Rezension über:

Bernhard Stumpfhaus: Modus - Affekt - Allegorie bei Nicolas Poussin. Emotionen in der Malerei des 17. Jahrhunderts, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2007, 247 S., ISBN 978-3-496-01323-5, EUR 49,00
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Rezension von:
Peter Joch
Kunsthalle Darmstadt
Redaktionelle Betreuung:
Sigrid Ruby
Empfohlene Zitierweise:
Peter Joch: Rezension von: Bernhard Stumpfhaus: Modus - Affekt - Allegorie bei Nicolas Poussin. Emotionen in der Malerei des 17. Jahrhunderts, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2 [15.02.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/02/13708.html


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Bernhard Stumpfhaus: Modus - Affekt - Allegorie bei Nicolas Poussin

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Die Charakterisierung Nicolas Poussins als peintre philosophe gehört zu den populärsten Standards bei der Rezeption des Barockklassizisten, der sich bekanntermaßen erkenntnistheoretischen wie ethischen Fragen widmete. Bernhard Stumpfhaus wendet sich dezidiert gegen diese Auffassung: Das Etikett "philosophe" postuliere eine Analogie von Sprache und Bild, die das Poussinsche Werk auf keinen Fall kennzeichne. Anstelle einer Satzbaulogik - hierbei bezieht sich Stumpfhaus sicherlich auf die Kunsttheorie Albertis - und der "Eindeutigkeit einer bildlichen Semantik, die sich vor allem in der Körpersprache deutlich macht", besitze Poussins Werk "poetische Qualitäten" (11). Unter dieser "Poesie" versteht Stumpfhaus die Konstruktion eines komplexen Bildorganismus mit einer Dramaturgie von Analogien und Kontrasten, die als Ausdruckträger von Handlungen, aber auch von Affekten der Handlungsfiguren fungiere.

Mit der Beschreibung einer solchen gegenstandsübergreifenden, ganzheitlichen Bildregie spricht Stumpfhaus Poussin quasi "pictorial intelligence" zu, um ihn so gegen die Vorstellung zu verteidigen, seine Werke ließen sich auf begrifflich fassbare Allegorien reduzieren. Der 'ganzheitliche' Ansatz ist kein Novum in der Poussin-Forschung. Für die geometrische Konstruktion eines Bildganzen, das unabhängig von einzelnen allegorischen Elementen funktioniert, ist an Georg Kauffmanns Poussin-Studien zu erinnern, ebenso an Oskar Bätschmanns Untersuchungen zur Dialektik der Malerei von Nicolas Poussin. Auch Martin Warnke verweist bereits 1979 in seiner prägnanten Studie zum "Urteil des Salomon" auf gegenstandsübergreifende Bildstrukturen, die als Ganzes die Bildhandlung spiegeln. Systematisch beschreibt schließlich Hans Körner die Entwicklung eines prinzipiell nicht zerlegbaren Bildganzen unter anderem in Bezug auf Poussin. [1]

