Sachen Umweltbundesamt auch bei den westlichen Partnern keine Begeisterung. Die Drei Mächte fühlten sich von der Bundesregierung "nicht frühzeitig und ausreichend genug konsultiert" (Nr. 116, 120). Egon Bahr kam darob Ende Januar 1974 zu der Einsicht, man solle auf weitere Bundesämter in West-Berlin "bis auf weiteres" verzichten (Nr. 129).

Natürlich schlug der Streit um die Interpretation des Vier-Mächte-Abkommens auf die innerdeutschen Beziehungen durch, war indes nur ein Teil der Differenzen. Was der Grundlagenvertrag eigentlich schon geregelt zu haben schien, wurde in den monatelangen Verhandlungen über die Errichtung Ständiger Vertretungen erneut zum Thema.

Die Bundesregierung beharrte darauf, ihrem Verhältnis zum zweiten deutschen Staat nicht den Charakter diplomatischer Beziehungen zu geben, weil die DDR für sie nicht Ausland sein konnte. Die Wiener Konvention war folglich nur "analog" auf das Personal der jeweiligen Vertretungen anzuwenden. Ferner durfte die Vertretung Ost-Berlins nur beim Kanzleramt und nicht, wie sonst bei Botschaften üblich, beim Auswärtigen Amt angebunden werden.

Diesbezüglich hatte die Bundesregierung spätestens nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Juni 1973 ohnehin keinen Raum zum Manövrieren. Honecker jedoch sah "Revanchisten" am Werk. Herbert Wehner, der diese Auffassung teilte, hielt als Stellungnahme des SED-Chefs fest: "In zwei Jahren wird sich niemand mehr an das Geschreibsel von Juristen erinnern, die noch im Mittelalter zu leben scheinen" (Nr. 96). Über ein Jahr verging, bis beide Seiten sich - mit Moskaus Segen - auf eine Regelung verständigt hatten, die für Bonn akzeptabel war. Aber als die Vertretung der Bundesrepublik im Mai 1974 in der Hannoverschen Straße endlich ihre Arbeit aufnehmen konnte, belasteten die Guillaume-Affäre und Brandts Rücktritt den Start.

Die Dokumente lassen erkennen, warum sich die innerdeutschen Beziehungen 1973 viel schlechter als erhofft entwickelten und hohe Erwartungen über Verbesserungen in humanitären Fragen sowie beim Besuchs- und Reiseverkehr enttäuscht wurden. Die beiden Hauptgründe sind:

Einerseits war die DDR-Führung mit voller sowjetischer Rückendeckung stets bestrebt, sich von der Bundesrepublik klar abzugrenzen. So wurden bereits gegebene Zusagen für Ausreisen zurückgezogen bzw. ihre Verwirklichung verzögert ("Kofferfälle"). Behinderungen im Transitverkehr gehörten ebenso zum Abschreckungsmuster wie ein von der Stasi organisierter Schauprozess gegen Fluchthelfer. Im November 1973 folgte die plötzliche Verdopplung des Mindestumtauschsatzes für Besucher aus dem Westen und schließlich im Oktober 1974 die Streichung aller Bezüge auf die Wiedervereinigung in der DDR-Verfassung.

Andererseits gebrach es der Regierung Brandt an einer durchdachten Koordination und Kommunikation ihrer deutschlandpolitischen Mittel und Ziele. Eine zentrale Steuerung der Verhandlungen mit der DDR fand zunächst kaum statt. Als das Verhältnis zunehmend schwieriger wurde, ergriff nicht der Kanzler selbst die Zügel, sondern überließ es SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, den direkten Kontakt mit Erich Honecker herzustellen. Erstmals sind komplett dokumentiert alle Aufzeichnungen über diese Kontakte mit dem ersten Mann der DDR sowie die von Wehner bzw. Greta Burmester niedergeschriebenen Mitteilungen, die Honecker über Rechtsanwalt Wolfgang Vogel übermittelte, darunter auch bisher unveröffentlichte Papiere. Dafür wurde auf DDR-Bestände und auch auf das Helmut-Schmidt-Archiv in Hamburg zurückgegriffen.

