Rezension über:

Elisabeth R. Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie 1850-1915 (= Berliner Kulturwissenschaft; Bd. 2), Freiburg/Brsg.: Rombach 2006, 475 S., 14 s/w-Abb., ISBN 978-3-7930-9448-7, EUR 48,00
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Rezension von:
Kai Marcel Sicks
Kulturwissenschaftliches Forschungskolleg "Medien und kulturelle Kommunikation" (SFB/FK 427), Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Kai Marcel Sicks: Rezension von: Elisabeth R. Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie 1850-1915, Freiburg/Brsg.: Rombach 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 6 [15.06.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/06/11508.html


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Elisabeth R. Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz

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Die Thermodynamik ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten immer wieder ins Zentrum kultur- und wissenschaftshistorischer Untersuchungen gerückt. Interesse zog sie vor allem deshalb auf sich, weil ihre beiden Hauptsätze als "revolutionäre wissenschaftliche Entdeckungen über die physische Natur in eine neue Vision der gesellschaftlichen Moderne übersetzt wurden" - so Anson Rabinbach bereits 1990. [1] Der Blick auf die Thermodynamik und ihre Rezeption ließ den engen Zusammenhang von Physik, Physiologie, Ökonomie, Kosmologie, Theologie sowie von populären Fortschritts- und Untergangsphantasmen erkennen, der die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts prägt. Mit ihrer Studie "Thermodynamik als kultureller Kampfplatz" hat Elizabeth R. Neswald nun den Versuch unternommen, einen Überblick über die verschiedenen Richtungen des Denkens zu verschaffen, mit denen die Thermodynamik - und insbesondere ihr zweiter Hauptsatz: die Entropielehre - zwischen 1850 und 1915 interagiert.

Neswald konzipiert den Entropiesatz nicht als Denkfigur, die sich unidirektional auf nicht-physikalische Denkregime auswirkt. Ihr Ansatz löst die "Dichotomie von wissensproduzierender Naturwissenschaft einerseits und rezipierender Kultur andererseits" auf und geht stattdessen "von einer Heterogenität der sich gegenseitig beeinflussenden Wissensformen innerhalb eines gemeinsamen kulturellen Kontexts" aus (19). Dieser Ansatz schlägt sich in der Struktur der Arbeit nieder: Im ersten Teil untersucht die Verfasserin die Entstehung der Thermodynamik als Ergebnis des Aufeinandertreffens verschiedener Denkformationen. Im zweiten Teil beschreibt sie die Rückkopplung des thermodynamischen Denkens auf diese - und andere - Formationen. Ohne sich einer bestimmten wissenschaftstheoretischen Ausrichtung ganz zu verschreiben, verortet sich Neswald vor allem in der Nähe der science in context-Schule schottischer Prägung (David Bloor, Brian Wynne).

Die Entstehung des Entropiesatzes, Mitte der 1850er-Jahre von Rudolf Clausius und William Thomson (Lord Kelvin) formuliert, situiert Neswald im Kontext von Kosmologie, Ingenieurwissenschaften und Ernährungsphysiologie. Die Vorstellung von Entropie revidiert teilweise den ein Jahrzehnt zuvor entwickelten ersten Hauptsatz der Thermodynamik: den Satz von der Erhaltung der Kraft. Zwar gehe Energie, so Clausius, bei der Umwandlung von einer Form in die andere nicht grundsätzlich verloren. Jeder Kraftumwandlungsprozess impliziere aber Reibungsverluste - eine Abführung der Kraft in nicht produktiv nutzbare Wärme: Entropie.

In den folgenden Jahren wird die Entropie "zum kulturellen Gemeinplatz und zum kulturellen Kampfplatz" (176) - so die Zentralthese von Neswalds Arbeit. Weil nicht ganz sicher ist, für welche Bereiche der Natur und der Kultur der Entropiesatz mit seiner pessimistisch stimmenden Prophezeiung eines Rückgangs von Produktivkräften Gültigkeit beansprucht, weist das Konzept zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten auf und wird in zahlreichen Denkzusammenhängen diskutiert. "Als kultureller Gemeinplatz, der durch semantische Beziehungen und Universalisierung verschiedene Gegenstandsbereiche miteinander verband, ermöglichte der zweite Hauptsatz der Thermodynamik den Akteuren, ihre unterschiedlichen Argumente und Ansichten zu präzisieren, indem sie über verschiedene Auffassungen von der Gültigkeit und der Bedeutung des Entropiesatzes verhandelten. Es wurde um Bedeutungen und Implikationen von Entropie gekämpft, um über andere Dinge zu streiten" (177).

