Rezension über:

Jean-Claude Schmitt: Die Bekehrung Hermanns des Juden. Autobiographie, Geschichte und Fiktion, Stuttgart: Reclam 2006, 398 S., ISBN 978-3-15-010562-7, EUR 28,90
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Rezension von:
Benjamin Scheller
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Benjamin Scheller: Rezension von: Jean-Claude Schmitt: Die Bekehrung Hermanns des Juden. Autobiographie, Geschichte und Fiktion, Stuttgart: Reclam 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 1 [15.01.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/01/10800.html


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Jean-Claude Schmitt: Die Bekehrung Hermanns des Juden

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Der Titel des Buches führt in die Irre. Denn nicht um die Bekehrung Herrmanns des Juden geht es in Jean Claude Schmitts Buch, sondern um Produktionsbedingungen und Funktion eines Textes. Dieser Text stammt aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, ist auf Latein verfasst und berichtet in der Form einer Autobiografie von der Bekehrung eines Juden namens Juda, der nach seiner Taufe den Namen Herrmann annimmt und in das Prämonstratenserstift Cappenberg eintritt. Er ist in zwei Handschriften überliefert, die auf die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert datierbar sind. Gerlinde Niemeyer edierte ihn 1963 für die MGH und gab ihm den Titel: Hermann quondam Iudaeus, Opusculum de Conversione sua.

Der von der Editorin und anderen vertretenen Auffassung, der Text ließe sich als Quelle für die "realgeschichtliche" Rekonstruktion der Biografie eines Konvertiten Herrmann lesen, erteilt Schmitt ebenso eine Absage wie Versuchen, den Text als "Fiktion" zu klassifizieren. Und seine Argumente hierfür könnten richtiger kaum sein.

Denn selbstverständlich ist die Frage "Wahrheit oder Fiktion" unter allgemein epistemologischen Gesichtspunkten aporetisch. Und es versteht sich ebenfalls von selbst, dass ein modernes Konzept von "wahr", die Strategien, mit denen mittelalterliche Texte als wahr autorisiert wurden, verfehlt: "Ein mittelalterlicher 'Autor' ist zunächst jemand, der sich (in seinen Zitaten) auf 'Autoritäten' stützt und selbst die nötige 'Autorität' besitzt, um eine Aussage glaubwürdig vertreten zu können. Sein Werk ist niemals eine ausschließlich individuelle Schöpfung: Durch die Texte aus der Bibel oder den Kirchenvätern, die in sein Werk eingeflossen sind und ihm seine Legitimität verleihen, durch die Stimmen einer 'textuellen Gemeinschaft', der der einzelne Verfasser oder auch eine Gruppe von Autoren angehört, ist das Werk, sowohl was seine Entstehung als auch was seinen Charakter angeht, das Produkt einer zutiefst kollektiven Autorschaft. (273 f.)".

Schmitt kann zeigen, dass die textuelle Gemeinschaft, auf deren kollektive Autorschaft das Opusculum zurückgeht, das Prämonstratenser-Stift Cappenberg war. Dabei will er freilich nicht ausschließen, "dass die Erfahrung eines oder mehrerer zum Christentum übergetretenen Juden der Abfassung dieses Textes zugrunde liegt." Und er hält es für möglich, dass ein Konvertit Kanoniker wurde und zusammen mit seinen "'Brüdern und Schwestern' in Cappenberg diesen auf Latein verfassten Bericht ausgearbeitet hat" (275). Schließlich ist für das Stift Scheda, eine Tochtergründung Cappenbergs, zum Jahr 1170 ein Propst "Hermann Israelitha" urkundlich belegt. Doch ließe sich dies, ebenso wie das Gegenteil, nicht definitiv klären. Und es erscheint Schmitt auch nicht von Bedeutung.

Wichtiger ist ihm die "interne Funktion" des Textes und im Nachweis dieser internen Funktion liegt das eigentliche Ergebnis des Buches: "Der Text hat, wie mir scheint, vielmehr eine interne Funktion innerhalb des Prämonstratenser-Abtei Cappenberg. Verfasst von den Stiftsherren bzw. einer Gruppe innerhalb des Ordens, war er in erster Linie auch für dieses Publikum bestimmt. Die Cappenberger konnten darauf verweisen, dass sie ohne jeden Zwang einen Juden auf ihre Seite gezogen, ihn nach seiner Bekehrung in ihre Gemeinschaft aufgenommen und schließlich bis zum Priesteramt (dem nicht a priori monastischen, sondern klerikalen Ideal, auf das die Kanoniker Anspruch erhoben) geführt hatten. All dies erlaubte dieser ganz neu gegründeten Stiftsherrengemeinschaft, sich auf ihre spirituelle Vortrefflichkeit zu berufen und ihre Legitimität zu unterstreichen. (276)"

Für diese Interpretation des Opusculum kann Schmitt einige gute Argument ins Feld führen. Es spricht jedoch auch einiges dagegen. Nicht zuletzt die prominente Rolle, die mit Rupert von Deutz ein Gegner der Prämonstratenser im Opusculum spielt. Schmitts Versuch, sie zu relativieren, kann nicht vollständig überzeugen. Vor allem aber erscheint die funktionale Interpretation des Textes als reduktionistisch und wird dessen inhaltlichen Reichtum nicht gerecht.

Schmitts Interpretation des Opusculum ist offensichtlich durch die Rezeption im weitesten Sinne poststrukturalistischer Ansätze geprägt. Zwar macht er sich das vielzitierte Diktum Jacques Derridas, dass es jenseits des Textes nichts gibt, offensichtlich nicht zu eigen. Denn für ihn gibt ja einen Kontext: die textuelle Gemeinschaft der Prämonstratenser von Cappenberg und ihr Streben nach Selbstlegitimation. Dennoch ist die Geschichte, die Schmitt schreibt, menschenleer. Es ist eine Geschichte der Produktionsbedingungen von Texten. Die Frage nach menschlicher Erfahrung ist für sie falsch gestellt und letztlich "kaum von Bedeutung".

Schmitt betont, dass es ihm nicht darum gehe, den Text "Wort für Wort" zu interpretieren. Und es sind bei genauer Betrachtung nur zwei Kapitel des Opusculum, mit deren Inhalt sich Schmitt intensiver auseinandersetzt: Das erste Kapitel, in dem der Icherzähler den erwähnten Traum schildert, den er im Alter von dreizehn Jahren gehabt habe. Und das dritte Kapitel, dessen Inhalt das Streitgespräch zwischen Juda und Rupert von Deutz ist. Ansonsten ist der Gang der Argumentation eher lateral.

Eine Lektüre des Opusculum, die über weitere Strecken enger am Text bleibt, hätte freilich auch jene Bestandteile des Werks profilieren müssen, die sich aus intertextuellen und kontextuellen Bezügen nicht erklären lassen und somit die Frage nach ihrer Referenz aufwerfen. Hatte doch bereits Aviad Kleinberg auf die vielen "loose ends" des Opusculum hingewiesen und in diesen "loose ends" den Ausdruck einer irriduziblen Spontanität gesehen, die, wie vermittelt auch immer, letztlich auf authentische Erfahrung(en) verweist.

Hiervon kann sich auch der lateinunkundige Leser einen Eindruck verschaffen, bietet das Buch doch im Anhang die erste deutsche Übersetzung des faszinierenden Textes seit Augustin Hüsings von 1882 und Johann Nepomuk Brischars von 1888.

Benjamin Scheller