Rezension über:

Viccy Coltman: Fabricating the antique. Neoclassicism in Britain, 1760-1800, Chicago: University of Chicago Press 2006, xii + 256 S., ISBN 978-0-226-11396-8, GBP 30,50
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Rezension von:
Anna Seidel
Kunstgeschichtliches Seminar, Humboldt-Universität zu Berlin / Bibliotheca Hertziana, Rom
Redaktionelle Betreuung:
Alexis Joachimides
Empfohlene Zitierweise:
Anna Seidel: Rezension von: Viccy Coltman: Fabricating the antique. Neoclassicism in Britain, 1760-1800, Chicago: University of Chicago Press 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/09/12469.html


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Viccy Coltman: Fabricating the antique

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Ende des 18. Jahrhunderts profitierten vor allem britische Sammler und Händler von der Auflösung der Antikensammlungen in Rom. Unzählige Exponate wurden nach Großbritannien verschifft und füllten dort die Sammlungen. Der Skulpturimport und die damit verbundenen Repliken, Restaurierungen und Grabungen waren jedoch nur einige Facetten des Spektrums, in dem sich das Antikeninteresse der Briten manifestierte. Bildbände wie die Antichità di Ercolano Esposte oder die mehrfarbige Collection of Etruscan, Greek and Roman Antiquities veranschaulichten die Artefakte über ihre Aufbewahrungsorte hinaus. [1] Italienreisen bauten wiederum auf dem Studium antiker Autoren auf. Die breite Rezeption von antikem Gedankengut und Gegenständen jener Zeit ist bis heute in Ausstattungen von Sammlungsräumen und Bibliotheken, in Gemälden und Briefen, aber auch in kunsthandwerklichen Objekten greifbar. Die Fülle dieser materiellen Manifestationen der Auseinandersetzung mit der Antike subsumiert Viccy Coltman unter dem Begriff Neoclassicism, den sie nicht als dekorativen Stil, sondern als "style of thought" verstanden wissen will. Begrifflich als Classicism unterschieden wird jenes geistige Fluidum, das auf dem Studium antiker Texte aufbaut und als Grundlage der materiellen Antikenrezeption im späten 18. Jahrhundert herausgearbeitet wird (11). Die Antikenrezeption jener Zeit wird von Coltman mithilfe eines umfangreichen Quellenstudiums in einen breiten kulturellen Kontext gestellt. Die ausgewählten Beispiele sind rund um die Bibliotheken der englischen Elite gruppiert, die als "heart of the (neo)classical enterprise" erkannt werden (63). Sie vollziehen den Aufbau und die Präsentation von Text- und Kunstsammlungen, Produktion und Vertrieb von Bildbänden, sowie deren unterschiedliche und doch verzahnte Nutzung durch Bibliophile, Antikenhändler, Architekten und Handwerker nach.

In der Einleitung wird am Beispiel Etons gezeigt, wie intensiv das Studium der Antike im Rahmen der schulischen Ausbildung betrieben wurde und damit das Antikenbild maßgeblich geprägt hat. Im ersten Kapitel folgt ein Blick in die privaten Bibliotheken. Exemplarisch werden die in Gibbons History of the Decline and Fall of the Roman Empire rezipierten antiken Texte, die sich auch in der Reisebibliothek des Autors wieder finden, zugrunde gelegt. Coltman betont erneut, dass das Textstudium eine geistige Haltung bedinge, auf der jede unmittelbare Antikenbegegnung, aber auch jede "application of this formative style of thought onto the material culture of the ancients" im Kontext der Antikensammlungen basierte (36).

Diese Wechselwirkung wird im zweiten Kapitel weiter ausgebreitet. Die Grand Tour wurde nicht nur anhand von Literatur vorbereitet und auf der Folie dieser Kenntnisse erlebt, sondern gleichermaßen genutzt, um die Büchersammlungen im großen Stil zu erweitern. Die antiken Monumente werden mittelbar, in Buchform, in die Bibliotheken integriert. Im Anschluss an die Beschäftigung mit dem "Verpacken" (44) der Antike in Bild und Text wird im dritten Kapitel die Rezeption dieser Antikenkenntnisse in unterschiedlichen Medien durch die um Exklusivität bemühte "republic of letters" beleuchtet. Fallbeispiel ist die Sammlung Hamiltons. Diese wurde in den Lebenden Bildern seiner Frau Emma ephemer inszeniert und im Druck weit verbreitet. Beide Rezeptionswege erlebten wiederum einen regen Widerhall. Coltman konkretisiert dies an zahlreichen Beispielen - von der Wandgestaltung in Heaton Hall (80f.) über gravierte Silbervasen (84), bis zu massenproduzierten Schnupftabakdosen (95). Profund wird aufgezeigt, wie und weshalb die "Wiederholungen" der antiken Bilder bewusst Verfremdungen unterlagen. Wo die Drucke als Grundlage neuer Bildschöpfungen verwendet wurden, wurden sie dem jeweiligen Kontext angepasst. Hierbei beeinflussten Aspekte von Produktionskosten bis zur Proportion eines Ensembles die Variation des Vorbilds. Coltman resümiert: "Truth and precision could be the truth and precision of invention as well as imitation. Both could share the status of the orginal and sustain the fabricated truth of the performance through its multiple reproductions" (96).