Drei Auseinandersetzungen, in denen der Entropiesatz argumentativ eingesetzt wird, untersucht Neswald ausführlich. Zum ersten thematisiert sie die kosmologischen Debatten über das Alter und das Ende der Erde. Dabei zeigt sie, dass die Entropie nicht bloß apokalyptische Untergangsszenarien begründet. Die Entropie wird auch zu einer "concord fiction", einer Verlaufsfiktion, die der Erde Historizität und somit Sinn verleiht. In diesem Zusammenhang entstehen theologische Ansätze, die in der Entropie einen naturwissenschaftlichen Beweis der linearen biblischen Heilsgeschichte und eine Widerlegung der Evolutionslehre sehen. So zeigt sich, dass die Konfrontationslinien im 19. Jahrhundert keineswegs einfach zwischen Wissenschaft und Religion verliefen.

In einem zweiten Schritt bespricht Neswald die physiologischen Debatten über den Aufbau und die Leistungsfähigkeit des menschlichen Körpers. Dabei stellt sie den Konflikt zwischen Reduktionismus und Vitalismus ins Zentrum ihrer Ausführungen, die ihre Positionen beide in expliziter Abgrenzung vom Entropiesatz erarbeiten. Der physiologische Reduktionismus behauptet eine unendliche Arbeitsfähigkeit des menschlichen Körpers, bis am Ende des 19. Jahrhunderts die Ermüdungslehren das Entropieproblem in die Physiologie integrieren. Der Vitalismus stellt die Entropie demgegenüber als ein Prinzip des Nicht-Lebens dem humanen Prinzip der "Lebenskraft" gegenüber.

Drittens bespricht die Verfasserin die sozioökonomische Debatte über den Fortschritt der Gesellschaft. Dabei geht sie einerseits auf solche Positionen ein, die optimistisch von einer immer weiteren Steigerbarkeit der sozialen Produktivität ausgehen und für die die Entropie eine zu überwindende Größe darstellt: den Taylorismus etwa oder Wilhelm Ostwalds Energetik. Diesen Lehren stellt sie Auffassungen gegenüber, die die Entropie als Beleg dafür ansehen, dass eine allgemeine Degeneration der menschlichen Kultur unaufhaltsam bzw. längst im Gange sei. In allen drei Debatten eröffnet sich ein Panorama unterschiedlichster Zuschreibungen und Vereinnahmungen des Entropiesatzes. Seine Beschreibung nicht nur als zentrales wissenschaftliches, sondern auch als entscheidendes kulturelles Paradigma in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist daher gerechtfertigt.

Insgesamt ist es Elizabeth Neswald gelungen, eine hochgradig aufschlussreiche Studie über die Bedeutung der Entropie im 19. Jahrhundert zu verfassen. Sie zeichnet die Wechselverhältnisse zwischen wissenschaftlichen und kulturellen Denk- und Sprechbereichen in ihrer Komplexität umfassend nach, ohne dass die Arbeit dadurch unübersichtlich würde. Obendrein scheut Neswald nicht das naturwissenschaftliche Detail und wird so dem selbst gestellten Anspruch gerecht, die Schnittstelle von Natur- und Kulturwissenschaften zu besetzen. Aus der Privilegierung der Primär- gegenüber der Sekundärliteratur ergibt sich eine akribische und an den Quellen orientierte Argumentation. Mitunter ist diese Fixierung auf die Quellen allerdings problematisch: So geht an einigen Stellen unter, dass die von der Verfasserin angesprochenen Aspekte bereits in früheren Studien aufgearbeitet worden sind. [2] Neswald thematisiert ihre Position zu diesen Studien selten explizit. Auch auf einen Forschungsüberblick verzichtet sie und beraubt sich so der Chance, ihre eigene Position in der Forschung zur Thermodynamik klar zu artikulieren. Angesichts einer wuchernden Textmasse zum Thema wäre eine solche Positionierung an einigen Stellen wünschenswert gewesen.


Anmerkungen:

[1] Anson Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001 [engl. Original 1990], 11.

[2] Vgl. besonders prominent Rabinbach (wie Anm. 1); Crosbie Smith: The Science of Energy. A Cultural History of Energy Physics in Victorian Britain, Chicago 1998 sowie ders. / Norton M. Wise: Energy and Empire. A biographical study of Lord Kelvin, Cambridge u. a. 1989.

Kai Marcel Sicks