Rezension über:

Antje Flüchter: Der Zölibat zwischen Devianz und Norm. Kirchenpolitik und Gemeindealltag in den Herzogtümern Jülich und Berg im 16. und 17. Jahrhundert (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit; Bd. 25), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, 463 S., ISBN 978-3-412-34105-3, EUR 54,90
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Rezension von:
Stephen E. Buckwalter
Bucer-Forschungsstelle, Heidelberger Akademie der Wissenschaften
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Stephen E. Buckwalter: Rezension von: Antje Flüchter: Der Zölibat zwischen Devianz und Norm. Kirchenpolitik und Gemeindealltag in den Herzogtümern Jülich und Berg im 16. und 17. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/09/9971.html


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Antje Flüchter: Der Zölibat zwischen Devianz und Norm

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Der Klerikerzölibat im 16. und 17. Jahrhundert stellt ein in mehrfacher Hinsicht brisantes Thema dar. Die frühe evangelische Bewegung machte die öffentlichen Eheschließungen ihrer Kleriker bewusst zu einem Erkennungszeichen, nahm für diesen neue entdeckten Ehestand das Prädikat der "wahren Keuschheit" in Anspruch und bezichtigte den altgläubigen Klerus pauschal der "Hurerei". Dagegen sahen die Gegner der Reformation gerade im evangelischen Zölibatsbruch den eindeutigen Beweis für den ordnungszersetzenden Charakter und die moralische Unseriosität der neuen Bewegung und behaupteten erst recht die Gewährleistung der ebenso eifrig geschätzten "Keuschheit" ausschließlich in der Ehelosigkeit der eigenen Kleriker. Während sich der Propagandakrieg auf beiden Seiten einer stereotypen Schwarz-Weiß-Malerei nach dem obigen Muster bediente, bietet der ohnehin schwer greifbare sozialgeschichtlicher Befund der Beziehungen zwischen Ortsgemeinden und Pfarrern ein widersprüchliches Bild. Begrüßten die Gemeinden den neuen, verheirateten Pfarrer als Abschied von klerikaler Sittenlosigkeit (so die traditionelle evangelische Kirchengeschichtsschreibung) oder waren die evangelischen Pfarrerehen nichts anderes als die Fortsetzung des vom Volk ohnehin akzeptierten Klerikerkonkubinats unter einem neuen Namen (so einige Sozialhistoriker)? Wir haben es hier sicherlich mit einem vielfältigen Phänomen zu tun, das sich mit einem einzigen Beschreibungsmodell schwerlich in Einklang bringen lässt. Eine sorgfältige Bewertung der Quellen auf Lokalebene ist deshalb ein dringendes Forschungsdesiderat.

Aus diesem Grund ist es besonders erfreulich, dass Antje Flüchter diese Forschungslücke nun für die Vereinigten Herzogtümer Jülich und Berg durch die vorliegende, an der Universität Münster eingereichte historische Dissertation gefüllt hat. Wissenschaftlich reizvoll an dieser Territorienwahl ist die konfessionell ungebundene Haltung, die die Herzöge von Jülich-Kleve-Berg während des größten Teils des untersuchten Zeitraums (etwa 1500 bis 1700) eingenommen haben. So stellt dieses Territorium ein einzigartiges Laboratorium für die Beobachtung der Zölibatsfrage in einer konfessionell offenen übergangszeit dar.

Flüchter gliedert ihre Untersuchung chronologisch in vier Abschnitte. Der erste umfasst die jülisch-bergische Kirchenpolitik im 15. Jahrhundert (95-117), der zweite die entscheidende Zeit der "via media", die sich von den Anfängen der Reformation bis etwa 1566 erstreckte (118-250), und der dritte die Zeit von 1566 bis 1614, während der die via media nach Ansicht der Autorin sich unter den Bedingungen der Konfessionalisierung fortsetzte (251-324). Schließlich widmet sich ein vierter Abschnitt der Zeit bis zum Ende des 17. Jahrhunderts (325-401).

Im Allgemeinen geht Flüchter nach folgendem Muster vor: Zunächst werden die theoretischen Voraussetzungen für den betreffenden Zeitraum und die Kirchenpolitik des jeweiligen Herzogs während dieser Zeit analysiert, sodann die Ergebnisse von Visitationsprotokollen und anderen Quellen, die Einblick in den Gemeindealltag gewähren, ausgebreitet. Der besondere Wert dieser Studie liegt gerade in diesem zweiten, "praktischen" Teil: Die Fülle von Zitaten aus den Quellen vermittelt der Leserin und dem Leser einen hervorragenden und lebendigen Eindruck dessen, was Laien im 16. Jahrhundert von ihren konkubinarischen Priestern tatsächlich hielten, und wie sich die bischöflichen und herzoglichen Versuche, die Zölibatsfrage zu regeln, in den Alltag und die Frömmigkeitspraxis niedergeschlugen.

