Rezension über:

Patrizia Guarnieri (a cura di): Bambini e salute in Europa 1750-2000 / Children and Health in Europe (= Medicina & Storia. Rivista di Storia della Medicina e della Sanità; 7 (Anno IV - 2004)), Firenze: Edizioni Polistampa 2004, 208 S., ISSN 1722-2206, EUR 20,00

Rezension von:
Xenia von Tippelskirch
École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Xenia von Tippelskirch: Rezension von: Patrizia Guarnieri (a cura di): Bambini e salute in Europa 1750-2000 / Children and Health in Europe, Firenze: Edizioni Polistampa 2004, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 3 [15.03.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/03/8793.html


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Patrizia Guarnieri (a cura di): Bambini e salute in Europa 1750-2000 / Children and Health in Europe

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Der hier vorzustellende Band ist eine monografische Nummer der in Italien erscheinenden medizinhistorischen Zeitschrift Medicina & Storia, die besondere Aufmerksamkeit verdient. Behandelt wird das historiografisch nach wie vor vernachlässigte Thema der Geschichte der Kindheit im Zeitraum 1750-2000 im spezifischen Kontext von Krankheit bzw. Gesundheit. Dass die Beiträge, besser als das in manch anderem Sammelband gelingt, ein facettenreiches Gesamtbild schaffen, liegt nicht zuletzt an der Einleitung der Herausgeberin Patrizia Guarnieri, die die hier zusammengeführten Forschungen eng miteinander verklammert, indem sie sie in einen gemeinsamen historiografischen Zusammenhang stellt und wichtige konzeptuelle Voraussetzungen für die Untersuchung der Geschichte von Kindheit und Gesundheit vorweg klärt. Die fünf (auf Italienisch, Englisch bzw. Französisch verfassten) Hauptbeiträge beleuchten unterschiedliche Aspekte einer solchen Geschichte, arbeiten die Literatur zu den einzelnen Teilbereichen sorgfältig auf, sind alle auf eine komparative, europäische Perspektive hin ausgerichtet und entwickeln neue Forschungshypothesen. Sie bieten daher reichhaltige Anknüpfungspunkte für all diejenigen, die sich in Zukunft mit diesem Themenfeld beschäftigen wollen. Ergänzt werden sie durch zwei Forschungsberichte und eine Reihe von Rezensionen zum Thema.

Patrizia Guarnieri weist zu Recht darauf hin, dass die Geschichte der Kindheit zum Großteil auf indirekte, "private" Quellen angewiesen ist und häufig nur eine Geschichte der Darstellungen der Kindheit liefert. Die Quellenlage, aber auch die meist unbewusst gesetzte Prämisse, derzufolge Kinder dabei in erster Linie als zukünftige Erwachsene, als zu erziehende Menschen gesehen werden, haben dazu geführt, dass ein Großteil der existierenden Untersuchungen Kinder erst ab dem Eintritt ins Schulalter wahrnehmen. Doch auch die Geschichte von Kleinkindern verdient Aufmerksamkeit, in ihrer biologisch bestimmten Abhängigkeit, die kulturell unterschiedliche Ausformungen erfahren hat. Der Nexus Krankheit und Kindheit lenkt den Blick auf die frühe Kindheit, macht das Thema der Pflege zum Forschungsobjekt. Krankheit betrifft dabei nie ausschließlich das einzelne kranke Individuum, sondern auch die Nächsten, Familienmitglieder und medizinisches Personal, die sich um die Heilung kümmern. Das Thema führt daher zu einer Untersuchung von historisch zu verankernden Beziehungsgeflechten, biologisch und kulturell geprägten Geschlechterrollen, familiären bzw. professionellen Verhaltensmustern, unterschiedlichen Identitätsmodellen und der Bedeutung von Alter und Lebenszyklus. Das erklärte Ziel dieses Bandes ist es daher, über eine Geschichte der Disziplin der Pädiatrie weit hinauszugehen, familiengeschichtliche, wissenschaftsgeschichtliche, medizinhistorische und rechtsgeschichtliche Fragestellungen miteinander zu verknüpfen, nach dem Zusammenhang von institutionell verankerten Erziehungsprogrammen, bevölkerungspolitischen und gesundheitspolitischen Maßnahmen ebenso wie nach Zeugnissen individuellen Engagements zu fragen und dadurch einen neuen Blick auf die Geschichte der Kindheit zu gewinnen.

