sehepunkte 8 (2008), Nr. 6

Brian McGing / Judith Mossman (eds.): The Limits of Ancient Biography

Die Beiträge dieses Sammelbandes gehen auf eine Tagung zurück, die im Jahr 2001 von Judith Mossman am All Hallows College in Dublin organisiert worden ist. Er stellt ein weiteres Zeugnis für das seit einigen Jahren zunehmende Interesse an antiker Biographie dar. [1] In ihrer Einleitung setzen sich die Herausgeber mit der Frage nach der 'Gattung Biographie' auseinander. Gegenüber einem sehr engen Gattungsbegriff, durch den die Biographie auf wenige 'Musterexemplare' reduzieren wird (A. Dihle), gehen sie von Momiglianos klassischer Definition aus, die man als maximalistisch bezeichnen kann: "an account of the life of a man from birth to death is what I call biography" (xi). [2] Sie schließen ebenfalls die Autobiographie mit in ihre Betrachtungen ein, "because the autobiography seems the most obvious way in which writers have toyed with the genre of biography" (xii-xiii). Dabei ziehen sie es vor, von Biographie und Autobiographie statt - wie heute oft üblich - "dem Biographischen" und "dem Autobiographischen" zu sprechen, und setzen sich zum Ziel, die Grenzbereiche zwischen Biographie und anderen Gattungen mit ihren jeweiligen Themen und Arbeitsweisen zu untersuchen. Dieser Ansatz ist gut begründet, da sich die antike Biographie - wie die Biographie überhaupt - weitaus schwerer als andere Gattungen durch klar zutage tretende Charakteristika beschreiben lässt und die Antike keine nennenswerte Theorie der Biographie entwickelt hat. Die antiken Biographien zeichnen sich vielmehr durch große inhaltliche und formale Offenheit aus und weisen Einflüsse unterschiedlichster literarischer Gattungen auf.

Ich kann im folgenden nicht auf alle der durchgehend anspruchsvollen und oft innovativen Beiträge im Detail eingehen und greife einige besonders interessante Aufsätze heraus.

Elizabeth Irwin (The biographies of poets: the case of Solon) setzt sich mit den heutzutage nahezu kanonischen Ansichten auseinander, dass das lyrische Ich in frühgriechischen Gedichten vom Autor strikt zu trennen sei und biographische Informationen über diese Dichter weitgehend fiktiv und ihren Werken oder der Komödie entnommen seien. Irwin geht von Solons Salamiselegie aus, von der Plutarch berichtet, Solon habe sie verfasst und in gespieltem Wahnsinn vorgetragen, um ein athenisches Gesetz zu umgehen, das es verbot, zum Krieg um die Insel aufzurufen. Irwin fragt nach der Bedeutung dieser Erzählung für die frühe Rezeption Solons, der Rolle, die der Dichter selbst bewusst oder unbewusst hinsichtlich seiner späteren Rezeption spielte, und letztlich danach, was man dem Gedicht an Historischem über den Autor entnehmen kann. Sie zeigt, wie sich der Dichter als Odysseus präsentiert und somit ein Bild von sich als einem Mann kreiert, der zwar ungern in den Krieg zieht, wenn es aber unvermeidlich ist, der tatkräftigste von allen ist. Solon erscheint hierbei als "transgressor, extending the boundaries of sympotic elegy" (23). Das Gedicht ist somit von Bedeutung für die Einschätzung Solons und die politische Kommunikation in seiner Zeit.

Besonders kontrovers wird seit einigen Jahren die Frage nach der Zugehörigkeit der Evangelien zur Gattung Biographie diskutiert. Eine solche hat Richard A. Burridge im Jahr 1992 in "What are the Gospels?" verfochten. [3] Sein Beitrag zum Sammelband (Reading the Gospels as biography) fasst seine Thesen erneut zusammen. Burridge entnimmt verschiedenen antiken Biographien Charakteristika formaler und inhaltlicher Art und bestimmt auf diese Weise Gattungsmerkmale. Er projiziert also nicht ein neuzeitliches Biographieverständnis auf die Antike, wie dies oft geschieht, was grundsätzlich, wie ich meine, ein richtiger Ansatz ist. Die so gewonnenen Gattungskriterien vergleicht er mit dem Befund der Evangelien.