So berichtet etwa eine im Herzogtum Jülich im Jahre 1533 durchgeführte landeskirchliche Visitation, dass mehr als ein Fünftel der Kleriker in offenen Konkubinatsverhältnissen lebten, die zwar höchst unterschiedlich von ihren Gemeindegliedern bewertet wurden, aber in keinem einzigen Fall einen akuten Konflikt darstellten (154). Die Kirchenvisitationsprotokolle der Jahre 1550 und 1559/1560 berichten sogar von fast vierzig Prozent der Kleriker als unverhohlenen Konkubinariern (211). Zu Recht macht die Autorin auf die je nach Betrachterperspektive und historischem Kontext unterschiedlichen Dimensionen des Zölibatsbruchs aufmerksam: Hinter den Bestrebungen der Amtskirche, den Zölibat einzuschärfen, lag der Wunsch, die kultische Reinheit des Priesters zu wahren. Dagegen zielte die diesbezügliche landesherrliche Gesetzgebung um 1500 eher darauf, Kleriker von Laien klar abzugrenzen (110); für viele Gemeindeglieder selbst war nur entscheidend, dass der konkubinarische Priester seinem Haushalt, zu dem die Pfarrköchin gehörte, wie ein ordentlicher pater familias vorstehe (40f. und 163). Im Konfessionalisierungszeitalter sollte die Verschärfung der Zölibatsforderung primär dazu dienen, den katholischen Klerus eindeutig vom evangelischen zu unterscheiden (400f.). Auffällig ist das hohe Konfliktpotential, das die konkubinarischen Verhältnisse in sich bargen: Auch wenn sie geduldet wurden, hatten sie nach der Erwartung vieler Gemeindeglieder diskret geführt zu werden (401). Das Konkubinatsverhältnis eines Priesters mit der Tochter einer angesehenen Familie kam nicht in Frage (162); meist entstammten die Priesterkonkubinen "marginalen sozialen Gruppen" (ebd.). Wenn auch die Autorin einige besonders interessante, ja bewegende Konfliktfälle - zur Freude der Leser - äußerst detailliert wiedergibt (340-344), geschieht dies nicht aus der Neigung zu einer histoire scandaleuse, sondern mit dem Ziel einer nüchternen, umsichtigen Einordnung dieser Ereignisse in den Forschungszusammenhang (400f.). Überzeugend stellt Flüchter dar, wie die ab 1614 einsetzende konfessionelle Verhärtung das offene Konkubinat verschwinden ließ, wenn auch dieses Ideal von den betroffenen Priestern nicht internalisiert wurde (408f.).

Diese Studie besticht durch ihre klare Struktur und durch die methodische Vorgehensweise der Autorin. Freilich hätten die Passagen, in denen die Autorin die theologischen und kirchenpolitischen Voraussetzungen der Zölibatsfrage diskutiert, eine gewisse Kürzung vertragen (49-94). Etwas forciert wirkt auch das Verharren der Verfasserin auf dem Begriff der "via media" als hermeneutischem Schlüssel zur Erklärung der Vorgehensweise der herzoglichen Regierung, der Amtmänner des Herzogs, der Hoftheologen, und der betroffenen Priester. Von der "erasmischen-humanistischen Grundhaltung" wird oft gesprochen, als handele sich bei ihr um ein drittes, fest definiertes, klar konturiertes Lager neben Katholiken und Protestanten, was besonders problematisch ist, wenn Philipp Melanchthon, der Verfasser des Augsburger Bekenntnisses, zu ihr gezählt wird (134, Anm. 541).

Für den Kirchenhistoriker etwas befremdlich ist das Zitieren von einschlägigen Werken des Erasmus nicht nach den bekannten kritischen Editionen (Leiden 1703-1706 oder Amsterdam 1969ff.), sondern nach einer im 18. Jahrhundert veröffentlichten deutschen Übersetzung (68). Dasselbe gilt für das Zitieren Luthers nach einem Reclam-Heft (61, Anm. 256).

Diese problematischen Aspekten mindern nicht die Stärken des Buches, die in der Analyse unzähliger, bisher unbekannten Quellen, der Auswertung relevanter Visitationsprotokolle und dem umsichtigen Konjizieren über die tatsächlichen Verhältnisse "auf dem flachen Land" liegen. Flüchter eröffnet der Leserin und dem Leser einen faszinierenden Einblick in das schillernde Geflecht von Beziehungen, die zwischen Geistlichen und Pfarrkindern in der frühen Neuzeit bestehen konnten. Ein Grundstein zum Verständnis der Priesterehe und des Konkubinats in dieser Übergangszeit ist gelegt worden, auf dem nun weitere, anderen Territorien gewidmete Studien aufbauen sollten.

Stephen E. Buckwalter