Rezension über:

Jens Thiel: "Menschenbassin Belgien". Anwerbung, Deportation und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. Neue Folge; Bd. 20), Essen: Klartext 2007, 426 S., ISBN 978-3-89861-563-1, EUR 39,90
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Rezension von:
Uta Hinz
Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Uta Hinz: Rezension von: Jens Thiel: "Menschenbassin Belgien". Anwerbung, Deportation und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg, Essen: Klartext 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 6 [15.06.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/06/12730.html


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Jens Thiel: "Menschenbassin Belgien"

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Jens Thiel legt die bislang umfassendste Darstellung zur deutschen Arbeitskräftepolitik im besetzten Belgien 1914 bis 1918 vor. Sie stützt sich auf einen beeindruckend breiten Quellenkorpus, u.a. Bestände aus achtzehn Archiven. Das Geflecht konkurrierender Interessen und Konzepte von zivilen Reichsbehörden und der Zivilverwaltung in Brüssel einerseits, von Militärbehörden und Industrie andererseits zeichnet Thiel ebenso differenziert nach wie machtpolitische Konstellationen und zeitliche Zäsuren. Zwei Kapitel konzentrieren sich auf Entscheidungsprozesse, Organisation und Ablauf der Deportationen zwischen Oktober 1916 und Februar 1917. Sie werden in den durch die Forschung bislang wenig beachteten Kontext von Zwangsmaßnahmen in den besetzten Gebieten selbst eingeordnet, insbesondere die militärisch organisierte Zwangsarbeit belgischer Zivilisten im Etappen- und Frontgebiet. Sehr ausführlich geht die Studie auf die zeitgenössische deutsche Diskussion sowie die internationale Kritik an den Deportationen ein und diskutiert deren Einfluss auf die 1917 erfolgte Abkehr von offener Zwangspolitik. Detailliert dokumentiert werden anschließend die erneut auf "Anwerbung" basierende Arbeitskräftepolitik bis Kriegsende sowie die juristische, politische und sozialpolitische Nachgeschichte der Deportationen im Kontext der Kriegsschulddebatte. Weitere Kapitel behandeln die Arbeits- und Lebensbedingungen der belgischen Arbeiter, das Fremdbild des belgischen Arbeiters, die Reaktionen in Belgien, aber auch deutsche Vorstellungen zur Rolle Belgiens als "Menschenreservoir" (271) in der Nachkriegszeit.

Einleitend ordnet der Autor seine Untersuchung in gleich zwei große Forschungskontexte ein: das Konzept einer Totalisierung des Krieges (17f.) und die durch Ulrich Herbert aufgeworfene Frage nach der Kontinuität deutscher Zwangsarbeitssysteme in beiden Weltkriegen (17). Wird der Erfahrungstransfer zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg in Bezug auf Belgien im Schlußkapitel problematisiert, diskutiert eine einführende historische Verortung zugleich Kontinuitätslinien zu disziplinierenden staatlichen Arbeitsmobilisierungen vor 1914 sowie insbesondere zur deutschen Kolonialpolitik (30). Auch forschungsstrategisch formuliert Thiel damit ein sehr anspruchsvolles Programm.

