Rezension über:

Elisabeth Vavra (Hg.): Imaginäre Räume: Sektion B des internationalen Kongresses "Virtuelle Räume" Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2007, 231 S., ISBN 978-3-7001-3482-4, EUR 39,60
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Rezension von:
Gottfried Kerscher
Fach Kunstgeschichte, Universität Trier
Redaktionelle Betreuung:
Ulrich Fürst
Empfohlene Zitierweise:
Gottfried Kerscher: Rezension von: Elisabeth Vavra (Hg.): Imaginäre Räume: Sektion B des internationalen Kongresses "Virtuelle Räume" Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3 [15.03.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/03/14299.html


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Elisabeth Vavra (Hg.): Imaginäre Räume: Sektion B des internationalen Kongresses "Virtuelle Räume" Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter

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Die Akten des 10. Symposions des Mediävistenverbandes von 2003 liegen nun in zwei Bänden vor, einem ersten, der 2005 im Berliner Akademie Verlag unter dem Titel "Virtuelle Räume" erschien sowie in vorliegendem Band.

Es ist schwer nachvollziehbar, warum die beiden Bände mit unterschiedlichen Titeln publiziert wurden und Band 1 ("Virtuelle Räume") nicht-virtuelle Räume bzw. Band 2 ("imaginäre räume") virtuelle Räume behandelt. Für den ersten Band siehe die Rezensionen von Tina Klippel und Matthias Hardt (http://www.sehepunkte.de/2006/04/10421.html und http://www.sehepunkte.de/2006/10/8335.html). Das Fehlen einzelner Informationen macht es schwer, den erhofften Gewinn aus den beiden Bänden zu ziehen. Auch wird man im Unklaren gelassen, ob die Herausgeberin durch den neuen (?) bzw. einen anderen Titel einen Erkenntnisgewinn signalisieren möchte. Die Einleitung dieses zweiten Bandes gibt darauf keine Antwort, so dass man mit Matthias Hardt nach wie vor fragen darf: "Ob sie [virtuelle Räume] aber nicht letztendlich doch eine postmoderne Erfindung sind, bleibt auch nach dem zehnten Symposion des Mediävistenverbandes offen."

Jedenfalls wird weder im ersten noch im vorliegenden Band diskutiert, was der Erkenntnisgewinn des gesamten Kongresses war bzw. wie der Terminus "virtuell" verstanden wurde. Die Herausgeberin enthält sich einer inhaltlichen Gliederung oder einer anderen Art der Erschließung (keine systematische inhaltliche Abfolge der Aufsätze nach inhaltlichen Schwerpunkten, keine Chronologie, keine Register, keine Aufarbeitung der Diskussion und nicht zuletzt keine Ergebniszusammenfassung der Tagung). Das gilt umso mehr, als im Gegensatz zum ersten Band, der nur den Call for Papers wiedergab, man wenigstens im zweiten Band eine theoretische Einleitung sowie Zusammenfassung erwarten würde - und damit eine Hilfe durch das Gestrüpp von Imaginationen und Evokationen, von Transzendierungen oder Einbindungen von Fiktivem in "reale Welten". Schien also die theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema des Kongresses auf den vorliegenden zweiten Band verlegt, wundert es doch, wenn zwar der Begriff "virtuell" erscheint, doch kaum mehr als oberflächlich diskutiert wird: Der Begriff des Virtuellen habe unterschiedliche Bedeutungen wie etwa "Spiegelbilder" oder bezeichne das "digital verdoppelt[e]". Und virtueller Raum entstehe, wenn reale topografische Koordinations- und Raumstiftungselemente durch Konstituenten anderer Kategorien überformt werden (13). "Überformung" ist jedoch ein Terminus technicus, der in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen im Sinn von Veränderung gebraucht wird - genau diese Bedeutung spielt aber in der vorliegenden Schrift praktisch keine Rolle.

Wendelin Knoch (17 ff.) ging vom Konzept des (exegetischen) Verständnisses aus und referierte Reflexionen der scholastischen Theologie und ihren Bezug zu Stadt und Himmelsstadt. In ähnlicher Weise geht auch Brigitte Englisch (41 ff.) von einer mentalen Transferleistung aus, bei der, vermittelt durch Weltkarten, auf reale Räume und Fiktionen - hier klingt wieder der Begriff des Virtuellen an - rückgeschlossen wird. Johann Konrad Eberlein betont die Trias Text, Vision und Bild bezüglich des Welteneis der Hildegard von Bingen (33 ff.). Für Maximilian Diesenberger ist die Imagination Roms im Mittelalter eine "gedankliche Aneignung" (67 ff.). Susanne Friede (97 ff.), Karin Lichtblau (113 ff.), Antje Wittstock (133), Ulrich Ernst (155 ff.), Wernfried Hofmeister (191 ff.) sowie Ulrich Müller (207 ff.) heben auf die fiktionalen Räume in der Literatur ab. Alle Beiträge sind in ihrer auf Fiktionalität beruhenden mentalen Transferleistung von Literatur auf räumliche Dispositionen interessante und hervorragende wissenschaftliche Einzelleistungen. Virtualität wird wie eine lästige Nebenüberlegung manchmal betont. Oftmals zieht sich das Virtuelle und / oder das Imaginäre als "Vorstellung" durch die Beiträge. Am Ende wird dann nicht selten noch Interessantes hinzugefügt, etwa, dass "symbolisches Kapital" und "Vernetzung" räumlicher Strukturen virtuelle im Sinn von "inneren" Räumen konstituiere (z.B. 95 f.). Lassen wir es bei diesem Beispiel als pars pro toto: Genau hier beginnt es erst interessant zu werden, denn über die Imagination von Räumen in Romanen gibt es reiche Literatur (etwa Andrea Glaser: Der Held und sein Raum, Frankfurt am Main u.a. 2004), inwiefern aber gleichzeitig virtuelle Räume konstituiert werden, somit Grundlage neuer Interpretationsansätze bzw. Forschungsergebnisse sein könnten, bleibt offen.

