Rezension über:

Michael North: Europa expandiert 1250-1500 (= Handbuch der Geschichte Europas; Bd. 4), Stuttgart: UTB 2007, 495 S., 15 Karten, 5 Abb., 8 Stammtafeln, 4 Tabellen, 2 Grafiken, ISBN 978-3-8252-2864-4, EUR 24,90
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Rezension von:
Klaus Oschema
Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Klaus Oschema: Rezension von: Michael North: Europa expandiert 1250-1500, Stuttgart: UTB 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 1 [15.01.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/01/14724.html


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Michael North: Europa expandiert 1250-1500

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Die Geschichte eines Kontinents über die Dauer dreier Jahrhunderte in einem Band darzustellen, ist eine immense Aufgabe - wer über eine Skizze der "Geschichte der Welt in neuneinhalb Kapiteln" hinausgehen möchte, sieht sich mit einer Herausforderung konfrontiert, deren Hintergrund nicht zuletzt im derzeitigen Wunsch nach Überblickswerken zu suchen ist. Das Ergebnis muss sich dann mit bereits vorliegenden Publikationen messen lassen, die insbesondere bei einem Zuschnitt auf eine "übernationale" Geschichte zumeist von Autorenkollektiven vorgelegt wurden (eine Ausnahme stellt die "Propyläen Geschichte Europas" dar, in deren Rahmen Michael Borgolte das Mittelalter darstellte). [1] Man denke hier an den bekannten "Schieder" [2] der 1970er und 1980er Jahre, oder im englischen Sprachraum an die jüngst vorgelegte "New Cambridge Medieval History". [3] Wofür letztere immerhin drei Bände zu je weit über 800 Seiten und die Mitarbeit mehrerer Dutzend Autorinnen und Autoren benötigte, dafür stand Michael North gerade einmal ein Bruchteil des Raumes zur Verfügung. Es mag die nötige Verdichtung erleichtert haben, dass der Autor (wie er selbst unterstreicht) vorrangig für die Frühe Neuzeit als Experte ausgewiesen ist und damit gewissermaßen von selbst eine hoch angesetzte Überblicksperspektive einnehmen konnte. Als positiver Nebeneffekt ergibt sich zugleich die Tendenz, die durch den Rahmen der Gesamtreihe vorgegebenen Epochengrenzen immer wieder zur Neuzeit hin zu überschreiten und damit langgestreckte Entwicklungslinien in der Darstellung nicht allzu hart abzuschneiden.

Ob aber aus dem Unternehmen eine - in den letzten Jahren mehrfach eingeforderte und diskutierte - "europäische Geschichte" entstand, wird man weiter diskutieren müssen. Eine knappe Skizze des "Epochencharakters" (14-24) nimmt zunächst die "Idee Europa" und die dynamischen Entwicklungen und expansiven Bewegungen in den Blick, die allerorten (wenngleich in unterschiedlicher Dichte) zu beobachten sind. Danach weicht diese Gesamtsicht einer regional aufgegliederten Darstellungsweise. In leichter Abweichung von den vorangegangenen Bänden zum Früh- und Hochmittelalter aus der Feder von Hans-Werner Goetz und Michael Borgolte, tritt bei North die Darstellung einzelner "Staatswesen" markanter in den Vordergrund: In insgesamt neun Kapiteln führt er in weitgehend paralleler Struktur die politischen, institutionellen, demographischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Zustände und Entwicklungen von Regionen (z.B. Iberische Halbinsel, 75-113; Ostmitteleuropa, 196-237) oder einzelnen Reichsgebilden (Frankreich, 49-75; Heiliges Römisches Reich, 142-196) vor.

Angesichts der Vielfalt der regional unterschiedlichen Entwicklungen scheint diese Strategie durchaus angeraten und stellt auch gegenüber älteren Darstellungen, die sich nur zu häufig auf rückprojizierte "nationale" Geschichten konzentrierten, einen merklichen Fortschritt dar. Neben der unterschiedlichen Gewichtung der einleuchtend zugeschnittenen Regionen - Südosteuropa und damit auch die byzantinische Geschichte erhält mit 13 Seiten, von denen vier durch eine genealogische Tafel, eine Abbildung des Bellini-Portraits von Sultan Mehmed II. und eine Karte belegt sind, doch recht knappen Raum - erscheint allerdings auch die resultierende Unterbrechung überregional zugeschnittener Entwicklungen diskussionswürdig: Zwar bemüht sich der Verfasser, die Zusammenhänge stets wieder hervorzuheben, die etwa mit dem Ausgreifen der Anjou in den Osten Europas oder mit der Expansion Aragons nach Italien verbunden waren. Letztlich wirft die gewählte Organisationsform den Leser in gewisser Weise aber doch wieder auf die nationale Tradition der Geschichtserzählung zurück. Vielleicht ist dieser Effekt aber sogar insofern zu begrüßen, als er die Gefahr ausschließt, ohne weiteres von den etablierten "nationalen" zu einer "europäischen Meistererzählung" zu kommen. Angesichts der präsentierten Differenzen zwischen den einzelnen Regionen liegt schließlich die Frage nahe, ob der europäische Süden in zahlreichen Aspekten nicht vielmehr in einem Zusammenhang mit den Kulturen der Mittelmeeranrainer zu sehen sein mag als mit dem skandinavischen Norden oder Russland?

