sehepunkte 8 (2008), Nr. 2

Meinrad von Engelberg: Renovatio Ecclesiae

Die Kunst des süddeutschen Barock stand lange im Ruf, auf einen lokalen Idiolekt festgelegt zu sein. Einige Autoren trauten es sich sogar zu, eine Binnendifferenzierung nach schwäbischen und bayerischen Morphemen vornehmen zu können. Dass es angemessener ist, diese Perspektive umzudrehen und die süddeutsche Sakralkunst des 16. und 17. Jahrhunderts in ein Feld europaweit geltender Paradigmen zu stellen, belegt Meinrad von Engelberg in seiner klar geschriebenen und großzügig bebilderten Monografie auf eindrucksvolle Weise. Ein zentrales Anliegen des Buches ist es, die Vielgestaltigkeit des süddeutschen Barock an einer Gattung kenntlich zu machen, die sich durch einen außergewöhnlichen Reichtum individueller Lösungen auszeichnet: Ein vorhandenes Kirchengebäude wird "renoviert", indem Architektur und bildkünstlerische Ausstattung erweitert, modifiziert oder bis zur Unkenntlichkeit überformt werden.

Mit dem Konzept einer breit angelegten, komparatistisch vorgehenden Überblicksdarstellung grenzt sich Engelberg von einer Forschungstendenz ab, die sich vorzugsweise auf Fallstudien einzelner Objekte verlegt hat. Diese, so lautet der zentrale Kritikpunkt des Einleitungsteils, gingen in der Regel von einem allzu 'monolithischen' Begriff der Barockisierung aus. Einer stark vereinheitlichenden und linearisierenden Sichtweise setzt der Autor einen vergleichenden Blickwinkel entgegen, der offen bleiben soll für die gesamte Breite gleichzeitig verwendeter Gestaltungskonzepte. Konkret bedeutet dies in erster Linie eine Ausweitung der Materialbasis auf solche Interventionen, die bisher als künstlerisch unbedeutend oder nicht repräsentativ galten, und eine Ausweitung des Betrachtungszeitraums auf die gesamte Neuzeit zwischen 1550 und 1800.

Als Ersatz für den zu engen und zu einseitigen Begriff der Barockisierung schlägt der Autor den Terminus Renovatio vor, den er erst einmal in einem rein "pragmatischen" (16) Sinne als Erneuerung verstanden wissen möchte. Auf dieser neutraleren Grundlage soll eine Modellbildung möglich werden, welche nicht mehr von einem starren Schema 'stiltypischer' Barockisierung ausgeht, sondern die parallele Anwendung strukturell verschiedener "Modi der Renovatio" vorsieht: Engelberg schlägt vor, einen Modus der kompletten Überformung der gesamten Innenschale der Kirchen ("Italienischer Modus"), einen Modus der partiellen Intervention, der neue Elemente kontrastierend gegen den alten Bestand setzt ("Französischer Modus"), und einen Modus der Inszenierung des Alten im Rahmen des Neuen ("Historisierender Modus") zu unterscheiden.

Mit dem Modus-Modell stellt der Autor die gesamte Diskussion der Renovatio-Problematik in einen neuen, deutlich komplexeren Bezugsrahmen. Gleichzeitig erhebt er in Kapitel II ("Renovatio im europäischen Vergleich") den Anspruch, jeder der drei Modi lasse sich aus einer geografischen klar umgrenzten Herkunftsregion herleiten. So habe sich die Renovatio-Praxis in Italien primär an kunsttheoretischen Normen ausgerichtet, welche die komplette Verhüllung des mittelalterlichen Kircheninneren mit einem modernen 'Architekturgewand' als beste Lösung erscheinen ließen. Die Gegenposition dazu verortet Engelberg in Frankreich mit seinem insgesamt positiv konnotierten Verständnis der Gotik als "französisch-katholischem Nationalstil". Charakteristisch für französische Renovationes seien Interventionen, die den Charakter nachträglich eingebauten "Mobiliars" (113) besaßen. Als Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen seien schließlich mehrere Renovationes des Habsburgerreiches einzustufen, welche eine "Verschmelzung von mittelalterlicher Substanz und moderner Dekoration zu einem unauflösbaren, neuen Ganzen" anstrebten.

Der süddeutschen Renovatio-Aktivität ordnet Engelberg keinen eigenen Modus zu. Der Autor sieht sie zunächst durch eine außerordentliche Intensivierung gekennzeichnet, die sich auf das kleinräumige Nebeneinander unterschiedlicher Konfessionen im süddeutschen Raum zurückführen lasse: "Nirgendwo rieben sich die Konfessionen so hart aneinander wie im Süden des Reiches, und deshalb wurde dort fleißiger und aufwendiger renoviert als im Norden, in Frankreich und in Italien" (490). Dass es trotz des vermehrten Interesses an einer Erneuerung der Gotteshäuser nicht zur Ausprägung eines spezifisch süddeutschen Renovatio-Modus kam, sei in letzter Konsequenz ebenfalls durch das Nebeneinander unterschiedlicher Konfessionen bedingt: Gotische Architektur konnte keine konfessionsspezifischen Konnotationen annehmen, weil protestantische wie katholische Bauherren sich gleichermaßen um sie bemühten.