Mag es also einen theoretischen Gewinn der Einleitung der Herausgeberin geben, so weniger auf das Tagungsthema bezogen, denn vier Jahre nach dem Kongress wird der Begriff der virtuellen Räume weniger als Ergebnis, denn als Postulat behandelt.

Es wurde auch schon von Klippel hervorgehoben, dass wichtige Titel zum Thema fehlen, wie etwa Gianno Vattimo / Wolfgang Welsch (Hgg.): Medien - Welten - Wirklichkeiten, München 1997; weiterhin: Gottfried Kerscher: Kopfräume. Eine kleine Zeitreise durch die Geschichte virtueller Räume, Kiel 2000; Oliver Grau: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien, Berlin 2001; nach dem Kongress erschien von Letzterem - immerhin weltweit beachtet - Virtual Art. From Illusion to Immersion, Cambridge, Mass. 2003, Mediale Emotionen, Frankfurt am Main 2005. Nicht zuletzt wäre hier Foucaults Begriff der Heterotopie gewinnbringend zu integrieren gewesen. Zudem bleibt Vilem Flusser, der interessanteste und bezüglich auf virtuelle Welten einflussreichste Theoretiker, ebenso wie andere Vertreter dieses "Wissenschaftszweiges" leider ausgespart. Ein weiterer zentraler Begriff, der hier kaum aufscheint oder nur en passant erwähnt wird, ist der der konstruktivistischen Aneignung von Welt. Gerade dieser Aspekt ist aber zentral für alle Betrachter/innen oder Leser/innen, weil er die aktive Kontrolle und intellektuelle Verarbeitung bei der Rezeption der jeweiligen Werke steuert, wobei erst in diesem Zusammenhang raumkonstituierende Momente virulent und für die Rezeption aktualisiert werden. Auch Stefan Hoppe beschreibt in einer Besprechung des erstgenannten Buches von Oliver Grau virtuelle Räumlichkeit als scheinbar den Betrachter räumlich in sich aufnehmende ("immersive") Realität. Ignorierte die Herausgeberin auch wichtige Literatur zum Thema der Tagung, so hätte sie doch dieser Rezension den Hinweis entnehmen können, dass Oliver Grau - und nicht nur dieser - eine Vielfalt theoretischer Ansätze verarbeitet, die auch fruchtbare Anstöße für die weitere Beschäftigung von Artefakten dieser Art zu geben vermögen. Dort wird ebenfalls darauf hingewiesen - und das scheint mir besonders wichtig -, dass nur selten zwischen räumlichen Konstitutionen in Räumen (Gärten, Landschaften ...) und in Bildern oder Texten unterschieden wird, mithin die Bindung an einen bestehenden Raum, wie von Vavra angenommen, nicht zwingend postuliert werden muss.

Hätte die Herausgeberin im einleitenden Text eine Definition vorgelegt und die Beiträge hinsichtlich des Tagungsthemas strukturiert, so hätten sich die Aufsätze besser dahingehend lesen lassen, ob sie nun einen Beitrag zur Frage virtueller Räumlichkeit oder der bloßen Imagination leisteten, die jedem literarischen Werk immanent ist. Interessant wird es hingegen, wenn neue (Teil-) Räume im Rahmen der Immersion oder der konstruktivistischen Weltaneignung geschaffen werden, die im Realraum kein unmittelbar evidentes Pendant haben oder ex novo konstituiert werden. Damit könnte besser zwischen Imagination und Virtuellem unterschieden werden. Diese Differenz zu begründen, wäre der Ort für eine entsprechende Beschäftigung mit den Werken bzw. der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen gewesen.

Man kann als Ergebnis dieser im zweiten Band und nach vier Jahren vorgelegten Teilstudie resümieren, dass Literatur Imagination hervorruft, was aber sicher kein wesentlicher Erkenntnisgewinn sein dürfte. Die Frage, die aber im wahrsten Sinn im Raum bleibt, ist jene, was virtuelle Räume charakterisiert und ob sie doch nur Erfindung der Postmoderne sind.

Gottfried Kerscher