Im vierten Kapitel wird die Rezeption der Funde aus Pompeji und Herculaneum untersucht. Die antiken Wandmalereien wurden isoliert und zu Meisterwerken stilisiert. Indem sowohl die Grabungen als auch deren Publikation nur einem kleinen Kreis zugänglich gemacht wurden, konnte deren Exklusivität nochmals gesteigert werden. Doch der Druck der Raubkopien war zu hoch, als dass das Privileg aufrechtzuerhalten gewesen wäre. [2] Ob der unerwartet zahlreichen Funde antiker Bilder wurde zudem deren qualitative Einstufung bald infrage gestellt und die antike Kunst nunmehr mit außereuropäischen Artefakten verglichen (103ff). Diese Entwicklung spiegelt, dass auch die neuen Funde stets aufbauend auf den vorhandenen Vorkenntnissen rezipiert wurden.

Einer Diskussion des zeitgenössischen Verständnisses von Original und Kopie widmet die Autorin das fünfte Kapitel. Einerseits wird die Kopie als dem Original unterlegen empfunden, andererseits wurden die zeitgenössischen Repliken und Rückgriffe auf Antiken zweifach bewundert: "for their canonical and novel associations: what we might call the cachet of the copy" (131). Diese zwiespältige Bewunderung ging so weit, dass schließlich die Replik gegenüber der Vorlage höher bewertet werden konnte (148). Coltman schließt die Betrachtungen von Einzelproblemen mit einem Blick auf die Sammlerpraxis und die Inszenierung der Sammlung Townley. Handel und Restaurierungspraktiken, aber auch die Außenwirkung der Sammlungen kommen zur Sprache. Wiederholt verweist die Autorin darauf, dass Townley und andere durch das Sammeln ein soziales Prestige aufbauten, das ihnen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur katholischen Kirche zunächst verwehrt war. Der Nachruhm Townleys sei von ihm folgerichtig auch durch den Übergang seiner Sammlung in das British Museum gesichert worden (192f.).

Mit Fabricating the Antique liegt das kompakte Ergebnis der Recherchen zu Coltmans Dissertation vor. Bereits publizierte Artikel gingen in Form einzelner Kapitel in das Buch ein. [3] Unter anderem diente das Townley Archive, das seit 1992 im British Museum zugänglich und mittlerweile in einem publizierten Katalog systematisch erschlossen ist [4], der Arbeit als reichhaltiger Quellenfundus. Originalzitate und Fallbeispiele charakterisieren den lebendigen Text und regen weitere Recherchen an. Sie bergen zugleich eine Kleinteiligkeit, die gelegentlich vom zentralen Argumentationsbogen ablenken kann und allgemeine Rückschlüsse teils nur mit größter Vorsicht zulässt - wie Coltman selbst vermerkt (27f.). Das Buch gibt einen fundierten, facettenreichen Einblick in den Kontext jener britischen Sammlungen, die zunehmend mit dem Fokus auf ihren Antikenbestand monografisch aufgearbeitet werden. Die Autorin stellt dem im 19. Jahrhundert geprägten Bild eines eher kuriosen Anhäufens zahlreicher Objekte durch antikenbegeisterte Insulaner die Rekonstruktion eines fundierten und bewussten Umgangs mit der Antike gegenüber (1ff). Hieraus resultiert eine positive Wertung von Kopien, Repliken und Ergänzungen im Sinne eines "cachet of the copy". Die Arbeit ist damit auch über ihren zeitlichen und geografischen Rahmen hinaus ein gelungener Beitrag zu aktuellen Forschungen rund um das Verständnis von Kopie und Original im Kontext der Antikenrezeption vergangener Jahrhunderte.


Anmerkungen:

[1] Antichità di Ercolaneo Esposte, Neapel 1757-92; Pierre François D'Hancarville: Collection of Etruscan, Greek and Roman Antiquities from the Cabinet of the Hon. W. Hamilton, His Britannick Majesty's Envoy Extraordinary and Plenipotentiary at the Court of Naples, Neapel 1766-76.

[2] beispielsweise Charles-Nicolas Cochin / Jérôme-Charles Bellicard: Observations upon the Town of Herculaneum, London 1753.

[3] Viccy Coltman: Classicism in the English Library: Reading Classical Culture in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Century, in: Journal of the History of Collections 11 (1999), 35-50; Viccy Coltman: Sir William Hamilton's Vase Publications (1766-76): A Case Study in the Reproduction and Dissemination of Antiquity, in: Journal of Design History 14 (2001), 1-16.

[4] Susan J. Hill: Catalogue of the Townley Archive at the British Museum, London 2002.

Anna Seidel