Egle Becchi untersucht in ihrem Beitrag, inwieweit eine Reihe von Vätern gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Entwicklung ihrer Kinder beobachteten, darüber Buch führten und mit Fachkapazitäten korrespondierten. Am Beispiel von einzelnen Vätern, wie etwa Ludwig Eugen von Württemberg oder auch Pietro Verri, zeigt sie, dass sich diese Väter sehr um das körperliche Wohlergehen ihrer Kinder sorgten. Im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden sie zu wichtigen Mittlerfiguren zwischen den Müttern und Ärzten, waren stark emotionell involviert. Becchi bezieht sich hinsichtlich der deutschsprachigen Beispiele in erster Linie auf die Forschungen von Pia Schmid, ergänzt deren Ergebnisse mit anderen europäischen Erfahrungen.

Einen systematischen Vergleich zwischen unterschiedlichen europäischen Realitäten stellt Catherine Rollet an. Sie vergleicht Kinderuntersuchungshefte, die in der europäischen Gemeinschaft nach wie vor benutzt werden, um die Entwicklung von Kindern während der ersten Lebensjahre festzuhalten. Sie beginnt mit einem kurzen Überblick über die Geschichte des französischen Carnet de Santé. 1869 versuchte der Arzt Jean-Baptiste Fonssagrives mit Hilfe eines Handbuches die (hier von Becchi beschriebene) Praxis des Führens von Kindertagebüchern einem breiteren Publikum nahezubringen. Dabei wandte er sich in erster Linie an die Mütter. Ab Ende des 19. Jahrhunderts begann sich auch der Staat für eine regelmäßige Buchführung über die Entwickelung von Kindern zu interessieren. Seit 1945 ist das Carnet de Santé in Frankreich gesetzlich vorgeschrieben. Dieses Carnet wird nicht mehr von Eltern ausgefüllt, sondern vom medizinischen Personal, das das Kind untersucht. Und hier lässt sich der grundlegende Unterschied zwischen den in den europäischen Ländern gebräuchlichen Untersuchungsheften festmachen. Denn diese werden entweder zur staatlichen Kontrolle der Pflichtuntersuchungen verwendet (so etwa das in Deutschland verwendete Modell) oder mit einem klaren erzieherischen, präventiven Ziel (so z.B. in Tschechien und Portugal) an die Eltern verteilt.

Anhand von einer Untersuchung von Krankenakten des florentinischen Waisenheims Degli Innocenti aus der Zeit 1890-1918 und mit Hilfe einer Rekonstruktion der Reformversuche dieser Institution zeigt Patrizia Guarnieri, wie medizinischer Fortschritt und neue hygienische Prinzipien ebenso wie experimentelle Beobachtungen moralische Bedenken aushebeln konnten, um die Überlebenschancen der Kinder zu erhöhen. Dies führte auch dazu, dass man immer mehr zu einer aktiven Unterstützung der ledigen oder verheirateten Mütter überging, um ihnen zu ermöglichen, sich selbst um ihre Kinder zu kümmern, die Zahl der Waisen also zu reduzieren. Angelpunkt der Argumentation war dabei die Frage, wie die Ernährung der Kleinkinder garantiert werden konnte zu Zeiten, als die Sterilisierung von Milch noch keine Selbstverständlichkeit war. Gleichzeitig machte man sich auch Gedanken um die emotionale Bindung zwischen Kindern und Pflegepersonal bzw. den eigenen Eltern. Die Untersuchung erlaubt Rückschlüsse auf einen Verhaltenswandel zur Sicherung des Überlebens von Kleinkindern, der - anders als sonst in der Forschung behauptet - deutlich vor dem Faschismus einsetzt.

