Rezension über:

Dan Diner (Hg.): Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts. Simon Dubnow Institute Yearbook V (2006), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 620 S., ISBN 978-3-525-36932-6, EUR 69,90
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Rezension von:
Patricia von Papen-Bodek
Wallerfangen / Saar
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Patricia von Papen-Bodek: Rezension von: Dan Diner (Hg.): Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts. Simon Dubnow Institute Yearbook V (2006), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 10 [15.10.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/10/12754.html


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Dan Diner (Hg.): Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts

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Der Themenschwerpunkt des Jahrbuchs ist die "'Judenforschung'-Zwischen Wissenschaft und Ideologie", dem insgesamt elf Aufsätze gewidmet sind. Auf diese Beiträge beziehen sich die folgenden Ausführungen.

Eine zentrale Frage bei jeder Analyse antijüdischer Wissenschaft im 'Dritten Reich' ist, ob und in welcher Weise Judenforschung Judenverfolgern sachdienlich war. Ob ein jüdischer Wissenschaftler, Beamter oder Musiker dabei von hoch dekorierten Akademikern oder Pseudowissenschaftlern "aufgespürt" wurde, dürfte für den Betroffenen von sekundärer Bedeutung gewesen sein, vorausgesetzt er erfuhr überhaupt wer seine Abschiebung veranlasst hatte. Für die Exekutive hingegen waren Judenexperten unabdingbares Werkzeug: Für Judenreferenten in den Ministerien, für Judenberater in den deutschen Botschaften der besetzten Länder wie für den Sicherheitsdienst war es von höchster Wichtigkeit, dass Judenexperten stichfeste Informationen lieferten, Bibliographien, Handbücher und Lexika erstellten, Abstammungsgutachten vorlegten und ihre Arbeit guthießen, sie - scheinbar wissenschaftlich nachvollziehbar - legitimierten.

So berichten Dirk Rupnow und Nicolas Berg (leider ohne Quellenangabe), dass der Leiter der Forschungsabteilung Judenfrage Wilhelm Grau nicht nur in ausgewiesen antisemitischen Handbüchern publizierte, sondern auch Artikel für das renommierte Meyers Konversationslexikon verfasste. Jüdische Abwehrstrategien gegen antisemitische Wissenschaftler behandeln Veronika Lipphardt bei jüdischer Erbforschern in der Emigration, und Rupnow, der Vordenker der späteren Leo Baeck Institute vorstellt: Bezog Althistoriker Eugen Täubler gegen das Frankfurter Institut der NSDAP Position, wie Rupnow schreibt, oder gegen das Berliner Institut des Propagandaministeriums, wie seine Fußnote belegt? (543) Falsch ist, dass Hitler sich nicht in die "Judenforschung" einmischte (578); er instruierte Rosenberg höchstpersönlich, was anlässlich der Instituts-Eröffnung in Frankfurt öffentlich verlautbart werden durfte.

Claudia Koonz analysiert die Verbreitung antijüdischer Expertise vor dem Krieg. Weshalb beauftragte die Partei Akademiker Forschungen zur sogenannten jüdischen Gefahr vorzulegen? Mit den Nürnberger Gesetzen entstand entschiedener Klärungsbedarf, wer zu den jüdischen Verfolgten gehörte. Koonz hätte die Eröffnung der Forschungsabteilung Judenfrage mit ihrer politisch hochbrisanten genealogischen Datenbank zu Abstammungsdaten hier wesentlich stärker in den Kontext rücken können, denn sie war in der Vorkriegszeit die zentrale Stelle antisemitischer historischer Forschung. Wilfried Euler, ihr Genealoge, stand mit Achim Gercke, seinem ehemaligen Chef vom Reichssippenamt in ständigem Kontakt. Kopien der ausgefüllten Fragebögen zu Eulers Historische[n] Statistik zu Judentaufen und Mischehen in Deutschland gingen an das Reichssippenamt, seine Ahnenlisten "jüdisch versippter" Politiker oder Wirtschaftsbosse an das Auswärtige Amt, Graus Anmerkungen zu "jüdisch versippten" Diplomaten an die Reichskanzlei, seine Gutachten gegen jüdische Doktoranden an die Universitätsleitungen. Gerade diese Verzahnung beschleunigte die Effizienz der Verwaltung.