Bezüglich der Arbeitskräftepolitik im besetzten Belgien zwischen 1914 und 1918 konstatiert der Autor eine Totalisierung insbesondere von Kriegszielen und -methoden (17f.). Tendenziell total waren danach das Kriegsziel und auch "das brutale Vorgehen während der Deportationen" (18). Totale Ressourcenmobilisierung und Kontrolle waren dagegen faktisch nicht umzusetzen, weshalb auch in der zweiten Kriegshälfte der Erste Weltkrieg "eben nur in der Tendenz, aber nicht in der Realität als ein totaler Krieg bezeichnet werden" könne (18). Die Bedingungsfaktoren dieser Entwicklung werden in der Darstellung minutiös nachgezeichnet und ausdifferenziert. Als ein durchgängig wichtiger Faktor erweist sich dabei der für die Entwicklung der Arbeitskräftepolitik in Belgien insgesamt bedeutsame Konflikt zwischen der am langfristigen Ziel ökonomischer Durchdringung orientierten Politik der Zivilbehörden in Brüssel und Berlin und der zunehmend auf kurzfristige Ressourcenbefriedigung ausgerichteten "rücksichtslosen Ausbeutungspolitik" (329) von Militärs (und Teilen der Schwerindustrie). Während letztere sich bereits im Verlauf des Jahres 1916 konzeptionell, mit der 3. OHL im Oktober 1916 dann faktisch durchsetzte, erscheint die Revision der "Zwangsoption" 1917 nicht zuletzt als Sieg der gemäßigten Politik. Thiels detaillierte Darstellung der in ihrer bürokratischen Kälte erschreckenden, insgesamt jedoch dilettantisch improvisierten Durchführung von Deportation und Zwangsarbeit im Winter 1916/17 (140-147) betont zugleich aber einen zweiten entscheidenden Faktor: die ökonomische Ineffizienz offener Gewaltanwendung, da eine Optimierung der Zwangspolitik zu einem perfektionierten System von Ausbeutung und Terror nicht gelang (147). Die Bedeutung der internationalen Kritik für die Revision der Deportationspolitik hebt Thiel gleichfalls hervor (334). In seiner Darstellung zeigt er allerdings, dass die Kritik neutraler Staaten zumeist eher zurückhaltend erfolgte (228f.). Vor allem der - recht späte - Protest der USA lieferte der ganz überwiegend politisch-taktisch motivierten Gegenwehr von zivilen Reichsbehörden und Reichstag zentrale Argumente. Verdeutlicht wird auch, dass die politische Intervention sich 1917 nur in der Deportationsfrage gegenüber dem Militär durchsetzte. Die gleichfalls brutale wie völkerrechtswidrige Zwangsarbeit von Zivilisten im Etappen- und Operationsgebiet endete erst mit dem Waffenstillstand 1918 (291). Eine bloße Rückkehr zum status quo ante sieht Thiel nach Mai 1917 zudem nicht. Er argumentiert überzeugend, dass eine Ursache für den anschließend sprunghaften Anstieg der Zahl "freiwillig" angeworbener Arbeiter aus Belgien die Angst vor neuer Repression war (247). Auch wenn die Strategie von "Zuckerbrot und Peitsche" (247) ökonomisch erfolgreicher funktionierte als offener Zwang, ging die "zynische Rechnung der Deportationsbefürworter" letztlich auf (239). Die hier nur skizzierten radikalisierenden wie eine Totalisierung hemmenden Faktoren arbeitet der Autor mit beeindruckender Quellenkenntnis und Genauigkeit heraus. Wünschenswert wäre allerdings mehr Einordnung seiner Ergebnisse und Thesen in die bisherige, von ihm breit rezipierte Forschung.

Die Kontinuitätsfrage diskutiert Jens Thiel in Form eines Ausblicks (318-329). Er kommt zu dem Schluß, dass Abläufe und Formen der Arbeitskräftepolitik im Zweiten Weltkrieg "in zum Teil bestürzender Weise Mustern aus dem Ersten Weltkrieg" folgten (327f.), zudem ein direkter Ideen- und Erfahrungstransfer vermutet werden kann (321). Er verweist nicht nur auf strukturelle Parallelen (den erneuten Übergang von Anwerbung zu dann brutalstem Zwang). Anhand der Planungen der deutschen Militärverwaltung in Belgien ab 1940 zeigt Thiel, dass die historische Erfahrung mangelhafter Effektivität offenen Zwangs dazu führte, bis 1942 eine noch "vergleichsweise moderate Arbeitskräftepolitik in Belgien beizubehalten." (323) Allerdings setzten sich schon kurz darauf, nach Thiel ebenfalls in struktureller Parallelität zum Ersten Weltkrieg, die Befürworter einer radikalen Zwangspolitik durch. Mit der auf Druck des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz dann in völlig neuem Ausmaß an Brutalität erfolgten Umsetzung von Deportation und Zwangsarbeit auch in Belgien endet für Thiel jede Vergleichbarkeit (324). Insgesamt warnt er vor einer vereinfachten Gleichsetzung oder linearen Herleitung der Zwangsarbeitspolitik im Zweiten Weltkrieg (329) und mahnt weitere vergleichende Forschung an. Mehr ist in einem Ausblick zu einer insgesamt breit angelegten und extrem dichten Arbeit sicher nicht möglich.

Wer sich mit dem Ersten Weltkrieg und der Totalisierung des Krieges im 20. Jahrhundert näher beschäftigt, wird an der quellengesättigten und äußerst facettenreichen Studie von Jens Thiel nicht vorbeikommen. Allerdings hätten etwas mehr Schwerpunktsetzung und die Straffung einiger Passagen dieser überzeugenden Forschungsarbeit nicht geschadet.

Uta Hinz