Anna Davins wertet hingegen Quellen aus, die aus dem Umfeld Londoner Schulen stammen. Ab 1900 entwickelte sich das Bewusstsein, dass der Gesundheitszustand der Kinder von nationaler Bedeutung sei. Man begann von staatlicher Seite das Wohlbefinden von Kindern statistisch zu registrieren und führte hygienische Maßnahmen sowie Schulspeisungen ein. Besondere Aufmerksamkeit lenkt Davins auf die zeitgenössische Annahme einer unmittelbaren Korrelation von sozialer Herkunft und Gesundheitszustand der Schüler. Die durchgeführten statistischen Erhebungen ergaben hingegen, dass auf sich selbst angewiesene Straßenkinder nicht im gleichen Maße an Unterernährung und Anämie litten wie andere Kinder, die aus sozial determinierter "Schicklichkeit" (respectability) nicht auf die Straße durften.

Die Feststellung, dass Kindern frische Luft guttut, führte zu den Reformprojekten, die Ning De Coninck rekonstruiert. Ab der Wende zum 20. Jahrhundert gab es Freiluftschulen. Während die Geschichte dieser internationalen Bewegung im Allgemeinen recht gut aufgearbeitet ist, beschäftigt sich dieser Beitrag mit den eher vernachlässigten dänischen Erfahrungen auf diesem Gebiet. Die Verbreitung schulreformatorischen Gedankenguts, das sich aus den neuen medizinischen Entdeckungen speiste, war eine wichtige Voraussetzung für die Einführung von Freiluftschulen, die während der Sommermonate Kinder mit gesundheitlichen Problemen aufnahmen. Gleichzeitig spielte das persönliche Engagement von Politikern, Philanthropen, Pfarrern, Lehrern und Ärzten eine entscheidende Rolle.

Alessandra Gissi bietet einen Überblick über die Forschungen zum Status von Hebammen in direktem Zusammenhang mit ihrer Rolle bei Schwangerschaftsabbrüchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie vergleicht in ihrem Aufsatz die Aufgaben, die Hebammen im Rahmen von bevölkerungspolitischen Maßnahmen in Frankreich, Großbritannien, im Deutschen Reich und in den Niederlanden übertragen oder offiziell aberkannt wurden und inwiefern der Handlungsbereich und das Ansehen dieses Berufsstandes differierten.

Laura Mori stellt die psychotherapeutische Methode von Esther Blick, die sogenannte "infant observation", in ihrer Entwicklung von 1948 bis 2002 vor. Es handelt sich dabei um partizipative Beobachtung des Verhaltens von Kleinkindern im familiären Kontext bis zum zweiten Lebensjahr, wobei die Beobachter jede Woche eine Stunde lang das Kind aufmerksam beobachten, anschließend Berichte abfassen und in Supervisionssitzungen behandeln. Diese Methode hat sehr zur Schulung von Kinderpsychotherapeuten beigetragen und neue Erkenntnisse über die Beziehung zwischen Mutter und Kind erzielt. Eine historische Bearbeitung des Materials scheint aber noch auszustehen.

Der Band zeigt die Bandbreite der Fragestellungen, die sich an den Nexus Krankheit und Kindheit knüpfen können, und wie sehr sich eine eingehende Beschäftigung mit diesem interessanten Material lohnt. Durch den komparativen Ansatz lädt er unmittelbar ein zu einer Disziplin-, Landes- und Sprachgrenzen überschreitenden Diskussion der präsentierten Falluntersuchungen sowie Themenkomplexe. Bleibt zu wünschen, dass er die angemessene Aufmerksamkeit auch außerhalb Italiens erlangt.

Xenia von Tippelskirch