Rezension über:

Alastair Wright: Matisse and the Subject of Modernism, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2004, 287 S., 119 plates, ISBN 978-0-691-11830-7, GBP 22,95
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Rezension von:
Bärbel Küster
Institut für Kunstgeschichte, Universität Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Bärbel Küster: Rezension von: Alastair Wright: Matisse and the Subject of Modernism, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2004, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 1 [15.01.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/01/10316.html


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Alastair Wright: Matisse and the Subject of Modernism

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In der Matisse-Forschung verbreitete sich ab den 90er-Jahren ein Unbehagen an formalistischen Interpretationen, die Matisse in einen ahistorischen, transzendenten Raum versetzten. Bereits 1988 hatte James D. Herbert dies als "Matisse without history" kritisiert. Es folgten Publikationen zur kulturgeschichtlichen Kontextualisierung des Werkes (Herbert, Küster), psychoanalytische Deutungen (Werth) oder wie in der jüngsten Ausstellung in Düsseldorf Fragestellungen an das Sujet. Genauer untersucht wurde auch, wie sich Matisse mit anderen und alten Kulturen und Traditionen auf seinen Reisen auseinander setzte. [1]

Der Titel des 2004 erschienenen Buches von Alastair Wright "Matisse and the subject of modernism" (basierend auf seiner bei Rosalind Krauss an der Columbia University eingereichten Dissertation von 1997), scheint vor diesem Hintergrund wenig spezifisch, lässt aber auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Mythos des Modernismus hoffen. Er legt zudem nahe, dass der Modernismus nicht nur - der formalistischen Tradition Greenbergscher Kritik entgegenarbeitend - an die Entwicklung abstrakter Oberflächengestaltung gekoppelt war, sondern explizite "subjects"/Themen besitzt.

Ausgehend von der Frage, was an den Werken von Matisse 1905 bis 1913 für die zeitgenössische Kritik so beunruhigend war, entwickelt Wright einen dekonstruktivistischen Thesenkomplex: Matisse arbeite mit seiner Formensprache an der Fragmentierung von Bedeutungen und Tradition (11) und hinterfrage damit die Modernität grundlegend (12). Dem Derrida'schen Ansatz folgend muss der Autor hierfür Modernismus/Modernität (die nicht unterschieden werden) und Tradition als binäre Struktur aufbauen, die es zu dekonstruieren gilt. Dass weder Modernismus noch Tradition historisch verankert werden (außer mit einem gleichnamigen Kurztext des Künstlers selbst von 1935), deutet sich bereits in der Einleitung an, auch ein Forschungsstand zu Matisse wird nicht eingeholt. Implizit arbeitet der Autor mit dem zeitlichen Rahmen der "modernistischen Malerei", den Clement Greenberg 1960 abgesteckt hat (ohne dessen Betonung der Oberfläche zu teilen, 166), und zugleich gegen ein Matisse-Bild, das an dessen 1908 geäußertem Wunsch, "Lehnstuhl"-Kunst zu machen, und den harmonischen Werken der 20er-Jahre orientiert ist. Explizit arbeitet er gegen die Kunstgeschichtsschreibung des "source hunting" - die Suche nach visuellen Quellen künstlerischer Inspiration - und gegen die "Einflusskunstgeschichte". Stattdessen soll der sozio-kulturelle Hintergrund verdeutlichen, dass in den Werken Matisses ein dialektisches Verhältnis von Tradition und Modernismus wirke. Methodisch beschreitet Wright mit der Analyse zeitgenössischer Kunstkritiken zwar einen rezeptionsanalytischen Weg, der aber in einer dekonstruktiven Evokation von Zusammenhängen mündet. Seine Bildinterpretationen sind semiotisch geprägt.

In drei Teilen werden dekonstruktivistische Tendenzen in Werken von Matisse und im Diskurs über sie konstruiert: das Verschwinden der künstlerischen Identität, die Unterminierung der französischen Tradition des Klassizismus, das Aufbrechen des "westlichen Blicks" zu Gunsten eines orientalischen. Diese Thesen entwickelt er jeweils anhand einzelner Werke mit einer Fülle von Quellenmaterial und vielen Farb- und Schwarzweiß-Abbildungen unterstützt von einem ausführlichen Apparat.

