Rezension über:

Jan C. Behrends: Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und der DDR (= Zeithistorische Studien; Bd. 32), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, 438 S., ISBN 978-3-412-23005-0, EUR 49,90
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Rezension von:
Jan Foitzik
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Jan Foitzik: Rezension von: Jan C. Behrends: Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und der DDR, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 12 [15.12.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/12/9128.html


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Jan C. Behrends: Die erfundene Freundschaft

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Der Verfasser präsentiert in sechs Kapiteln die "Propaganda für die Sowjetunion in Polen und in der DDR" in "beziehungsgeschichtlicher, transnationaler und vergleichender Perspektive" als Geschichte eines Umerziehungskonzepts. "Die starke Verflechtung der nationalen Sowjetisierungsgeschichten [...] relativiert nationale Erklärungen. Sowohl der Homogenisierungsdruck des Zentrums als auch die spezifischen Reaktionen in den Gesellschaften des sowjetischen Imperiums lassen sich als verflochtene Parallelgeschichten besser greifen" (373). Die Analyse der Sowjetisierung Ostmitteleuropas ermögliche schließlich erst der diachrone Vergleich mit der sowjetischen Kulturrevolution der Dreißigerjahre und der Sowjetisierung Russlands, heißt es im Resümee weiter.

Konkret unterscheidet der Autor zwischen der Phase der "pragmatischen Sowjetisierung" 1944-47, der eine "utopische Sowjetisierung" als Inszenierung der "Großen Freundschaft" 1949-55 folgte, in der Stalin die Reichsidee des sowjetischen Imperiums personifizierte. Die Herrschaftskrisen 1953-57 in der DDR und Polen, die "auch eine Krise der Herrschaftsrepräsentation" waren und "Schwächen des Propagandastaates" offenbarten, legten zugleich den Blick auf eine Gesellschaft frei, die "in älteren Traditionen und Mentalitäten verhaftet" war. Das abschließende Kapitel 6 heißt "Epilog: Der lange Herbst der Großen Freundschaft 1957-1989". Ob nur eine "Aufweichung des Sowjetuniondiskurses" (356) oder gar gleich sein "Ende" (361) eintrat, bleibt wohl dem weiteren Diskurs überlassen.

In beinahe feuilletonistischer Form wird knapp informiert: Nach 1957 kehrte der "parteistaatliche Herrschaftsdiskurs in modifizierter Form zurück", aber es erfolgte auch eine "Dekonstruktion des utopischen Ortes Sowjetunion". "Schließlich trug die Anwesenheit der sowjetischen Truppen [...] dazu bei, dass der Kommunismus in Teilen der Gesellschaft als Fremdherrschaft wahrgenommen wurde" (365). Der Papst-Besuch 1979 in Polen offenbarte "den vollständigen Kontrollverlust des Parteistaates über den öffentlichen Raum", die "Gegenöffentlichkeit" der Solidarnosc wurde zur "eigentlichen Öffentlichkeit". In der DDR war ab 1987 die Freundschaft zur Sowjetunion nicht mehr Staatsräson, sondern nur noch Fassade (369).

Dieses zwar meisterhaft erzählte Buch präsentiert allerdings keine "Meistererzählung", sondern Einzeldetails in "neuen" Schablonen, unter deren "apodiktisch-superlativischen" (88) Omnipräsenz die Darstellung sehr leidet. Das konzeptionelle Passepartout wird in der Einleitung auf 20 Seiten detailliert ausgebreitet, um "soweit wie möglich in das sprachliche Niemandsland der beherrschten Subjekte" vorzustoßen (27), und noch in den ersten beiden Kapiteln wird dem Leser bei jeder sich bietenden Gelegenheit jedes auf dem Wegesrand liegende "theoretische Deutungskonzept" wie eine Trüffelknolle unter die Nase gehalten. Der Jargon wird aber mit jedem Kapitel dünner und hört stellenweise sogar ganz auf, um im Resümee wieder aufzutauchen.

Das Buch macht insofern verlegen, als sich der Autor zweifellos viel Arbeit und Mühe gemacht hat. Generell übersieht er die Komplexität kultureller Adaptionsprozesse und arbeitet mit auslegbarer Begrifflichkeit. Stichwort "Öffentlicher Raum": Was meint das konkret in Polen, wo damals zwei Drittel der Bevölkerung auf dem Land lebten und wo noch in den Fünfzigerjahren der Pfarrer im Triumvirat mit dem "größten Bauer" und dem Parteisekretär das Sagen hatte? Ist der "öffentliche Raum" in Warschau zu suchen, wo der frühere Arbeiter und Bauer seinen Dienst für Partei und Staat versah, oder in seinem Heimatdorf, wo er am Sonntag, schon um des Hausfriedens willen (war er doch auf die Viktualienhilfe der dörflichen Verwandten noch für Jahrzehnte angewiesen), demütig zur Beichte ging? Welchen Stellenwert hatte der durch "Radiofizierung" geschaffene "öffentliche Raum", solange Stromsperren den alltäglichen Resonanzboden des "utopischen Sowjetuniondiskurses" determinierten? Solche und andere Mängel hießen in der utopischen Diskursphase in der Umgangssprache "Sowjetisierung". Ein herrschaftsoffiziell ausdrücklich verbotener Terminus und lange nur ein Schimpfwort, bis sie die modernistische westliche Wissenschaft zu einem Fachbegriff ihrer abstrakten Konzeptexperimente veredelte und damit die ohnehin beschädigte informelle Sprache der immanenten Propaganda-community auch semantisch kontaminierte, um im System zu bleiben. Ein zentraler Aspekt sowohl für die innersystemische Binnen- wie die transkulturelle Außenkommunikation, der nicht thematisiert wurde. Vergeblich sucht man auch nach der Forderung, "in der Wahrheit zu leben", wie es Vaclav Havel später literarisch postulierte, ab 1953 in Ungarn noch umgangssprachlich als der Wunsch "nicht lügen zu müssen" artikuliert, die eine transnationale Konstante im Diskurszusammenhang einer "Welt als Lüge und Verstellung" darstellt.