Auf diese Ansätze zurückgreifend, unternimmt es Stumpfhaus, in einigen zentralen Werken Poussins "poetische" ganzheitliche Strukturen freizulegen. Bei Poussins Gemälde "Tanz des Lebens" (1638/1640, London, Wallace Collection) identifiziert er die vier Tänzerinnen mit den Leidenschaften, die Cicero in seinen Gesprächen in Tusculum als elementare Empfindungen nennt. Poussin präsentiere einen Reigen, der die Leidenschaften - gegen alle rigorosen stoizistischen Konzepte - zur Geltung kommen lasse und eine Art maßvollen Ausgleich der Passionen im Sinne Epikurs verkörpere, einen Zustand, der den Menschen an der Ewigkeit der Götter teilnehmen lasse. Stumpfhaus wendet sich so gegen die Charakterisierung Poussins als einen dogmatischen, Leidenschaften per se ablehnenden Stoizisten. Die gemeinhin als Chronos gedeutete Figur interpretiert Stumpfhaus als Greis, der sich an den harmonischen Kreislauf der Leidenschaften als Quelle des Glücks erinnere. Der Reigen verkörpere so einen Bewusstseinsinhalt oder auch die Inhalte des Lieds, das der Alte singe. Durch enge formale Bezüge zwischen gemalter Architektur und Skulptur und durch Anspielungen auf Malereitraktate inszeniere Poussin eine Vereinigung der Künste im Bild und verweise auf die beispielsweise in der "Querelle du Traité de Léonard de Vinci" diskutierten zeitgenössischen Verfahren, antike Skulpturen zeichnerisch aufzunehmen und für die Kunst verfügbar zu machen. Die Anordnung des Tanzes demonstriere weiterhin eine "belebte" Irregularität, mit der Poussin sowohl auf Leonardos als auch auf Dürers Projektionsverfahren reagiere: "Poussin begründet in seinem Tanz die bewegte Abweichung als einen Wert, insofern sie einen Ausgleich bietet zur defizitären, weil Lebendiges diffamierenden Norm." (65). So gelingt es Stumpfhaus, das gängige Klischee vom Stoizisten Poussin zu unterminieren. Gleichzeitig lässt seine Deutung erkennen, in welcher Weise Poussin seine Landschaften und Kulissen nutzt, um mittelbar Bewusstseinsinhalte der Protagonisten zu verbildlichen.

Bei der "Mannalese" (1637-38, Paris, Louvre) ist es Stumpfhaus' erklärtes Ziel, die dem Gemälde vielfach unterstellte "Sprachgleichheit" zu widerlegen. So führt er in einleuchtender Weise Poussins Appell an Chantelou "Lisez l´histoire et le tableau...." auf pragmatische Hintergründe zurück und identifiziert ihn als indirekte Lobpreisung der fertiggestellten Komposition. Seine Schlussfolgerung allerdings, bei der "Mannalese" befreie Poussin "die Gattung der Malerei von ihrer Übersetzungsfunktion" (101), erweist sich als fragwürdiger Argumentationsstrang: Zum einen ist die dogmatische Übersetzungsfunktion der Malerei in der Kunstgeschichte vor Poussin eine Chimäre, zum anderen unterstellt die Forschung Poussin keineswegs eine quasi illustrative Übersetzung von Texten, die es nun zu widerlegen gälte. Die konkrete Analyse des Gemäldes wiederum liefert aufschlussreiche Erkenntnisse: Stumpfhaus beschreibt motivische Anspielungen auf das Alte und Neue Testament und schließlich auf die Zeit nach dem Opfertod Christi. Poussins Gemälde erscheint so als Reflexion des Heilsgeschehens in der Geschichte und des bekannten Systems biblischer Präfigurationen. Den Aufbau des Gemäldes mit der bildinternen Abfolge von Zeiten wiederum als Einheit im Sinne des Aristoteles zu stilisieren, ist kaum sinnvoll. In seiner bereits angeführten Schrift konnte Hans Körner die vielfach behauptete Verbindlichkeit der "aristotelischen" Einheitenregel überzeugend widerlegen. [2] Zudem widerspräche eine Addition verschiedener Zeiten im Bild prinzipiell der Doktrin der "Einheiten". Auch das Argument, die "Mannalese" präsentiere die Wirkung der "Gnade Gottes" und spiegele so "die Gnadenlehre der katholischen Kirche, wie sie im Tridentinum in Bezug auf die Sakramente formuliert wurde" (105), scheint kaum trennscharf genug, um Poussins spezifischen Ansatz von prinzipiell jeder Darstellung eines per se gnädigen Gottes abzusetzen. Gelungen ist allerdings Stumpfhaus´ Deutung, Poussins Entwicklung der Handlung durch verschiedene Erzählstränge sei darauf angelegt, den Betrachter beispielhaft die ethisch rechte Wahl als "electio" zu lehren, seinen Intellekt zu "schärfen" und seine Fähigkeit zum "jugement" herauszufordern (117f.). Stumpfhaus verbindet so Begriffe der Kunsttheorie auf erhellende Weise mit ethischen Momenten der Darstellung.