Das erste Kapitel erläutert anhand der Kunstkritik zu Luxe, calme et volupté von 1905 und den wechselnden Stilen des Künstlers von 1904 bis 1906, dass Matisse sich der üblichen Identifizierung von Künstler und Stil ("style was the index of the artist", 18) entziehe. Diese Entindividualisierung (39) verschiebe den Referenten der Bilder vom Künstlersubjekt zu intertextueller Referenz (48). Im zweiten Kapitel beschreibt Wright die Übergangsphase Matisses von den postimpressionistischen Versuchen bis hin zu den fauvistischen Skandalbildern als eine Entwicklung des Sehens von der Verflüssigung der Mimesis (66) bis hin zu einem schizophrenen Zusammenbruch (85). Eine Loslösung des Zeichens von seiner Bedeutung zeige La Gitane (1906), die den Betrachter zwar mit einer einladenden Geste ins Bild ziehe, ihn auf der Bildoberfläche jedoch durch grobe Malweise und grelle Pigmente zurückstoße. Die auffällige Emotionslosigkeit der Dargestellten sowie schrille, abschreckende Farben distanzierten die Wahrnehmung ebenfalls. Der daran angeschlossene Diskurs über das Schizophrene und Ungesunde, deren historische Fundierung in den Quellen nicht recht gelingt, interpretiert Wright -angelehnt an Simmels "Ästhetik des Geldes" - im Kontext einer gesellschaftlichen Entfremdung durch den Kapitalismus.

Die folgenden Kapitel 3 und 4 untersuchen das Verhältnis zur französischen Tradition der Klassik anhand der großformatigen Werke Luxe, calme et volupté von 1905 und Le Bonheur de vivre von 1906. Anders als Herbert sieht Wright Matisse gegen die Klassik arbeiten ("undoing of tradition", 111) - wobei er seine Argumente nicht am historischen Kontext sondern in Abgrenzung zu Maurice Denis gewinnt. Matisses Abkehr von der Tradition sei mit Baudelaire als das Misslingen des kulturellen Gedächtnisses in der Moderne (117) zu verstehen. Mit Proust und Benjamin stehe die Tradition als "kalte Erinnerung" (122) da. Ergänzt wird dies durch konkurrierende Diskurse über das Verrückte, das Prähistorische und das Dionysische, die er in der Kunstkritik zu Matisses bekannten Bildern aus den Jahren 1905-1910 findet.

In den letzten beiden Kapiteln widmet sich Wright der Dekonstruktion der Identität des "Westens" (gemeint sind die Kolonialmächte Zentraleuropas) in dem großen Aktbild Nu bleu von 1907. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Rassenvorstellungen gelesen, werde Bekanntes fremd: Die rosa Haut des weiblichen Aktes sei ein Zeichen der europäischen Rasse, während die männlichen Züge eher in den nordafrikanischen Raum wiesen. Diese uneinheitliche "visual semiosis" (175) stilisiert Wright als eine "Métissage", "infiltrated by the non-white world", als ein für die Kritik angsterregendes "debasement of the European" (191). Im Kapitel "Seeing difference" plädiert Wright für die Auffassung, dass Matisses Werke der Marokko-Reisen 1912 und 1913 über den Orientalismus des 19. Jahrhunderts hinausgingen. Matisse breche den europäischen Blick ("gaze") zu Gunsten des orientalischen "mode of looking" (216) auf: eine oszillierende Art unscharf und nicht auf das Dargestellte zu blicken. Bild-Räume würden dadurch aufgebrochen, Identitäten gerieten aus den Fugen.

Da Wright mit der zeitgenössischen Kritik argumentiert, verwundert, dass er hier keinen Hinweis auf den Kubismus gibt und dass ihn die Voraussetzungen dieses unscharfen Sehens, des Eigenlebens der Bildoberfläche im Impressionismus nicht interessieren. Auch die Impressionisten mussten sich den Vorwurf der "Barbarei" gefallen lassen, auch sie bewegten sich in einem durchstrukturierten kapitalistischen System des Kunstmarktes. Nicht nur Manet setzte sich intensiv mit der Kunst der Tradition auseinander - Diskussionen, in denen die Kritiker, die über Matisse schrieben, zu Hause waren. Wrights Interpretation steigert das Ende der illusionistischen Kunst in eine "ruined structure of tradition" (218). Argumentativ kommt er hier mit Matisses eigener intensiver Beschäftigung mit der Tradition der Malerei in Konflikt. Sein Schluss, dass mit dem Verlust der Tradition eine "Isolation des modernen Menschen" einhergehe, löst sich weitgehend vom Werk.