In der Hauptsache beruht die Arbeit auf der Auswertung gedruckter Quellen und Literatur. Die im Jahr 2004 abgeschlossene Dissertation ignoriert die etwa 30 laufenden Meter sachthematischer russischer SMAD-Akten, die das Bundesarchiv seit 2000 im Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) mikroverfilmt. Nicht begründet wird auch die Wahl des (durchaus wertvollen, aber systemimmanent randständigen) Bestandes WOKS (Unions-Gesellschaft für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland). Den Umstand, dass WOKS 1957 aufgelöst wurde, überinterpretiert der Autor als einen diskursiven Autonomiegewinn (356). Tatsächlich führte die Aufgaben des WOKS bis 1992 jedoch der SSOD (Verband der sowjetischen Gesellschaften für Freundschaft und kulturelle Beziehungen mit dem Ausland) fort, von 1957 bis 1967 sogar von einem dem Ministerrat der UdSSR angegliederten Staatskomitee für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland geleitet.

Das vorgestellte Ergebnis wirkt insgesamt "postkommunistisch". Dies dürfte vor allem auf die intensive Auswertung der "jüngeren" polnischen Aufarbeitungs- und Distanzierungsliteratur und die darin nachweisbare Weichspülwirkung des westlichen Wissenschaftsmodernismus zurückzuführen sein. Mancher Fehler hätte sich durch ein sachadäquates Studium empirischer Quellen vermeiden lassen. Zur Illustration einige Beispiele: "Das Gros der ab 1945 veröffentlichten Texte über die UdSSR wurde [...] nicht von sowjetischen Autoren verfasst, sondern von Polen und Deutschen [...]" (56). In Wirklichkeit war aber der Direktimport der Sowjetunion-Propaganda in der Nachkriegszeit ein sowjetisches Monopol. Dies musste jedoch verschleiert werden, um die einheimischen kommunistischen Parteien vom Odium des Handlangers der Besatzungs- bzw. Führungsmacht zu befreien. Stalins "Kurzer Lehrgang" wurde vom SMAD-Verlag beispielsweise in 540.000 deutschen und in 1.000.000 polnischen Exemplaren herausgebracht, und die polnische Verfassung von 1952 blieb mit linguistischen Russizismen behaftet, weil sie auf persönliche Verbesserungen Stalins zurückgingen. Sogar schriftlich dankte auch Jürgen Kuczynski als Vorsitzender der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft Genossen Oberst Tjulpanow dafür, dass er seine Vortragstexte "kompetent kritisch" durchgesehen hatte. Was die Motive der Verfasser von Propagandaschriften angeht: Wer seine "eigenen Werke" gedruckt sehen wollte, musste eine "freiwillige gesellschaftliche Selbstverpflichtung" eingehen und ein bestimmtes Soll an "Pflichtpropaganda" abliefern. Last but not least: Auch der Aktenniederschlag wäre kritisch als Diskurselement zu reflektieren, zumal die nationalen Leistungsmeldungen über die Mobilisierungskraft der Freundschaftsgesellschaften gegenüber den sowjetischen Kontrollmeldungen im Einzelfall um das Hundertfache überzeichnet waren.

Weniger wäre mehr gewesen. Der Autor ist nicht zu den eigentlichen nationalkulturellen Diskursen vorgestoßen, die nicht nur in Polen ab den Fünfzigerjahren in den Herrschaftsdiskurs integriert waren: Die Sowjetunion war darin tabu. Für die DDR trifft dies wohl in einer anderen zeitlichen Dimension zu. Frappant ist jedoch auch hier die (durch "geheime" Meinungsumfragen unter Jugendlichen indizierte) etwa Ende der Sechziger-/Anfang der Siebzigerjahre festgestellte spontane gesellschaftliche Verweigerung des Sowjetuniondiskurses (vulgo: negative Einstellung zur Sowjetunion und Übernahme westlicher Werte). Was die Theorie angeht: Sie wird mehr suggeriert als elaboriert.

Jan Foitzik