Bei Poussins "Gewitterlandschaft mit Pyramus und Thisbe" (1651, Frankfurt a. M., Städel) entwickelt Stumpfhaus seine These einer affektiv aufgeladenen Bildkulisse systematisch weiter. Die Landschaft symbolisiere ein Affektbündel: Der Überfall durch den Löwen expliziere die "im Mittelgrund herrschende Angst", das Gewitter die "innere Panik von Mensch und Tier" (155). Diese Art der "metaphorischen" Affektdarstellung setzt Strumpfhaus ab von Le Bruns Methode, Affekte durch die Physiognomie der Bildfiguren zum Ausdruck zu bringen. So zeigt auch das Wolkenband in Poussins "Orion" (1658, New York, Metropolitan Museum) "metaphorisch" die Erhitzung und Abkühlung der Seele des Jägers, der wegen der Vergewaltigung der Merope geblendet wurde und nun sein Heil bei Helios sucht. In dieser Weise ersetzt die Natur als Zeichenapparat die Ausdrucksmittel von Mimik und Gestik und gestattet auch - anders als beispielsweise die Masken Le Bruns - die simultane Darstellung verschiedener flüchtiger Affekte. Es verwundert, dass Stumpfhaus hier nicht Poussins Theorem von der affektiven Wirkung der Körpersprache in den "Osservationi" diskutiert. Er führt hingegen Briefstellen an, in denen Poussin an der Lesbarkeit der menschlichen Gestalt prinzipiell zweifelt. Diese Skepsis verbindet Stumpfhaus mit der zeitgenössischen Philosophie. Er resümiert schlüssig: "Meine These ist, dass Poussin den von Descartes ausgesprochenen Zweifel an der unmittelbaren Korrespondenz von Leib und Seele über die komplexe, poetisch orientierte Kompositionsstruktur seiner Historien kompensiert." (191)

Nach diesen aufschlussreichen Deutungen lässt die Diskussion der Poussin'schen Theorie der Modi einige prinzipielle Fragen offen. Poussin hatte seine zweite Fassung der "Sakramente" gegenüber dem enttäuschten Auftraggeber Chantelou mit dem Verweis auf die modale Angemessenheit seiner Bilder verteidigt. Davon ausgehend, betrachtet Stumpfhaus Poussins System der Modi generell als Ausdruck einer personalisierten Beziehung zum Auftraggeber. Diese Entwicklung wiederum erklärt er mit der "Privatisierung und Kommerzialisierung des Kunstmarktes, der sich zunehmend von bürgerlichen Aufträgen speist" (202). Poussin hatte aber mitnichten seine Modi als "Privatisierung" angelegt. Sie dienten ihm vielmehr als 'objektives' Argument gegen 'subjektive' Neigungen ("apetis"), die er Chantelou als eigentlichen Grund der Beschwerde listenreich vorhält. Ebenso lassen sich die auf die Antike rekurrierende Lehre der "Modi" und die Entwicklung eines "bürgerlichen" Kunstmarkts - die in dieser Eindeutigkeit sicher nicht vorliegt - kaum logisch zwingend aufeinander beziehen.

Dass die Untersuchung von Bernhard Stumpfhaus einen vollkommen neuen Blick auf Poussin gestattet, ist zu bezweifeln. Dies ist angesichts des kunsthistorischen Großindividuums Poussin vielleicht auch kein Wunder. Erhellend sind die detailreichen Analysen von Bildstrukturen und der Poussin'schen Technik, Affekte von der Figur auf die Kulisse zu transferieren. Diese Methode systematisch zu ergründen und in Zusammenhang mit Descartes und Le Brun zu stellen, ist sicher das größte Verdienst der Studie.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Georg Kaufmann: Poussin-Studien, Berlin 1960; Oskar Bätschmann: Dialektik in der Malerei von Nicolas Poussin, Zürich / München 1982; Martin Warnke: "Poussins 'Urteil des Salomon'. Ein gemalter Königsmechanismus", in: Künstler, Kunsthistoriker, Museen. Beiträge zu einer kritischen Kunstgeschichte, hg. von Heinrich Klotz, Frankfurt a. M. / Luzern 1979, 35-44; Hans Körner: Auf der Suche nach der wahren Einheit, München 1988.

[2] Körner, op. cit, 40.

Peter Joch