Willy Brandt wie sein Nachfolger Helmut Schmidt nutzte die von Wehner seit Mai 1973 etablierte "Kontaktebene", um Mitteilungen und Briefe mit Honecker auszutauschen. Das war insbesondere dann nötig, wenn die Gespräche auf der Verhandlungsebene Gaus-Nier und bei den im Grundlagenvertrag vereinbarten Folgeverhandlungen stockten. Allerdings machte Brandt von der Kontaktebene nur sporadisch Gebrauch, während Schmidt die Verbindungen systematischer und mit klaren Zielvorstellungen in Anspruch nahm. Er war eindeutig Herr des Verfahrens und hatte damit auch Erfolg: Die Erhöhung des "Swing" für die DDR im Dezember 1974 wurde an spürbare Verbesserungen beim Mindestumtausch gekoppelt (bes. Nr. 251, 261) und zeigte das Muster für die folgenden Jahre: Menschliche Erleichterungen mussten von Bonn mit Wirtschafts- und Finanzhilfen "erkauft" werden.

Über die Rolle Herbert Wehners darf weiter gestritten werden. Einige Dokumente stellen seine Loyalität gegenüber der sozial-liberalen Regierung, den Prinzipien ihrer Deutschlandpolitik in Frage. Dem Leser vermittelt sich zudem der Eindruck, dass Wehners Kontakte zu Honecker die Verhandlungen manches Mal eher komplizierten als vereinfachten. Denn die überlieferten Äußerungen aus seinen Gesprächen mit der anderen Seite zeigen einen Mann, der ehrverletzende Aussagen über Repräsentanten des eigenen Lagers machte und sich häufig von Standpunkten der Bundesregierung distanzierte, anstatt sie zu vertreten. Wehners Hass auf Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz und auf Egon Bahr, den er m. E. völlig zu Unrecht für die so genannten "Kofferfälle" verantwortlich machte, ist groß gewesen. Dass auch Willy Brandt nicht gut wegkam und als Naivling ("illusionäre Absichten"; "Brandt sei der Meinung, dass sich alles von selbst regelt") dargestellt wurde, war bekannt.

Bislang nicht bekannt war eine Charakterisierung Helmut Schmidts, die Wehner einer Kontaktperson der DDR in einer Unterredung am 21. Oktober 1974 lieferte. Nachdem der Gesprächspartner angemerkt hatte, dass Honecker Vertrauen in den "bewiesenen Realismus" des SPD-Fraktionsvorsitzenden habe, sich dessen aber bei Schmidt nicht sicher sei, entgegnete Wehner: "Diese Einschätzung treffe schon den Kern der Sache, es sei aber nicht ganz so schlimm wie unter Brandt." Zugleich warnte er vor dem "Fettsack" Genscher, denn der Außenminister werde in Moskau darauf drängen, Druck auf die DDR auszuüben. Und am Ende des Gesprächs erklärte Wehner: "Manchmal käme er sich wie ein Bote in Sachen 'DDR-Anliegen' vor" (Nr. 238). Die Interessen der Bundesrepublik hat er zweifellos mehrfach grob missachtet.

Der vorliegende Band ist eine hoch interessante Dokumentensammlung, die auf breiter Archivbasis ein deutschlandpolitisches Panoptikum der Jahre 1973/74 bietet. Der Forschung wird damit ein wertvoller Dienst erwiesen. Zu Gunsten einer längeren Einleitung mit einer weiter gehenden Einordnung in den historischen Kontext hätte auf das ein oder andere schwer verständliche oder redundante Dokument verzichtet werden können. Diese Kritik soll und kann gleichwohl das Lob für die exzellente editorische Arbeit nicht schmälern.

Wolfgang Schmidt