Heftige Kritik an Burridge übt Mark Edwards (Gospel and genre: some reservations). Er wendet sich gegen eine feste gattungstheoretische Kanonisierung und Fixierung von Biographie und betont ihren offenen, Innovationen gegenüber aufgeschlossenen Charakter. Er betont hierbei die Heterogenität der von Burridge für die Etablierung der Gattungskennzeichen herangezogenen Texte (Plutarch, Diogenes Laertios, Philostrats Schrift über Apollonios, Isokrates' Enkomion Euagoras etc.). In diesem Punkt ist ihm sicher zuzustimmen, und Burridge hätte sich auf Schriften mit dem Titel Bios bzw. Vita beschränken sollen. Das Ergebnis wäre aber trotzdem nicht grundsätzlich anders ausgefallen. Edwards verweist auch auf andere Schriften, die nicht Bioi oder Vitae betitelt sind, aber nach unserem Verständnis Biographien darstellen. Auch deshalb, so meine ich, sollte man von einem so formalen Kriterium wie dem Titel ausgehen, Merkmale solcher Schriften feststellen und mit denen von Schriften anderen Titels vergleichen, die nach unserem Empfinden Ähnlichkeiten mit den Bioi/Vitae aufweisen. Insofern ist die Vorgehensweise von Burridge grundsätzlich richtig. Die von Edwards gegen dessen Interpretation der Evangelien als Biographien vorgebrachten Argumente haben dennoch weitgehend Gültigkeit und machen Burridges zu einseitige Sichtweise deutlich. Auf die Kritik von Edwards, die dieser auch anderswo bereits vorgetragen hatte, hat Burridge inzwischen an anderer Stelle reagiert. [4]

John Moles (Cynic influence upon first-century Judaism and early Christianity?) greift die seit einigen Jahren wieder verstärkt diskutierte Frage auf, ob Jesus und das frühe Christentum von Kynikern beeinflusst worden seien. Er tendiert dazu, einen solchen Einfluß anzunehmen. Seine These steht und fällt damit, ob man seine Ansicht teilt, dass der Kynismus nicht nach dem Ende des 3. Jh.s v. Chr. weitgehend ausgestorben und erst Mitte des 1. Jh.s n. Chr. auf der Grundlage des Stoizismus wiedererstanden ist, sondern vielmehr durchgehend existiert hat und das Schweigen der Quellen für den fraglichen Zeitraum Zufall ist. Ich halte das Fehlen von Nachrichten nicht für einen Zufall der Überlieferung.

Zu Recht bringt der Herausgeber des Bandes, Brian McGing, Philon von Alexandreias Leben des Moses zurück ins Bewusstsein der Klassischen Philologen (Philo's adaption of the Bible in his Life of Moses). Die Biographie des hellenisierten Juden aus der ersten Hälfte des 1. Jh.s n. Chr. ist von der Forschung zur antiken Biographie kaum beachtet worden. McGing zeigt, wie der Autor die Quellen des Alten Testaments so umgestaltet, dass Moses am Ende als weitgehend hellenisiert erscheint. Philon richtet sich, wie er hervorhebt, an ein griechisches Publikum, das Moses nicht kennt. Daher lässt er hebräische Namen weitgehend weg, dramatisiert die Ereignisse und schmückt sie (v.a. die Exodusgeschichte) detailreich aus.

Mit einer Reihe von Thesen in Patricia Cox' Monographie Biography in Late Antiquity [5] setzt sich John Dillon (Holy and not so holy: on the interpretation of late antique biography) sehr kritisch auseinander. Er wendet sich gegen ihre zentrale These, dass Biographen wie Eusebios und Porphyrios lediglich darauf ausgewesen seien, ihre Protagonisten als "Holy men" darzustellen, und ihre Lebensbeschreibungen letztlich rein symbolischen Charakters seien. Er macht überzeugend deutlich, dass es natürlich Konventionen enkomiastischer Biographie gab, heute aber oft zu wenig zwischen Glaubhaftem und Unglaubhaftem unterschieden wird und es grundsätzlich die Intention spätantiker Biographen war, das Porträt eines Lebens einmal mehr, einmal weniger fiktiv zum Zwecke der Erziehung und Erbauung zu verfassen.

Ein zentrales Thema der aktuellen Diskussion über die antike Biographie greift Christopher Pelling auf (Breaking the bounds: writing about Julius Caesar). Er stellt die Frage nach dem Verhältnis von Biographie und Historiographie und diskutiert anhand dreier Berichte über Iulius Caesar Überschneidungsbereiche und Differenzen. [6] Er hält zu Recht an den Gattungsbezeichnungen Biographie und Historiographie fest. Treffend verweist er darauf, dass eine Aussage Plutarchs zu Beginn seiner Alexandervita, er schreibe Bioi, nicht Historia, ein Gattungsbewußtsein auch in der Antike voraussetzt, dass eine entsprechende Schrift bei Leser also ein bestimmtes Set an Erwartungen weckte. Cassius Dios Bücher über die römische Kaiserzeit, so Pelling, sind durch eine Bio-Strukturierung gekennzeichnet: stark biographisch bei den Berichten über die ersten Regierungsjahre eines Kaisers und die Zeit vor seinem Tod, dazwischen mehr historiographisch und annalistisch. Wenngleich für die Zeit vor dem Prinzipat bio-strukturierende Elemente nicht fehlen, so setzt diese Darstellungsweise erst mit Octavian ein. Die Darstellung Caesars nimmt gewissermaßen eine Mittelstellung ein. Appians Schilderung der Bürgerkriege ist, wie der Autor selbst erklärt, nach Generälen der einzelnen Fraktionen strukturiert. Im Falle Caesars wird seine Erzählung 'plutarchisch', kommt also der Biographie sehr nahe. "History has become biography, or come as close to it as it ever gets." (265) Was Plutarchs angeht, so zeigt Pelling, dass sich dieser bei der Darstellung Caesars keineswegs an das Programm, das er zu Beginn der Doppelbiographie Alexander-Caesar entwirft, hält und seinerseits der Historiographie sehr nahe kommt. Diese Ausführungen über die Nähe von Biographie und Historiographie sollten alle diejenigen berücksichtigen, die in der Nachfolge Momiglianos noch immer an einer strikten Trennung der beiden Gattungen festhalten.

