Rezension über:

Anja Wilke: Redewiedergabe in frühneuzeitlichen Hexenprozessakten. Ein Beitrag zur Geschichte der Modusverwendung im Deutschen (= Studia Linguistica Germanica; 83), Berlin: De Gruyter 2006, XIX + 600 S., ISBN 978-3-11-019097-7, EUR 118,00
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Rezension von:
Claudia Kauertz
Niedersächsisches Landesarchiv, Hauptstaatsarchiv, Hannover
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Kauertz: Rezension von: Anja Wilke: Redewiedergabe in frühneuzeitlichen Hexenprozessakten. Ein Beitrag zur Geschichte der Modusverwendung im Deutschen, Berlin: De Gruyter 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 7/8 [15.07.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/07/12946.html


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Anja Wilke: Redewiedergabe in frühneuzeitlichen Hexenprozessakten

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Über die Hexenforschung hinaus wurden Hexenprozessakten in den letzten Jahren auch von anderen historisch arbeitenden Disziplinen als Quellen entdeckt. Dazu gehört u.a. die sprachgeschichtliche Forschung als Teil der Sprachwissenschaft, die insbesondere die in den Akten überlieferten Verhörprotokolle zum Gegenstand von Untersuchungen macht. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das in den Jahren 2001 bis 2005 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt "Kanzleisprache des 17. Jahrhunderts: Untersuchungen zu Sprache und Kommunikation in Hexenverhörprotokollen" an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster unter Leitung von Prof. Dr. Jürgen Macha. Im Rahmen dieses Projekts hat Prof. Macha nicht nur eine Edition von Hexenprozessakten vorgelegt, sondern auch eine Reihe von Dissertationen betreut, die mitunter - insbesondere im Bereich der Quellenkritik - auch für die Hexenforschung nutzbringend sein können. Die vorliegende sprachhistorische Arbeit von Anja Wilke, die im Wintersemester 2005/2006 in Münster als Dissertation eingereicht wurde, ist in diesem Umfeld zu verorten.

Die Autorin widmet ihre umfangreiche Arbeit dem komplexen Problemfeld der Redewiedergabe im Frühneuhochdeutschen, wobei hier die Modusverwendung, d.h. der Einsatz von Indikativ und Konjunktiv, zentraler Gegenstand ihrer Untersuchung ist. Am Anfang steht die Beobachtung, dass dieses Gebiet der deutschen Grammatik heute als besonders komplex und schwer erklärbar gilt. Die Schwierigkeiten liegen begründet in der doppelten Funktion des deutschen Konjunktivs zwischen Syntax und Semantik, wobei er zum einen in der Redewiedergabe rein syntaktisch als Zeichen der Zitatanzeige verstanden werden kann, und zum anderen die Bedeutungen des Konjunktivs in anderen Zusammenhängen, wie Wunsch, Irrealität oder Möglichkeit, auch in der Redewiedergabe eine Rolle spielen können.

Davon ausgehend sucht Anja Wilke in ihrer Arbeit nach den Wurzeln von Moduswahl und Redewiedergabe im Frühneuhochdeutschen als der Sprachstufe, in der die Grundlage für die weitere Entwicklung der deutschen Sprache gelegt wurde und in der es in komplizierten sprachlichen Ausgleichsprozessen zu einer Reduzierung der ursprünglichen Variantenvielfalt kam. Wurden bislang in erster Linie gedruckte literarische Texte auf den Modusgebrauch hin untersucht, so macht die Autorin, die die bedeutende Rolle der in den verschiedenen deutschen Sprachregionen vorhandenen Kanzleisprachen bei der Herausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache über das Jahr 1500 hinaus feststellt, hauptsächlich handschriftlich überlieferte kanzleisprachliche Gebrauchstexte zum Gegenstand ihrer Untersuchung. Ihr Quellenkorpus besteht aus frühneuzeitlichen Hexenprozessakten, die im Rahmen des "Projekts Kanzleisprache des 17. Jahrhunderts" gesammelt, transkribiert und inzwischen bereits teilweise ediert wurden.