Auf gut 60 Seiten führt North die Beobachtungen zu den Einzelentwicklungen dann in seinem dritten Kapitel zusammen (298-360), das er nach den Kategorien "Staat und Verfassung", "Wirtschaft", "Gesellschaft" sowie "Kultur und Religion" strukturiert. Diese Anordnung markiert klar, dass der Autor seinen Band im Gesamtrahmen der Reihe stärker zur Neuzeit hin verorten möchte als zur vorangehenden Darstellung des Hochmittelalters. Mit diesem Kapitel sowie mit der abschließenden Skizze der "Forschungsprobleme" (361-390) werden zugleich am deutlichsten seine eigenen Forschungsinteressen spürbar, die zuweilen schon in den jeweiligen Regionalabschnitten unter den Rubriken der Wirtschaft und der Kultur aufscheinen: Während die Ausführungen zu den ereignisgeschichtlichen und politischen Inhalten teilweise weniger engagiert und ein wenig wie ein "Pflichtgegenstand" wirken, gewinnt Norths Blick auf die spätmittelalterliche Geschichte "Europas" (der Begriff mag hier emphatisch gebraucht werden) vor allem dort an Kontur, wo er sich den Fragen des Kulturtransfers, den Querverbindungen von Wirtschaft und Kunst, aber auch von Kultur und gesellschaftlichen Bewegungen widmet. Ein Indiz für die Aufteilung zwischen Pflicht und Kür mag die Tatsache bieten, dass die Details der Ereignisgeschichte zuweilen an kleinen Unaufmerksamkeiten und Fehlern kranken. [4] In den Synthesenabschnitten bietet North dagegen, gewissermaßen in seinem Gegenstand angekommen, eine extrem hilfreiche Skizze zur Debatte um die "Krise des Spätmittelalters" (361-371) und fasst souverän an der Schnittstelle von Geistesgeschichte, Kunst, Kultur und Wirtschaft die intensiv diskutierten Fragen von "Renaissance und Humanismus" (378-386; vgl. 343-349) zusammen, welche die Forschung in den kommenden Jahren sicher noch stark beschäftigen werden.

Wie in allen Bänden der Reihe schließt eine ausführliche und insgesamt sehr aktuelle Bibliographie den Band ab, der eine Zeittafel folgt und zwei Register (Personen-, Orts- und Sachregister; Autorenregister). Diese Zugaben erhöhen ebenso wie die Karten und genealogischen Übersichten die praktische Nutzbarkeit des Werkes, das sich, dem Klappentext der Reihe gemäß, an Besucher von "Hochschulen und Gymnasien" wendet sowie "der Orientierung historisch Interessierter [dient]". Ob der gewählte, extrem dichte Druckspiegel den Wünschen dieser Zielgruppen entspricht, sollte man allerdings nochmals überdenken.

Für den vorgelegten Band gilt insgesamt, dass er sicher einen guten Überblick zum europäischen Spätmittelalter zu geben vermag, in dem insbesondere die östlichen und nördlichen Regionen einen wohltuend breiten Raum einnehmen. Seine eigentlichen Stärken aber besitzt er an jenen Stellen, an denen, wie bereits ausgeführt, die eigenen Forschungsinteressen es dem Autor erlauben, eine magistrale Synthese hochkomplexer Verhältnisse und Debatten zu entwickeln. Damit legt Michael North eine weniger eigenständig konturierte Sicht auf das europäische Mittelalter vor, als dies vor wenigen Jahren Michael Borgolte tat. [5] Den Wünschen des angesprochenen Zielpublikums wird sein Zugriff aber entgegen kommen, da das Bedürfnis nach faktenorientierten Überblicken unverkennbar ist - zu hoffen bleibt dabei, dass die Leserinnen und Leser darüber hinaus auch jene Kapitel konsultieren werden, in denen die eigentliche Stärke des Bandes besteht.


Anmerkungen:

[1] Michael Borgolte: Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr., München 2006.

[2] Einschlägig für die von North behandelte Epoche sind die beiden Bände Theodor Schieder (Hg.): Handbuch der Europäischen Geschichte. Bd. 2 und 3, Stuttgart 1987 und 1971. Als Epochenzäsur, die auch den Schnitt zwischen den beiden Bänden markiert, ist hier die Zeit um 1450 angesetzt.

[3] Vgl. hier New Cambridge Medieval History. Bd. 5-7, Cambridge 1998-2000.

[4] Zum Beleg hier einige Beispiele in Auswahl: Heinrich III. von England heiratet nicht Eleonore von Aquitanien, sondern Eleonore von der Provence (25); die französische Verwaltungseinheit ist der "bailliage", nicht der "baile" (58); die Pariser Rechnungskammer ist die "Chambre des comptes", nicht "de comtés" (61); Knappen sind "écuyers", nicht "épuyers" (65); Cola di Rienzo erlebt seinen Aufstieg in der Mitte des 14. Jahrhunderts, nicht des 13. Jahrhunderts (120); Lorenzo hat den Beinamen "il Magnifico", nicht "il Magnificio" (140); die Universität Heidelberg wurde 1386 gegründet, nicht 1385 (350) - lediglich das päpstliche Privileg datiert auf den 23. Oktober 1385. Hilfreich wären zudem auch Erklärungen zu weniger geläufigen Begriffen wie "Domanium" (58 und öfter), "Tirteytuche" (156) und "Felonie" (276).

[5] Vgl. Anm. 1.

Klaus Oschema