Rezension über:

Josef Memminger: Schüler schreiben Geschichte. Kreatives Schreiben im Geschichtsunterricht zwischen Fiktionalität und Faktizität (= Forum Historisches Lernen), Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2007, 358 S., ISBN 978-3-89974384-5, EUR 29,80
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Karoline Zielosko
Kempen
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Karoline Zielosko: Rezension von: Josef Memminger: Schüler schreiben Geschichte. Kreatives Schreiben im Geschichtsunterricht zwischen Fiktionalität und Faktizität, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 9 [15.09.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/09/13699.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Geschichtsdidaktik" in Ausgabe 8 (2008), Nr. 9

Josef Memminger: Schüler schreiben Geschichte

Textgröße: A A A

Dass Geschichte als Unterrichtsfach und Disziplin nicht mit Geschichte als unterhaltsamer Erzählung aus dem Bereich der "Imagination" gleichzusetzen sei, ist eine Erkenntnis, die Sextaner durchaus in Erstaunen versetzen kann und erst einmal ins Bewusstsein dringen muss. "Faktizität" ist im Geschichtsunterricht das, was es zu erarbeiten gilt und Grundlage sich anschließender Sach- und Werturteile. Auch die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit von dreizehn auf zwölf Jahre und eine damit einhergehende inhaltliche Beschneidung des Curriculums bei gleichzeitiger Erweiterung um unterschiedliche Kompetenzbereiche lassen Kreativität und "Fiktionalität" im Geschichtsunterricht zunächst marginal erscheinen.

Dass es ungeachtet aller Sach- und Fachzwänge einen wertvollen Gewinn an historischer Erkenntnis und vertiefter Einsicht bringen kann, wenn Schüler "Geschichte schreiben", hat Josef Memminger in der hier vorliegenden Monografie gezeigt.

Im ersten Teil gibt Memminger einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung und den aktuellen Stand der Diskussion zum Thema "Kreatives Schreiben im Geschichtsunterricht". Dabei betrachtet er neben den Vorgaben staatlicher Lehrpläne das kreative Schreiben in Theorie und Praxis sowie seine Vereinbarkeit mit geschichtsdidaktischen Leitbegriffen wie Handlungsorientierung, Multiperspektivität und aktiver Wissenskonstruktion. Memminger kommt zu dem Schluss, dass "endlich [...] mehr über das 'wie' [...] und weniger über das 'ob überhaupt'" (53) kreatives Schreiben im Geschichtsunterricht anzuwenden sei, gestritten werde.

Er selbst konzentriert sich anschließend auf das "wie" und liefert die entsprechenden "Umrisse einer Theorie" (98-104): Dabei werden als Zieldimensionen kreativen Schreibens im Geschichtsunterricht u.a. die "Wiederholung, Vertiefung und Festigung gelernter historischer Inhalte", die "Wahrnehmung der Multiperspektivität von Geschichte" und das "empathische Nachvollziehen und Verstehen" formuliert. Die Verwirklichung dieser Ziele bindet Memminger in das doppelte Spannungsfeld von Fiktionalität/Faktizität und Emotionalität/Ratio (104) ein und bewegt sich dabei formal von der Geschichtserzählung oder dem Jugendbuch bis hin zu Texten, die von historischen Quellen wie Bildern oder Musikstücken angestoßen werden und eine Auseinandersetzung mit historischen Realitäten motivieren. Die Qualität des Fiktionalen im Geschichtsunterricht misst er dabei am Maßstab des So-hätte-es-sich-abspielen-können - ein Maßstab, der von einer vorausgehenden Auseinandersetzung der Schüler mit den historischen Quellen aufgestellt wird, daher als Korrektiv dienen und aufzeigen kann, ob die Arbeit an den Quellen schülergerecht und verständlich gestaltet worden ist (60).

Im Übrigen sei es, wie Memminger immer wieder betont, auch Aufgabe des Geschichtsunterrichts, ein Bewusstsein der Schüler für die Relativität historischen Wissens, das historische "Faktizität" an sich in Frage stellt, zu entwickeln. Insofern dient kreatives Schreiben auch dazu, dass Schüler sich auf einer Metaebene über die Grenzen und Möglichkeiten historischer Erkenntnis Gedanken machen. Schließlich erlaubt der Freiraum der Imagination im Fiktionalen die persönliche, individuelle und emotionale "Aneignung eines historischen Gegenstands" (57), wie sie eine Annäherung an die Vergangenheit über die Betrachtung von Quellen und Verfassertexten allein nicht zu leisten vermag.

Im Anschluss an seine intensive Auseinandersetzung mit der Theorie widmet sich Memminger der eigentlichen Unterrichtspraxis und untersucht anhand empirischen Materials aus fünf Unterrichtsreihen in verschiedenen Lerngruppen und Jahrgangsstufen, wie die Rahmenbedingungen geschaffen sein müssen, in denen Schüler kreatives Schreiben lernerfolgversprechend praktizieren können. Dokumentiert und erläutert werden Textergebnisse mit unterschiedlichen formalen Vorgaben und perspektivischen Zugängen: Einmal gilt es, den Standpunkt eines Geschichtsschreibers aus dem 9. Jahrhundert einzunehmen, der sich wohlwollend bzw. negativ kritisierend zu Karl dem Großen äußert. Ein andermal besteht die Aufgabenstellung darin, eine Theaterszene zu verfassen, die ein geheimes Treffen von Sozialdemokraten vorstellt, in denen jene sich die Auswirkungen des Bismarckschen Sozialistengesetzes kommentieren.