Polyphone Kunstgeschichte in konkurrierender Vielfalt möglicher historischer Zusammenhänge zu betreiben, entspricht nicht nur Dichte und Dynamik der Kultur kurz nach 1900, sondern auch der inzwischen weit verbreiteten Abkehr von eindimensionaler Fortschrittshistorie. Die Fülle des von Wright gesichteten Materials ist einerseits beeindruckend und anregend (ohne gänzlich neue Quellen einzubringen, die über die bekannten hinausgingen [2]), bringt aber andererseits eine mäandernde Argumentationsweise zwischen den Perspektiven historischer Quellen, den Bildwerken und Äußerungen des Künstlers hervor. Insgesamt leidet das gesamte Buch daran, dass der Autor mit den historischen Quellen zu willkürlich verfährt, sie nicht kontextualisiert und seine Schlussfolgerungen überfrachtet. Kunstkritik selbst, als Feld konkurrierender Äußerungen mit eigenen Traditionen, wird nicht thematisiert. So sehr sich Wright auch gegen die Jagd nach Quellen wendet - seiner auf das Klassische reduzierten Darstellung der Tradition fehlt sie dennoch. Die Thesen fußen nur selten auf visuellen Argumenten, auf die beispielhaft bei Matisses Beschäftigung mit orientalischen Werken verwiesen sei. Sowohl Kunstkritikern wie auch Matisse war diese Auseinandersetzung nicht bloß ein "Dreh" (Carl Einstein), sondern die Suche nach einer übergeordneten Einheit der Kunst - was mit den kulturellen Identitätskrisen um die Jahrhundertwende durchaus vereinbar ist.

Matisse "with history" in die Kultur seiner Zeit einzubetten, hat in diesem Fall ein "Babel der Stimmen eines polyglotten Modernismus" (158) errichtet, im Sinne einer Kunstgeschichte, die die methodischen und inhaltlichen Brüche zwischen Psychoanalyse, Sozialgeschichte, strukturalistischen und poststrukturalistischen Ansätzen inzwischen schulbildend institutionalisiert hat. [3]


Anmerkungen:

[1] James D. Herbert: Matisse without history (Rezension von Pierre Schneider: Matisse. Paris 1984; Jack Flam: Matisse. The man and his art. Ithaca/N.Y. 1988, Art History 11, 1988, 297-302); ders.: Fauve painting. The making of cultural politics. New Haven u. London 1992; Bärbel Küster: Matisse und Picasso als Kulturreisende. Primitivismus und Anthropologie um 1900. Berlin 2003; Yve-Alain Bois: Painting as model. Cambridge/Mass.1990; ders.: Matisse and Picasso. Paris 2001; Margareth Werth: The joy of life. The idyllic in French art circa 1900. Berkeley/Calif. 2002; Pia Müller-Tamm / Gottfried Böhm (Hrsg.): Ausst. Kat. Henri Matisse: Figur, Farbe, Raum. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2005; Lit. zur Auseinandersetzung mit fremden und alten Kulturen siehe Küster 2003.

[2] Alfred Barr: Matisse. His art and his critic. Museum of Modern Art, New York 1951; Roger Benjamin: Matisse's Notes of a painter. Criticism and context. 1891-1908. Ann Arbour 1987; Ellen C. Oppler: Fauvism reconsidered. New York 1976; Herbert 1992, s. o.; Catherine C. Bock: Henri Matisse and Neo-Impressionism, 1898-1908. Ann Arbour 1981.

[3] Hal Foster / Rosalind Krauss / Yve-Alain Bois / Benjamin H. D. Buchloh (Hrsg.): Art since 1900. Modernism, antimodernism, postmodernism. London 2004, vgl. das Vorwort, besonders 13.

Bärbel Küster