Die erfassten Texte, die alle innerhalb der Institution Gericht im Rahmen von Hexenprozessen entstanden sind und von professionellen Kanzleischreibern angefertigt wurden, entstammen fast dem gesamten deutschen Sprachgebiet in seiner Ausdehnung um 1600. Meist handelt es sich um Verhörprotokolle, doch hat die Autorin darüber hinaus auch die für das Verhör erstellten Fragenkataloge (Interrogatorien) sowie die Geständnisse der als Hexen angeklagten Frauen (Urgichten) für ihre Untersuchung herangezogen. Für Studien zur Modusverwendung und Redewiedergabe sind diese Texte nicht zuletzt deswegen besonders geeignet, weil sie fast ausschließlich aus indirekter Rede im Konjunktiv bestehen und weil angesichts der weiten Verbreitung der Hexenvorstellung ein inhaltlich weitgehend feststehender Inhalt auf syntaktische Variation hin untersucht werden kann.

Nach der Einleitung wird in den anschließenden beiden Kapiteln ein ausführlicher Forschungsüberblick geboten. Zunächst widmet sich das 2. Kapitel der Redewiedergabe in der deutschen Gegenwartssprache, wobei hier zunächst der Formenbestand des Konjunktivs vorgestellt wird. Es folgen eine Definition von Redewiedergabe sowie Ausführungen zur in der heutigen Gegenwartssprache komplizierten und uneinheitlichen Moduswahl in der indirekten Rede. Kapitel 3 stellt detailliert wichtige ältere und jüngere Standardwerke zur Modusverwendung und Redewiedergabe in älteren Sprachstufen des Deutschen vor, die sich u.a. auch auf das Frühneuhochdeutsche beziehen. Mit dem 4. Kapitel leitet die Autorin ihre eigenen Untersuchungen zur Redewiedergabe in Hexenprozessakten ein. Sie stellt zunächst ihr Quellenkorpus und die gewählte Methode vor, wobei sie u.a. auf den Entstehungsrahmen der untersuchten Texte eingeht und verschiedene Formen der Redewiedergabe sowie Arten der Redeeinleitung beschreibt. Das im Zentrum der Arbeit stehende 5. Kapitel untersucht schwerpunktmäßig die Wahl zwischen Konjunktiv I und II, die nach unterschiedlichen Ansätzen erklärt wird. Demnach entwickelte sich der Konjunktiv I zum Normalmodus der indirekten Rede in der neuhochdeutschen Schriftsprache. Als zentraler Faktor hierfür wird die regionale Ausprägung der jeweiligen Kanzleisprache betrachtet, dem weitere Faktoren, etwa die Redeeinleitungen oder die Morphologie der Verben, nachgeordnet werden. Das deutlich kürzere 6. Kapitel beleuchtet schließlich die Wahl zwischen Indikativ und Konjunktiv, wobei das untersuchte Quellenkorpus nur relativ wenige Formen im Indikativ enthält.

Am Ende der Arbeit stehen eine Zusammenfassung der Ergebnisse sowie ein umfangreicher Anhang, der neben tabellarischen Übersichten über die Auswertungen des Quellenkorpus nach unterschiedlichen Kriterien (Anhang A), eine Edition von 11 ausgewählten Verhörprotokollen aus verschiedenen Sprachregionen (Anhang B), ein Quellenverzeichnis (Anhang C) sowie ein Literaturverzeichnis enthält.

Insgesamt handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine detailreiche, methodisch durchdachte und thematisch innovative sprachhistorische Untersuchung zum schwierigen Thema Redewiedergabe und Moduswahl im Frühneuhochdeutschen. Mit den gewählten Auszügen aus Hexenprozessakten, die in erster Linie als kanzleisprachliche Gebrauchstexte mit einem hohen Anteil an verschriftlichter indirekter Rede herangezogen werden, erschließt die Autorin nicht nur ein bislang von der Sprachwissenschaft vernachlässigtes Quellenkorpus, sondern eröffnet unter Betonung des Faktors Region grundsätzlich neue Perspektiven auf die Modusverwendung im 16. und 17. Jahrhundert. Ihrem Schwerpunkt gemäß ist die vorliegende Arbeit in erster Linie für die historische Sprachwissenschaft interessant und wird in Zukunft sicherlich weitere sprachwissenschaftliche Untersuchungen anregen. Für die Hexenforschung hingegen ist die komplexe Studie nur wenig ergiebig. Lediglich die im Anhang B veröffentlichten Verhörprotokolle aus verschiedenen deutschen Regionen, die nun erstmals ediert und einem größeren Leserkreis zugänglich gemacht werden, könnten das Interesse von Hexenforschern, aber auch von Regionalhistorikern wecken.

Claudia Kauertz