Carsten Schreiber zufolge bestand die Gefährlichkeit der Gegnerforschung im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) nicht in ihrer Außen-, sondern in der Binnenwirkung in den Apparat hinein. Ihr Einfluss nahm während des Krieges ab. Die Funktion der Judenforschung im RSHA sei nicht Wissensproduktion, sondern Beförderung einer gefährlichen SS-Mentalität gewesen. Dem ungarischen Institut zur Erforschung der Judenfrage billigt er lediglich den Stellenwert einer Fußnote in der Geschichte der ungarischen Judenverfolgung zu; seinen Leiter, Zoltán Bosnyák, unterschätzt er. Denn das ungarische Institut war direkt an der Verfolgung ungarischer Juden beteiligt: Bosnyáks Büro befand sich in der Abteilung für Judenfragen im ungarischen Innenministerium, es arbeitete Hand in Hand mit der deutschen Polizei, für die, wie Schreiber nachweist, Heinz Ballensiefen, Judenforscher des RSHA, publizierte. Ballensiefens Informationsberichte zur Judenfrage für die Befehlshaber der Sipo und des SD, sowie Ministerien, NSDAP-Reichsleitung und Auswärtiges Amt verbesserten die Binnenkommunikation, um die Erfassung und Ermordung von Juden zu beschleunigen. Seine Beteiligung am Kampfblatt des ungarischen Instituts, Harc, verfolgte dasselbe Ziel. Wie im Falle Eulers, der ebenfalls weder seine Historische Statistik noch seine Abstammungsgutachten zu diversen jüdischen Gruppen je veröffentlicht, sondern amtsintern verwandt hat, erschließt sich Ballensiefens "Leistung" nicht aus Publikationen, sondern aus versprengten Akten.

Alan Steinweis und Hans-Christian Petersen widmen sich der Rolle des Ostjudenexperten Heinz Peter Seraphim während und nach dem Kriege. Steinweis schätzt dessen politischen Einfluss als äußerst gering ein. Seraphims Memorandum an den Chef des Rüstungsamtes im Oberkommando der Wehrmacht, in dem er sich über die Massenerschießungen in der Ukraine entrüstete, zeige, dass anfängliche Unterstützung antijüdischer Maßnahmen in Deutschland vor Beginn der Endlösung nicht automatisch als Zustimmung zum Massenmord verstanden werden dürfe. Petersen weist nach, dass Seraphim dank kurzfristiger Verwendung im amerikanischen Geheimdienst und alter Seilschaften problemlos entnazifiziert wurde, dann aber von den Berufsverbänden geschnitten wurde. Diesem Karrierebruch entkam Seraphim als Studienleiter der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie Bochum.

Matthias Berg hat die Verlagskorrespondenz zwischen Wilhelm Grau und Ludwig Feuchtwanger sowie Graus Habilitationsakte ausgewertet und präsentiert erstmals Auflagenzahlen sowie bis dato nicht bekannte Rezensionen zu Graus "Judenforschung." Die Umfrage der Jüdischen Rundschau nach der Zukunft jüdischer Wissenschaft in Deutschland im April 1936 ist in Zusammenhang mit der Eröffnung der Forschungsabteilung Judenfrage zu sehen. Berg ergänzt außerdem wichtige Details zum Historikerstreit Grau / Straus als Auftakt der Vertreibung jüdischer Wissenschaftler.