Die Qualität der Untersuchung Memmingers liegt nun weniger in der Originalität der vorgestellten Arbeitsanweisungen, die in dieser oder ähnlicher Form bereits Einzug in die Lehrwerke gefunden haben. Sie liegt vielmehr in einer detaillierten und kleinschrittigen Darstellung, Auswertung und Reflexion der Schülerergebnisse, bei denen der Autor sowohl die Perspektive der Schüler als auch die der Lehrenden beleuchtet. Dabei geht es ihm stets um die Frage, ob und wie den zuvor in der Theorie aufgestellten Anforderungen an kreatives Schreiben im Geschichtsunterricht Genüge getan werden konnte. Unterschiedliches Leistungsvermögen auf Seiten der Schüler, unterschiedlich ausgebildete Sprach- und narrative Kompetenz, Motivation und Kreativität oder etwa geschlechtsspezifische Besonderheiten stellten die Lehrer zwar vor besondere Herausforderungen. Am Ende stehen jedoch als Fazit drei Hauptthesen Memmingers, wonach Schülerinnen und Schüler auch im Geschichtsunterricht kreativ schreiben 1.) "können", 2.) "wollen" und 3.) "sollen" (186-190). Denn kreative Schreibprozesse fordern und fördern die Jugendlichen in jenen Bereichen, die der Autor in seinen "Umrissen einer Theorie" als Zieldimensionen bereits benannt hatte (189).

Im Anschluss an diese auf empirischer und theoretischer Basis fundierten Ergebnisse verweist Memminger auf einige Forschungsdesiderate und gibt damit Anstoß zu weiterer lohnenswerter Betrachtung des Themas. So mangelt es derweil an Untersuchungen, die auf einer quantitativ breiteren Grundlage beruhen und auch die Spezifika der einzelnen Schulformen angemessen berücksichtigen. Ferner sei der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer Lernerfolgskontrolle nachzugehen, die etwaige "Unterschiede im Geschichtsbewusstsein" von Schülern mit und ohne Einbindung kreativen Schreibens in den Geschichtsunterricht herauszufinden sucht. Letztlich sei auch der Aspekt des eher faktual denn fiktional orientierten Schreibens (etwa in Form von historischen Essays oder weiter ausgreifenden Darstellungen historischer Zusammenhänge) noch nicht hinreichend ausgeleuchtet (191).

Mit dem dritten und letzten Teil seiner Untersuchung gibt der Autor den Geschichtslehrerinnen und -lehrern schließlich einen Katalog von Formen kreativen Schreibens an die Hand, der sich als Überblick und Anregung zugleich versteht. Dabei werden unterschiedlichste Möglichkeiten kreativen Schreibens im Geschichtsunterricht vorgestellt, in zehn Kategorien unterteilt und durch Beispielaufgaben konkretisiert. Jedes Beispiel wird in einen unterrichtlichen Rahmen gestellt und im Hinblick auf Zieldimensionen, geeignete Lerngruppen, Relevanz, Sozialformen und Anspruch differenziert. Zu den zehn Grundkategorien kreativen Schreibens im Geschichtsunterricht gehören neben "spielerischen Kleinformen" (wie etwa dem Erstellen von Begriffslisten zu bestimmten Themengebieten) auch Schreibaufgaben, die durch Bildquellen oder Musik inspiriert sind, literarische oder journalistische Schreibformen sowie das anspruchsvolle Verfassen "kontrafaktischer Szenarien" (192). Indem Memminger jeweils aufzeigt, an welcher Stelle innerhalb einer Unterrichtsreihe und zu welchem Zweck eine bestimmte Form kreativen Schreibens sinnvoll eingesetzt werden kann, gibt er dem Leser nichts weniger an die Hand als eine konkrete Hilfestellung bei der eigentlichen Unterrichtsplanung.

Abschließend lässt sich festhalten, dass Josef Memminger mit seiner Monografie zum Thema "Schüler schreiben Geschichte" innerhalb der didaktischen Diskussion einen wertvollen Beitrag geliefert hat. Einerseits reiht sich seine Schrift ein in die allgemeine Tendenz, die in Theorie und Praxis allmählich die Etablierung kreativen Schreibens in den Geschichtsunterricht befördert. In seinen "Umrissen einer Theorie" pointiert der Autor Begrifflichkeit, Zielvorgaben und Mittel, die die Forschung bislang erarbeitet hat. Andererseits gelingt ihm durch ein ständiges Aufeinanderbeziehen von Theorie und Praxis, Aufgaben und Formen des kreativen Schreibens auf eine Art und Weise zu erarbeiten und zu reflektieren, die dem Lehrenden eine wissenschaftlich fundierte praktische Handhabung im konkreten Unterricht erlauben.

Karoline Zielosko