Judith Mossman (Travel writing, history, and biography) untersucht die Verwendung von Anekdoten über Reisen in Biographien (vor allem in Plutarchs Alexandervita) und den Alexanderhistorikern und stellt signifikante Gemeinsamkeiten fest, die zeigen, dass Reisedarstellungen Gattungsgrenzen überschreiten.

Die vexata quaestio der Gattungszugehörigkeit von Tacitus' Agricola geht Tim Whitmarsh an ('This in-between book': language, politics and genre in the Agricola) sowie die Frage nach der grundsätzlichen Einschätzung der Schrift. Er sieht in ihr keine versteckte Botschaft für den Leser, sie stelle diesen vielmehr vor schwierige und verunsichernde Auswahlmöglichkeiten. Sie enthalte keine Gegenideologie zu der des Kaiserhauses, sei aber auch kein Schriftstück kaiserlicher Ideologie. Sie sei charakterisiert von den "tensions underlying an encomiastic biography of a quietist".

Erschlossen wird der Sammelband durch einen index nominum et rerum.

Die vorgestellte Sammlung ist eine wahre Fundgrube für das Studium der antiken Biographie. Die Beiträge zeigen, dass man dem Phänomen der Biographie dieser Zeit am ehesten dadurch näher kommen kann, wenn man die entsprechenden Werke im Kontext der gesamten antiken Literatur interpretiert, Interpendenzen aufzeigt und sich geistig von idealtypischen Formen freimacht, ohne jedoch das Charakteristische - man könnte auch sagen: Gattungstypische - der Beliebigkeit preiszugeben.


Anmerkungen:

[1] Es existiert eine neue Gesamtdarstellung von H. Sonnabend: Geschichte der antiken Biographie. Von Isokrates bis zur Historia Augusta, Stuttgart, Weimar 2002. Ebenfalls auf eine Tagung zurück geht der Sammelband von M. Erler / St. Schorn: Die griechische Biographie in hellenistischer Zeit. Akten des internationalen Kongresses vom 26.-29. Juli 2006 in Würzburg, Berlin 2007.

[2] Zitat aus A. Momigliano: The Development of Greek Biography. Expanded Edition, Cambridge, Mass., London 1993, 11 (zuerst 1971).

[3] Richard A. Burridge: What are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biography, Cambridge 1992; Darborn, MI., 2. Auflage, 2004.

[4] Burridge (wie Anm. 2) 265-269 (in der 2. Auflage). Die Kritik von Edwards an Burridge formulierte dieser schon in dem Aufsatz "Biography and the Biographic", in: ders. / Simon Swain (eds.): Portraits: Biographical Representation in the Greek and Latin Literature of the Roman Empire, Oxford 1997, 227-236. Sie bezog sich auf die erste Auflage von "What are the Gospels" von 1992. Burridge reagiert in der Neuausgabe von 2004 auf die Vortragsfassung des hier vorliegenden Beitrags von Edwards.

[5] Patricia Cox: Biography in Late Antiquity: a quest for the Holy Man, Berkeley, Los Angeles 1983.

[6] Zum Verhältnis Biographie und Historiographie ist nun grundlegend Guido Schepens: Zum Verhältnis von Biographie und Geschichtsschreibung in hellenistischer Zeit, in: Erler / Schorn (Hgg.) (wie Anm. 1), 335-361.

Rezension über:

Brian McGing / Judith Mossman (eds.): The Limits of Ancient Biography, Swansea: The Classical Press of Wales 2006, xx + 447 S., ISBN 978-1-905125-12-8, GBP 55,00

Rezension von:
Stefan Schorn
Department of Classics, Rutgers University, New Brunswick, NJ
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Schorn: Rezension von: Brian McGing / Judith Mossman (eds.): The Limits of Ancient Biography, Swansea: The Classical Press of Wales 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 6 [15.06.2008], URL: https://www.sehepunkte.de/2008/06/13057.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.