Der Beitrag von Stephan Laux zu Heinrich Schnee alias Winfried Ekkehard verdeutlicht, dass dessen Hofjudenstudien aus der Nachkriegszeit auf das Preisausschreiben des Reichsinstituts zurückgehen, zwischen Schnees und Graus Darstellung der Hofjuden aber differenziert werden muss. Auch Schnees nach dem Kriege publizierten Aufsätze zu den Ahnen Heines und Börnes tradieren eines der Leitmotive des Reichsinstituts, demzufolge die Hoffaktoren der Emanzipation den Weg bereitet haben, weiter.

In Horst Jungingers Beitrag nimmt Karl Georg Kuhn innerhalb der Tübinger "Judenforschung" als erster Professor einer rein antisemitischen Judenwissenschaft im 'Dritten Reich' den prominentesten Platz ein. Im Frühsommer 1940 reiste Kuhn im Auftrag der Forschungsabteilung in das besetze Polen um sich jüdische Archivalien und Bibliotheken anzueignen. Zur Begründung der Zähigkeit der Verhandlungen zwischen Tübinger Universität und Reichserziehungsministerium um einen antisemitischen Lehrstuhl mutmaßt Junginger, "dass die oberste Wissenschaftsbehörde die Schaffung einer antisemitischen Professur sachlich für nicht mehr geboten" hielt. "Da in Deutschland keine Juden mehr lebten, gab es auch kein "Judenproblem" mehr, das zu erforschen sich gelohnt hätte. Auf europäischer Ebene zeichnete sich ebenfalls ab, dass sich das Problem binnen kurzem erledigt haben würde. Zu Recht machte Uwe Dietrich Adam geltend, dass man bei der in Angriff genommenen "Endlösung der Judenfrage" derartiger Lehrstühle nicht mehr bedurfte." (390) Im September 1941 zeichnete sich keineswegs ab, dass sich auf gesamteuropäischer Ebene "das Problem" (Junginger übernimmt hier leider die Terminologie!) binnen kurzem "erledigt haben würde." Warum stimmte dann das Ministerium trotz fortschreitender Ermordung der europäischen Juden der Ernennung Kuhns zum außerordentlichen Professor Ende September 1942 und der Errichtung eines Lehrstuhls für Judenkunde an der Universität Frankfurt Anfang 1944 zu? Die übergeordnete und damit verbundene Frage, weshalb Judenforschung hauptsächlich an außeruniversitären Instituten, die stets die Anbindung an Universitäten suchten, betrieben wurde, wird die Forschung jedenfalls noch weiter beschäftigen. Ob die Forschungsabteilung tatsächlich als "betont protestantisch" charakterisiert werden kann, nur weil die Tübinger Experten ihr angehörten, ist fraglich. Wilhelm Grau, Anton Krezdorn und Clemens Hoberg waren katholisch, was Walter Frank nicht im geringsten gestört hatte, bis Grau an ihm vorbei Judenpolitik machen wollte.

Susannah Heschel begründet in ihrem Beitrag die Politisierung der historischen Figur Jesus: Während ab Mitte des 19. Jahrhunderts jüdische Theologen das Judentum Jesus' hervorhoben, um die Emanzipation der Juden zu rechtfertigen, revidierten die Deutschen Christen die politische Emanzipation, indem sie Jesus 'arisierten'. Julius Leffler, ein Gründungsmitglied der Thüringer Deutschen Christen, plädierte bereits im Februar 1936 für die Ermordung von Juden. Kirchengemeinden im ganzen Reich kauften hunderttausende "entjudeter" Bibeln, hier wären Quellenangaben und geographische Zuordnungen interessant. Dem Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben gehörten Theologie-Professoren aus dem gesamten Reich an, die von der informellen Anbindung an die Universität Jena profitierten und sich, wie die antijüdischen Historiker, bei der Wehrmachtsschulung engagierten.

Das Jahrbuch bietet einen wichtigen Ausschnitt deutscher und amerikanischer Forschungsansätze zum Thema "Judenforschung." Da es sich jedoch um eine zutiefst europäische Thematik handelt, bliebe zu wünschen, dass in Zukunft vor allem französische, italienische und ungarische Historiker sich ihrer ebenfalls annehmen.

Patricia von Papen-Bodek