An dieser Stelle seien ernsthafte Zweifel angemeldet, ob die Verbindung des Modus-Modells mit geografischen Kriterien wirklich tragfähig ist. Denn die für Süddeutschland beanspruchte Modus-Vielfalt prägt ja, wie Engelberg selbst zugesteht, auch die Situation in den Nachbarländern. So wird im Italienkapitel nicht nur Borrominis Totalrenovierung der Lateransbasilika diskutiert, sondern auch Berninis Teilerneuerung von Santa Maria del Popolo, die eher dem Muster des "Französischen Modus" folgt. Die Beispiele für solche Renovationes in 'ortsfremden' Modi sind in Rom bereits um 1600 sehr zahlreich (Santa Maria Maggiore, Santa Maria in Trastevere und zahlreiche Märtyrer-Tituli). Auch für das Habsburgerreich konzediert Engelberg eine solche Vielfalt der Modi, weshalb er die dritte Spielart der Renovatio gar nicht erst mit einem geografischen Herkunftsnamen belegt.

Wie komplex sich die Genese jeder einzelnen Renovatio ausnimmt, zeichnet Engelberg im dritten Kapitel zu den "Renovationes süddeutscher Domkirchen" nach. Neben prominenteren Projekten wie Passau und Freising schließt diese Diskussion auch die bislang wenig beachteten Erneuerungsmaßnahmen etwa in Eichstätt und Konstanz ein. Im Zusammenspiel von "strukturanalytischer" Betrachtung und gründlicher Sichtung des Quellenmaterials gelingt hier die Neubewertung eines Genres der Renovatio, dem man von der kirchenrechtlichen Stellung der betroffenen Denkmäler sogar eine gewisse Leitfunktion zubilligen darf. Als Fazit für die Geschichte der Renovatio 'an sich' wird festgehalten, dass der Ausgang jedes Projekts von einer individuellen Gemengelage heterogener Faktoren abhängt: dem vorhandenen Bau selbst, den Machtverhältnissen innerhalb der auftraggebenden Institution, der Verfügbarkeit von Künstlern usw.

Ausgehend von diesem Befund stellt sich die Frage, ob und wie sich dann noch ein semantischer 'Mehrwert' der Renovationes eingrenzen lässt: Bereits der Titel des Buches legt ja nahe, dass jede Renovatio immer auch eine symbolische Handlung ist, die ein bestimmtes Traditions-, Geschichts- oder Institutionsverständnis artikuliert. Im Laufe der Lektüre entsteht jedoch mehr und mehr der Eindruck, dass es für jedes Renovierungsprojekt immer zwei Bewertungsskalen gibt, die letzten Endes nicht zur Deckung zu bringen sind. Aus einer makrohistorischen Perspektive, wie sie insbesondere in Kapitel II ("Renovatio im europäischen Vergleich") eingenommen wird, scheint der Zusammenhang zwischen einer Zunahme der Renovationes seit dem fortgeschrittenen 16. Jahrhundert und dem politik- und kirchengeschichtlichen Hintergrund der Zeit evident. Mit der konfessionellen Spaltung hatte das Traditionsargument neues Gewicht für das kirchliche Selbstverständnis erlangt, und eben dieser Bezug auf das Erbe der alten Kirche ließ sich am Umgang mit den alten Kirchengebäuden für alle sichtbar machen.

In der mikrohistorischen Perspektive jedoch verflüchtigt sich die Wirksamkeit der globalen Rahmenbedingungen zugunsten eines Zusammenspiels letztlich kontingenter Faktoren. Oftmals, so Engelberg, behielten "ästhetische und pragmatische Argumente" (374) die Oberhand gegenüber programmatischen Überlegungen - ein Urteil, das durch die 50 "Kurzmonographien" ganz unterschiedlich gelagerter "Exempla Renovationis" im Anhang des Buches noch einmal bekräftigt wird. Auch die Begründungen, welche die jeweiligen Bauherren selbst für die von ihnen durchgeführte Renovatio anführen - sie werden neben anderen Aspekten in Kapitel IV ("Grundfragen der Renovatio") zusammengetragen - lassen von einer konfessionspolitischen Stoßrichtung wenig erkennen. Auf der Ebene schriftlicher Kommunikation zumindest spielten Faktoren wie die konfessionelle Zugehörigkeit der Auftraggeber oder die Abgrenzung des Katholizismus von anderen Glaubensgemeinschaften keine Rolle.

Die Spannung von Makro- und Mikrohistorie wird auch am Ende des Buches nicht aufgelöst. Wer ein eindeutiges Fazit erwartet, mag von der differenzierten Bilanz des Schlussteils enttäuscht sein. Doch wird man dieser sorgfältig recherchierten Studie sicher besser gerecht, wenn man sie als Grundsatzkritik an der vorherrschenden Forschungsmeinung betrachtet, die auf der Basis einer beeindruckenden Sachkenntnis sehr abgewogen und klar nachvollziehbar vorgetragen wird. Weit über den Spezialfall der Kirchen-'Renovierung' hinaus enthält Engelbergs Buch gewichtige Denkanstöße zur Internationalität, Komplexität und Mehrdimensionalität der süddeutschen Barockkunst.

Rezension über:

Meinrad von Engelberg: Renovatio Ecclesiae. Die 'Barockisierung' mittelalterlicher Kirchen (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 23), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2005, 671 S., 59 Farb-, 434 s/w-Abb., ISBN 978-3-935590-97-6, EUR 99,00

Rezension von:
David Ganz
Zukunftskolleg, Universität Konstanz
Empfohlene Zitierweise:
David Ganz: Rezension von: Meinrad von Engelberg: Renovatio Ecclesiae. Die 'Barockisierung' mittelalterlicher Kirchen, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2005, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 2 [15.02.2008], URL: https://www.sehepunkte.de/2008/02/14226.html


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